Freikirche: Der Seelenfänger von Zürich

Nr. 44 –

Trendig tritt sie auf, mit Musik, Videos und grossen multimedialen Gottesdiensten. Die International Christian Fellowship hat ungemein Zulauf. Dabei sind ihre Inhalte erzkonservativ: Gott hat für alles eine Antwort parat. Das verleiht Halt in einer unsicheren Welt. Eine Reportage über die Freikirche und deren Anführer Leo Bigger.

Irgendwann verliert er die Beherrschung. Seit zwei Stunden lässt sich Leo Bigger befragen – über Gott und über die Welt. Im wörtlichen Sinn. Bigger ist Senior Pastor der International Christian Fellowship (ICF), der grössten Freikirche in der Schweiz. Er wählt seine Worte sorgfältig, wägt ab, relativiert. Er gibt sich offen, tolerant, ausgeglichen. Keineswegs der christliche Fundamentalist, als der er mir vorgängig beschrieben wurde, für den nur die Bibel zählt, der die Welt in Gut und Böse einteilt, in Christen und Nichtchristen, in Himmel und Hölle. Doch dann redet sich der Pastor plötzlich in Rage. In Frankreich sei es einfacher, eine Moschee zu bauen als eine Freikirche. Er verschränkt die Arme. Wartet. Er spreche aus Erfahrung, sagt er dann, und um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen: «Ich habe nichts gegen Moslems, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Frankreich ein muslimisches Land ist.» Der Satz kommt unerwartet. Bigger legt den Kopf nach hinten, streckt sein Kinn trotzig nach vorne. Ist das sein Ernst? Oder nur Provokation? «Und in der Schweiz?», frage ich. «Besteht diese Gefahr auch hier?» – «Ja, logisch. Dort, wo man die Moslems reinholt, ist das nur eine Frage der Zeit.»

Kein Grund für schlechte Laune

Die zwei Bars im Vorraum der Kirche stehen leer, der kleine CD- und Büchershop ist noch dunkel, die Kinderkrippe geschlossen. Leo Bigger, gebräuntes Gesicht, blonde Kurzhaarfrisur, trägt ein weisses Poloshirt, das er vorne über der Gürtelschnalle in die Hose gesteckt hat, leicht zerrissene Jeans und eine schwarze Jacke. In der Linken hält er einen Kaffeebecher, in der Rechten eine Bibel mit orangem Umschlag, die er sich unter den Arm klemmt, um uns zu begrüssen. Es ist ein Sonntagmorgen Ende September, 8 Uhr, und während draussen vor der Maag-Halle in Zürich halbvolle Bierbecher, rosafarbene Kotze und andere Überreste einer durchzechten Nacht auf die Putzequipe warten, kommt uns im Innern des Gebäudes ein frischer, strahlender Leo Bigger entgegen. Er wirkt wie ein freundlicher Kerl. Der Pastor stellt sich der Fotografin und mir mit Vornamen vor, wechselt ein paar belanglose Worte und betritt anschliessend die Kirche.

Wir folgen Bigger in die grosse Halle. Das alte Fabrikgebäude auf dem Maag-Areal dient der ICF-Gemeinde seit 2003 als Kirche. 3500 Quadratmeter, verteilt auf drei Stockwerke: Seminarräume, Arbeitsplätze, ein Café – und natürlich die sogenannte Celebration Hall, wo an diesem Tag vier Gottesdienste, eine Kindersegnung und eine Taufe stattfinden. 35 000 Franken Miete zahlt die Freikirche jeden Monat. Neunzig Prozent der Kosten deckt sie durch regelmässige freiwillige Spenden, den biblischen Zehnten, den ihr die Anhänger abliefern. Rund zehn Prozent erhält die ICF über Kollekten während des Gottesdienstes. Insgesamt macht das pro Jahr in der Schweiz 4,2 Millionen Franken Einnahmen. Zwei Drittel werden für Löhne und Mieten ausgegeben, der Rest fürs «Kirchenleben».

Bis zu 3000 Gläubige kommen jeden Sonntag hierher, um Pastor Leo predigen zu hören, mit ihm zu beten und Gott zu lobpreisen. Aber eineinhalb Stunden vor der ersten Celebration, wie der Gottesdienst in der ICF heisst, ist die Halle kalt und leer. Knapp zwei Dutzend Freiwillige und Angestellte sitzen auf anthrazitfarbenen Plastikstühlen und lauschen aufmerksam einer jungen Frau, die fröhlich den Tagesablauf erklärt: Celebrations, Theaterstück, Klaviersolo des zwölfjährigen Cédric, Kindersegnung – und am Abend die Taufe als Höhepunkt, für die in der Hallenmitte ein kleines Bassin aufgestellt wird. Sie gilt als eigentliche Initiation, sie ist das Bekenntnis zu Jesus: Die erwachsenen Frauen und Männer, die sich taufen lassen, schliessen mit ihrem alten Leben ab und versprechen, ihr Leben fortan mit Gott zu gehen.

Mittendrin sitzt auch Leo Bigger. Er sieht auf die Bühne, wo gerade ein letztes Mal ein kleines Theaterstück geprobt wird. «Ich bin eine Soldatin des Lichts!», ruft die Laienschauspielerin voller Inbrunst, als sie von einem maskierten Räuber überfallen wird. Bigger ist begeistert, applaudiert. Die Stimmung ist gut, fast schon unwirklich: keine Morgenmuffel, keine Müdigkeit, kein Misstrauen. Im Gegenteil: Freundlichkeit überall, Offenheit, Herzlichkeit. Es scheint, als wären die Anwesenden auf unseren Besuch vorbereitet. Darauf angesprochen, verweist Bigger nur auf die Bibel. Sie sei eben eine einzige grosse Liebesbotschaft. An diesem Morgen gibt es keinen Grund für schlechte Laune.

Moderne Verpackung, konservativer Inhalt

Bigger wuchs in Buchs im St. Galler Rheintal in einer katholischen Familie auf, besuchte wöchentlich die Kirche, war später Ministrant, pilgerte einmal im Jahr mit der Familie nach Einsiedeln. Er fand das «megageil» und «krass». So redet Bigger, der 42-jährige Kopf der ICF. Ein Erwachsener mit Jugendsprache. Auf den ersten Blick scheint das aufgesetzt, künstlich. Aber Bigger hat die Rolle des coolen, jung gebliebenen Priesters in den letzten fünfzehn Jahren so verinnerlicht, dass er sich tatsächlich immer so ausdrückt. Seit 1996 leitet er die Freikirche. Heute beschäftigt die ICF in der Schweiz fünfzig Angestellte, betreibt hier rund ein Dutzend Kirchen und hat Ableger in Deutschland, Tschechien, Österreich, Spanien, Holland und Albanien. Leo Bigger verkörpert die ICF wie kein anderer. So, wie er auftritt, ist auch die Kirche: modern in der Erscheinung, erzkonservativ im Inhalt.

Selbstverständlich war Bigger nicht immer so. Auch er hatte seine «Anfechtungen», wie er das nennt: Als Teenager sei er der Kirche eine Zeit lang ferngeblieben. Als er achtzehn war – er spielte damals in einer Hardrockband –, unterhielt er sich mit einem Bekannten über dessen Glauben, kurz darauf besuchte er mit ihm einen Gottesdienst einer Freikirche. Bigger sah die Kirche in einem neuen Licht. Die Kirche an sich, so seine Überzeugung, könne nicht falsch sein. Aber wenn die Leute ihr fernblieben, dann stimme eben die Verpackung nicht.

Er fuhr nach Götzis, gleich hinter der österreichischen Grenze, wo es einmal im Monat einen grossen Gottesdienst gab. «Die Kirche war rappelvoll. Man sang katholische Lieder, aber modern. Die Leute kamen nach vorne und beteten am Mikrofon. Da habe ich gedacht: So muss Kirche sein – voll mit jungen Leuten.»

Nach diesem Vorbild baute Bigger die ICF auf, die er 1996 von Heinz Strupler, dem ursprünglichen Gründer der Kirche, übernahm. Er gab der Kirche ein modernes Kleid, nur zwei Sachen waren für ihn unantastbar: Gott und die Bibel. Angelehnt an angelsächsische Evangelikale, ist die ICF heute eine eigentliche MTV-Kirche: multimedial, poppig, massentauglich. Ihre Botschaft verbreitet sie auf allen Kanälen: in der Kirche, über Facebook und Twitter und neuerdings auch im Fernsehen auf den Privatsendern StarTV und Das Vierte.

«Kein Christ ohne Mission»

Ohropax und ein breites Lächeln. Das war das Erste, was mir die Kirche entgegenstreckte, rund einen Monat bevor ich Leo Bigger persönlich kennenlernte. Die Musik war laut, das Licht warm, und auf den drei Grossleinwänden und vier Flachbildschirmen, die das Geschehen auf der Bühne übertrugen, tanzte etwa ein halbes Dutzend junger Erwachsener und pries den Herrn. Obwohl die Sonne Zürich einen der letzten warmen Tage bescherte, war die Kirche fast gefüllt. Knapp 2000 Menschen, die sangen, beteten und die Arme in den Himmel streckten – die Celebration erinnerte an ein Popkonzert. Hier fehlte das Sakrale, das Einschüchternde, der süssliche Geruch von Weihrauch, den man aus der katholischen Kirche kennt.

Einen Monat lang besuchte ich sonntags die Celebrations der ICF, sah mir alte Predigten von Leo Bigger und seiner Frau Susanna als Podcasts an und hörte christliche Lieder, sogenannte Worshipmusik. Die Botschaft war im Wesentlichen immer dieselbe: Gott liebt dich, Gott nimmt dich auf, wenn du so lebst, wie er es verlangt.

Was fasziniert Tausende, vorwiegend junge Erwachsene an dieser Kirche, ihrer Botschaft und ihrem Priester? Warum verstehen aufgeklärte Menschen Homosexualität oder ausserehelichen Sex als Sünde? Warum erklären sie psychische Krankheiten mit dämonischer Besessenheit? Oder warum lehnen sie es ab, Harry Potter zu lesen, weil es in diesen Büchern um Zauberei und dunkle Mächte geht?

Raphael ist seit acht Jahren in der ICF. Seit eineinhalb Jahren arbeitet er sonntags im sogenannten Chinderexpress, einer Art Sonntagsschule der ICF. Der heute Dreissigjährige hatte aus Langeweile begonnen, die Bibel zu lesen, als er während des Jusstudiums ein Auslandsemester in den USA absolvierte. Er bekundete Mühe damit, Freundschaften zu schliessen. Also betete er, dass Gott ihm einen Freund schenke. Als er kurz darauf tatsächlich jemanden kennenlernte und dieser ihn später zum Gottesdienst in eine Megachurch mitnahm, war dies für Raphael ein Beweis, dass Gott ihn erhört hatte. Solche Erlebnisse, sagt er, gäben ihm die Gewissheit, dass nichts zufällig sei, sondern alles nach Gottes Wille geschehe. Er wirkt entspannt, wenn er spricht, offen und ehrlich. Schon nach wenigen Minuten wird er persönlich und erzählt von den Schwierigkeiten in einer «Mischpartnerschaft mit Nichtgläubigen» und warum es richtig sei, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten («Das hat mich davor bewahrt, ungewollt Kinder zu kriegen»). Meine Skepsis, was die konservativen Botschaften der ICF angeht, überstrahlt er mit einem Lächeln. Er weiss Gott auf seiner Seite. Daran kann niemand rütteln.

ExpertInnen bezeichnen die ICF als evangelikale und charismatische Freikirche, nicht als Sekte. Freikirchen haben seit einigen Jahren weltweit starken Zulauf. Traditionellerweise wurde darunter eine vom Staat unabhängige Kirchgemeinde verstanden. Solche Freikirchen, die zum Teil auf eine lange Geschichte zurückblicken, sind in der Schweiz im Verband evangelischer Freikirchen organisiert, der nach eigenen Aussagen 150 000 «Mitglieder und Freunde» zählt. In letzter Zeit haben sich allerdings Freikirchen entwickelt, die sich vor allem von den traditionellen Volkskirchen absetzen. Zu den Merkmalen evangelikaler Freikirchen zählen die Auffassungen, dass die Bibel als unwiderlegbare Autorität gilt, dass man sich zum Glauben bekehren, gottgefällig leben und missionieren soll. Der Mensch ist sündig, das Band zu Gott deshalb zerschnitten. Entsprechend wird nur erlöst, wer «zum Glauben kommt»; ihm ist mit dem Tod Jesu vergeben worden. Die anderen, die Nichtchristen, gelten als verloren. Wichtig sind zudem das Erfahren des Heiligen Geistes, die Gemeinschaft, die emotionale Verbundenheit mit Gott. «Kirche neu erleben» heisst denn auch ein Slogan der ICF. Ein anderer: «Wir helfen Menschen, eine persönliche Beziehung mit Jesus Christus aufzubauen.»

Aber die wöchentlichen Gottesdienste machen nur einen kleinen Teil des christlichen Lebens aus. «Mit Gott zu gehen» bedeutet, immer im Sinne Gottes zu handeln, die zehn Gebote dienen als Anleitung dazu. In internen Unterlagen der ICF, wo die Anforderungen für Leiter der Kirche festgehalten sind, tönt das beispielsweise so: «Er hat einen guten Ruf. Er ist ehrlich, lügt nicht. Er hat kein Problem mit Alkohol. Er hat einen guten Umgang mit Geld. Er hat keinen ungläubigen Partner. Er soll nur mit einer Frau verheiratet sein. Wer den Sex ausserhalb der Ehe auslebt, kann diesen Punkt nicht erfüllen.» In einem anderen Papier heisst es: «Du kannst nicht Christ sein ohne Mission, ohne zu dienen.» Oder zum Thema Selbstverantwortung: «Ich verstehe mich als treuer Verwalter meines Geldes und gebe Gott, was ihm gehört, indem ich den Traum von ICF finanziell mittrage.»

Trotzdem stellt sich die ICF gerne als weltoffene Gemeinde dar, verwahrt sich gegen den Vorwurf, dass sie sich und ihre AnhängerInnen abgrenze und eine eigentliche Parallelgesellschaft bilde. Auch die Vorwürfe, dass sie ihren AnhängerInnen das Geld aus der Tasche ziehe, weist die Freikirche vehement von sich. Das sei ein Versuch, die ICF als Sekte zu verunglimpfen. Aber auch für die konservativen Inhalte wird die ICF immer wieder kritisiert. Das Schwarz-Weiss-Denken, die Spannungen mit Nichtchristen, die engen gesellschaftspolitischen Ansichten – das alles verträgt sich kaum mit einer offenen, komplexen und uneindeutigen Welt.

Das Gefühl, bei etwas Grossem dabei zu sein

«Ich hatte damals keinen grossen Freundeskreis», sagt Stefanie. «Mit der ICF änderte sich das auf einen Schlag. Das war für mich eine starke Motivation, in die Kirche zu gehen.» Stefanie ist eine Frau Mitte dreissig, die ich in einem Zürcher Café treffe. Mit scheuem Blick und sanfter Stimme erzählt sie von ihrer Zeit in der ICF-Gemeinde. Sie ist bereits vor über zehn Jahren ausgestiegen, also noch bevor die Freikirche ihren grossen Boom erlebte. Als sie sich Anfang der neunziger Jahre in der ICF engagierte, befand sich die Freikirche noch im Aufbau, und die Celebrations mit 80 bis 200 Gläubigen wurden in der St.-Anna-Kapelle in der Nähe der Zürcher Bahnhofstrasse abgehalten.

Wie die meisten, die den Veranstaltungen der ICF beiwohnten, hatte Stefanie bereits einen christlichen oder freikirchlichen Hintergrund. Sie kannte das Milieu und die entsprechenden Ideen durch ihre Mutter. «Mit den Inhalten war ich vertraut: ein dualistisches Weltbild, die Bibel als Grundlage, monokausale Auslegungen, strenge moralische Grundsätze ... Aber die ICF war nicht so verstaubt wie andere Kirchen.» Die Gymnasiastin war begeistert von der Multikulturalität der ICF (gepredigt wurde schon damals teilweise auf Englisch), von den «coolen Leuten», von der Musik. Bald wurde sie um Mithilfe gebeten, sie begann in den Gottesdiensten Keyboard zu spielen. «Da bekam ich das Gefühl, bei etwas Grossem dabei zu sein, Teil einer ‹Vision›, wie sie das nannten. Es gab eine Art Aufbruchstimmung, es war fast schon eine Jugendbewegung.»

Skepsis kannte sie kaum, im Gegenteil: Sie war christlich erzogen worden – an Gott oder an der Kirche zu zweifeln, hätte ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. In dieser Zeit bewegte sie sich fast ausschliesslich im Umfeld der ICF. Sie arbeitete als Helferin bei den Gottesdiensten, spielte in der hauseigenen Band, probte zwei- bis dreimal in der Woche – und dann waren da noch die Hauskreise. Schon damals waren diese Hauskreise ein wichtiger Bestandteil der ICF: Man traf sich mit Gleichgesinnten, ass gemeinsam, las aus der Bibel, betete oder sprach über alltägliche Fragen und Probleme. Die «Smallgroups», wie die ICF die Hauskreise heute nennt, dienten zur Vertiefung des Glaubens. «Es war wichtig, dass man Probleme ‹vor Gott bringt›, damit man ‹im Glauben wachsen› konnte», sagt Stefanie. Sie dreht ihr Gesicht weg, als sie das sagt, und lacht etwas verschämt. Es sei seltsam, wie das alles wieder hochkomme: «Diese Sprache, diese Ausdrücke ... Immer musste man alles ‹vor Gott bringen›.»

Gott hatte für alles eine Antwort parat. Das gab Stefanie Halt. Sie brauchte das – die Einfachheit, die Erklärungen. «Die ICF hat mir das geboten.» Zu dieser Zeit hatte Stefanie eine Beziehung mit einem Freund, der «nicht im Glauben war». Er war kritischer als sie, stellte Fragen. «Das half mir, meine Skepsis, die ich natürlich auch hatte, anzubringen.» Die Antworten im Hauskreis waren allerdings unbefriedigend. Nur zu beten und «vor Gott zu kommen», das half nicht. Als sie sich in einen anderen jungen Mann aus der ICF verliebte, geriet sie in einen Konflikt, sie suchte das Gespräch im Hauskreis. «Der Ratschlag war eigentlich vorhersehbar», sagt sie. «Es hiess, das Band zwischen Gläubigen sei stärker als das Band zwischen einer Gläubigen und einem Nichtgläubigen. Also sollte ich mich von meinem Freund trennen und mich für denjenigen aus der ICF entscheiden. Aber das war ja nur eine Schwärmerei, nichts Ernstes. Nur, als man mir den Rat gab, empfand ich ihn als logisch.» Erst als sie sich ihn durch den Kopf gehen liess, merkte sie, dass sie nichts mit dem Rat anfangen konnte. «Also entschied ich mich für ein Weder-noch.»

Nach abgeschlossener Matura zog Stefanie weg und begann in einer anderen Stadt ein Studium. Dort lebte sie zuerst in einer christlich geprägten Zehnerwohngemeinschaft, aber die Themen im Studium – Psychologie, Soziologie, pädagogische Psychologie – liefen auf eine Kollision mit ihrem bisherigen Weltbild hinaus. Sie distanzierte sich immer stärker, auch weil sie immer weniger Gläubige zu ihrem Freundeskreis zählte. Gegen Ende der neunziger Jahre hörte sie schliesslich ganz damit auf, die Gottesdienste der ICF in Zürich zu besuchen. «Es hiess immer, man gehöre dazu. Das ist Teil des Anscheins, den sie sich geben. Das sagen sie, solange sie auf einen angewiesen sind. Aber wenn sie einen nicht mehr brauchen, dann fragt auch niemand mehr nach dir. Es interessiert niemanden wirklich, wer du – ausser dem Christen – sonst noch bist, was du tust, wie es dir geht. Heute habe ich zu niemandem mehr Kontakt. Und er fehlt mir nicht.»

Bevor sich Stefanie verabschiedet, sagt sie, dass sie nicht mit richtigem Namen in der Zeitung stehen möchte und dass ich nicht über ihren Beruf oder ihren Zivilstand schreiben soll. «Warum nicht?», frage ich. «Befürchten Sie Einschüchterungen?» – «Nein, keineswegs. Die erinnern sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an mich.» Sie zögert. «Aber wissen Sie, ich schäme mich ein bisschen für meine damalige Leichtgläubigkeit.»

Versteckspieler, Fundamentalist, Provokateur

Leo Bigger trinkt einen Schluck Wasser und schimpft über die Journalisten. Nach zwei Celebrations, einer Führung durch die ICF-Räumlichkeiten und einem längeren Gespräch mit dem Pressesprecher sitze ich Bigger in einem kahlen Büroraum gegenüber. Er lese keine Zeitungen, sagt er. Was da alles verdreht und gelogen werde. Einzig Radio Energy hört er manchmal, er mag den Sender. Mainstream, poppig, einfach gestrickt. «So wie ich auch bin. Das finde ich cool.» Aber was sogenannt seriöse Zeitungen schrieben, sei ärgerlich. Fast zwanzig Minuten lang wettert er drauflos. Einige Tage vor unserem Treffen war ein Zeitungsartikel über Bigger erschienen, der ihm unterstellte, den jungen AnhängerInnen jährlich Millionen abzuknöpfen. Bigger wirkt getroffen, verletzt, ein wenig unberechenbar wie ein angeschossener Löwe. Er ist in Verteidigungshaltung, spricht über die jahrhundertelange Verfolgung der Kirchen, über Hetzkampagnen, mit denen versucht werde, die ICF in die Sektenecke zu drängen. Er hätte jetzt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen zu Mittag essen können, statt sich interviewen zu lassen. Es klingt wie eine Drohung: «Don’t fuck around with my time», sagt er, bevor ich endlich eine Frage stellen kann.

In der Folge sprechen wir über seinen katholischen Hintergrund, über seine Prinzipien, über die Botschaften, die er verbreitet. Dabei gibt sich Bigger äusserst tolerant und vorsichtig. Auch beim Thema Sexualität hält er sich zurück, relativiert. Er behauptet, dass es «tonnenweise» Schwule in der ICF gebe. «Die Kirche ist offen für jede Person.» Erst als ich frage, wie er es fände, wenn seine Söhne schwul wären, stockt er. «Dann hätte ich natürlich schon ein paar Fragen.»

Bigger ist ein Mann der Widersprüche, das wird in unserem fast dreistündigen Gespräch klar. Er predigt gegen den Schönheitswahn, gegen MTV, gegen den schnöden Mammon. Gleichzeitig könnte der trainierte Pastor, der sich einmal im Monat eine neue Frisur verpassen lässt, ebenso gut als hipper Moderator des Musiksenders durchgehen.

Bigger ist ein Versteckspieler. Im Gespräch weicht er aus und verliert sich in Anekdoten. Erst wenn er in die Ecke gedrängt und provoziert wird, sagt er beispielsweise: «Egal, ob jemand schwul ist, ausserehelichen Sex hat oder süchtig ist: Irgendwo ist in seiner Identität etwas verkrümmt. Das muss man geradebiegen.»

Bigger ist ein Fundamentalist – was sachliche Diskussionen fast verunmöglicht. Alles läuft auf die gleiche Antwort hinaus. Jede Kritik, jedes Zweifeln wehrt er ab. Denn am Ende einer Fragereihe steht immer das endgültige, unüberprüfbare und darum unangreifbare Argument: Gott.

Bigger ist ein Provokateur. Er behauptet, mit Macht nichts anfangen zu können, betont aber während des Gesprächs immer wieder, wie viel Einfluss er und seine Kirche hätten. Obwohl sich Bigger als unpolitisch bezeichnet, steht er der SVP nahe, mag Blocher, weil der «es mal sagt». Und vielleicht funktioniert Bigger sogar nach einem ähnlichen Prinzip: Er gibt einfache Antworten, wo es keine einfachen Antworten gibt. Das lockt die Leute an. In ungewissen Zeiten sowieso. So fängt er die verlorenen Seelen ein.

Aber irgendwann verliert Bigger während des Gesprächs die Beherrschung. Er holt aus zu einer Tirade gegen den Islam, versteigt sich zu Verschwörungstheorien, wonach es einen muslimischen Plan gebe, Europa zu erobern, indem «die Araber» mehr Kinder zeugten als die Europäer. Er glaubt, dass die Schweizer ihr Land aus den Händen gäben, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis wir in einem «Moslemstaat» lebten. Er empört sich, dass die Journalisten versuchten, die ICF mit missionarischem Eifer zu bekämpfen, dass seinem Sohn in der Schule beigebracht werde, dass der Mensch vom Affen abstamme, dass den Landeskirchen vom Staat «das Geld in den Arsch» geschoben werde.

Der Rundumschlag dauert eine halbe Stunde. Als er sich wieder beruhigt, sagt er, er provoziere halt gerne. Wenn er wie eine Rakete daherkomme, dann löse das bei den Menschen etwas aus. Er grinst. Verschränkt die Arme.

Und dann ist er wieder der freundliche Kerl, als den er sich so gerne gibt. Als wir uns verabschieden, steht er lächelnd in der Tür.