Eine Aussteigerin: Jung, begabt, christlich und zerrissen
Jessica Nussbaum wächst als Tochter fundamentalistischer ChristInnen auf. Doch irgendwann hält sie diese Welt nicht mehr aus. Die Geschichte eines inneren Konflikts und einer Rückkehr ins harte Licht der Realität.
Jessica Nussbaums Ausstieg beginnt mit einer Reise nach Israel. «Ich musste mich physisch mit meinem Glaubenssystem konfrontieren», sagt die 31-Jährige, «um etwas Psychisches zu klären.» Nussbaum, die in Wahrheit anders heisst, trägt ihre Haare grau gefärbt. Dazu, bei diesem Treffen in einem Zürcher Café, Turnschuhe und einen weiten Mantel. Oft schweift ihr Blick ins Leere, bis sie die richtigen Worte findet. Dann wieder lacht sie, unvermittelt und etwas zynisch. Etwa, wenn sie sich an das Tempelmodell in ihrer freikirchlichen Sonntagsschule erinnert: Israel, Königreich Gottes.
Die Reise ins Gelobte Land ist eine Konfrontation mit der Realität. Sie spricht mit Soldaten und Palästinenserinnen, Jüdinnen und Christen. Fährt nach Bethlehem, an die Klagemauer. «Mir wurde bewusst: Hier begegnet man sich nicht als Mensch, sondern immer unter dem Vorzeichen einer Ideologie. So ging es mir auch mit meiner Identität, mit meinen Freundschaften. Mir stand meine Ideologie im Weg.»
Jessica Nussbaum wächst in einem Vorort von Zürich auf. Zwei jüngere Geschwister, ein LehrerInnenhaushalt, die typische Mittelschichtfamilie. Einmal pro Woche erfüllt der Gesang einer Bibelgruppe das Haus. Das Mädchen schläft gerne zu den Klängen ein. Die NachbarInnen beschweren sich. Viele verbieten ihren Kindern, Jessica zu Hause zu besuchen. Sie lernt früh, dass es zwei Welten gibt. Während sich die anderen Kinder nach Weihnachten mit ihren Geschenken brüsten, hat sie ihre gespendet. Sie soll eine gute Christin werden, sich distanzieren von allen weltlichen Versuchungen. So, wie es sich die Mutter selbst abverlangt. Oft spricht diese von Afrika. Zeigt ihrer Tochter Bilder von hungernden Kindern. In der warmen Stube breitet sich das schlechte Gewissen der Mutter aus. Sie spricht davon, dass Gott sie wohl bald in den Busch schicken werde, zur Mission. Es ist der innere Konflikt einer Frau, die ihrem Mann aus Liebe ins Christentum gefolgt ist.
Wahnvorstellungen und Gottesvisionen
Jessica Nussbaums Eltern lernen sich an der Pädagogischen Hochschule kennen. Der Vater, in einem dezidiert atheistischen Elternhaus aufgewachsen, rebelliert mit einer Neugier auf alles Übersinnliche. Bereits als Teenager spielt er in einer Band, die für ihn später zum wilden Experimentierfeld wird. Nussbaums Vater ist fasziniert vom Okkulten. Schlagzeuger der Band ist Ivo Sasek, der heute als obskurer Sektenguru und Verschwörungstheoretiker unterwegs ist. Er predigt die Bibel, glaubt an Engel und Dämonen. In der Band geht der Geist der Späthippies um; man begibt sich auf rauschhaft-spirituelle Sinnsuche. Während zwei der Mitglieder dem Heroin verfallen, ist Jessica Nussbaums Vater plötzlich überzeugt, verfolgt zu werden: Jemand habe seine Reifen aufgestochen, erzählt er seiner Freundin. Nachts habe jemand an seinen Wohncontainer gepoltert. Dann, als Höhepunkt: ein Schuss auf die Windschutzscheibe seines Autos, während der Fahrt. Nussbaums Vater beginnt, die Bibel zu lesen – akribisch. In drei verschiedenen Farben streicht er sich alles an: Versprechen, Warnungen, Fakten.
Jessica Nussbaums Mutter zieht mit. Beide werden Mitglied der New-Life-Bewegung, eines Vorläufers der ICF (International Christian Fellowship). Nach der Auflösung der Organisation engagieren sie sich in der reformierten Kirche ihrer Gemeinde. Sie halten es für ihre missionarische Aufgabe, die Landeskirche von innen heraus zu radikalisieren. Regelmässig pilgern die Eltern mit ihren Kindern zu Veranstaltungen unterschiedlichster Freikirchen der Evangelischen Allianz. Hier ist alles anders, als es Jessica aus dem Sonntagsschulunterricht der reformierten Kirche kennt. Die Allianzmitglieder wollen eine politisch relevante Kirche aufbauen. Sie vertreten fundamentalistische Werte. Sind gegen Abtreibung, gegen Homosexualität, gegen Sex vor der Ehe.
Im regulären Sonntagsschulunterricht malt Jessica in ihrem Bibelmalbuch, während die Lehrerin Geschichten erzählt. Sie langweilt sich. Bei den Freikirchen ist alles irgendwie bedeutender, von grosser Dringlichkeit. Die Lehrer führen mit den Kindern Bekehrungsgespräche. Lehren sie, sich gegenseitig die Hände aufzulegen und mit Gott zu sprechen. Manchmal weint ein Kind, weil es Gottesvisionen hat. Jessica erlebt Gott als eine warme Decke, die sich über ihr ausbreitet. Als eine starke Schulter, an die sie sich anlehnt. Das ist real. Physisch greifbar. Nach diesen Ausflügen bleibt Konfusion. Da ist das Gefühl, bei etwas Wichtigem dabei zu sein. Einer religiösen Elite anzugehören. Einer Art Geheimbund, dessen Wahrheiten die säkularen Kinder nicht kennen. Da ist aber auch ein Unbehagen – das vielleicht schon damals intellektueller Natur ist und sich doch kaum formulieren lässt. Es richtet sich gegen das Unkontrollierbare, Rauschhafte. Gegen das unaufhörliche Bohren in der Psyche der Kinder. Das ständige Nachfragen, ob man Jesus auch tatsächlich in sein Herz gelassen habe.
Die KlassenkameradInnen kennen diesen Religionsdruck nicht. Sie mixen unbeschwert Zaubertränke, während die Lehrerin aus Otfried Preusslers «Kleiner Hexe» vorliest. Jessica hat den Auftrag, aufzustehen gegen alles, was ihr in der säkularen Welt an Dämonischem begegnet. Gegen Zaubertränke, gegen die Evolutionstheorie, gegen gleichgeschlechtliche Liebe, gegen Sex vor der Ehe.
«Volltrottel oder Prophet»
«Für mich war das ein riesiger Stress», sagt Nussbaum heute. «Ich wusste, dass ich mich vor der versammelten Klasse zum Affen machte. Doch die Erwachsenen hatten mir eingebläut, dass es meine Aufgabe sei zu missionieren.» Ein zweiter Cappuccino. Bedächtiges Rühren, dann die treffsichere Analyse: «Ich ging eigentlich gern zur Schule. Doch ich litt an einer narzisstischen Diskrepanz: Wenn du mit fettigen Haaren und ausgeleiertem T-Shirt gegen die Evolutionstheorie aufstehst, kannst du dich entscheiden, was du nun bist: Volltrottel oder Prophet. Beides willst du als Kind nicht sein.» Nach ihrem Ausstieg aus der Freikirchenszene machte Nussbaum eine Psychotherapie. Das half ihr zu verstehen, was es mit einem machen kann, wenn man in einer Welt ohne Grautöne aufwächst. Woher die Ängste kamen, die Depressionen.
Die Hauptgefahr der Freikirchen sei die Tendenz, dass man als Individuum nicht zähle, sagt Nussbaum. «Der erste Trick ist das Leben nach dem Tod. Dir wird beigebracht, dass das Hier und Jetzt nicht zählt. Dass die Belohnung im Jenseits umso grösser ist, wenn du im Diesseits leidest, weil du etwa als Christ ausgelacht wirst.» Der zweite Trick sei das Narrativ des sündigen Menschen. «Wenn ich Zweifel äusserte, wurde immer derselbe rote Knopf gedrückt: ‹Siehst du, jetzt spricht das Schlechte in dir.› In der Konsequenz heisst das, dass man seinem eigenen Urteil nicht trauen darf.»
Das gelte besonders für Freundschaften ausserhalb der Kirche: «Die Trennung zwischen dem Innen und dem Aussen ist enorm wichtig für das Verständnis von Freikirchen. Mir wurde beigebracht, dass nur Christen lieben können. Wenn ich also jemanden mochte, der nicht gläubig war, musste das eine Irreführung sein. Deine Intuition hat da keinen Platz.»
Jessica ist eine gute Schülerin. Sie wechselt ins Gymnasium. Findet rasch ein paar Freundinnen: Mädchen, die nicht in das geschlossene Weltbild ihrer Kindheit passen. Mädchen, mit denen sich Jessica wohlfühlt. Gott, der bislang klar und fassbar war, verliert an Kontur. Jessicas Weltbild gerät ins Wanken. Bis die Mutter für die Schulpflege kandidiert und damit eine Hetzkampagne auslöst. Die lokale SP greift die fundamentalistische Christin mit einer eigenen Kandidatin an. Die Familie gerät plötzlich ins Schlaglicht, wird im Dorf öffentlich verhandelt. Jessicas MitschülerInnen fangen an, sie zu meiden. Es beginnt eine einsame Zeit, die erst mit dem Konfirmationsunterricht ein Ende findet. Hier kann sich die junge Frau profilieren. Hier trifft sie auf junge Mitglieder der freikirchlichen Bewegung Plus. Sie beginnt, deren Hauskreise zu besuchen. Die Säkularen haben bewiesen, dass auf sie kein Verlass ist.
Bunt-aufgeblasenes Heilsversprechen
Und doch: Der innere Zwist wächst. Jessica Nussbaum verliebt sich in einen Atheisten. Sie macht erste sexuelle Erfahrungen, kann sie jedoch nicht geniessen. In den Sonntagsgottesdiensten beichtet Jessica wildfremden SitznachbarInnen ihre Vergehen. Irgendwann wird der Druck zu gross. Jessica trennt sich, die Mutter schlägt der Tochter vor, in der ICF nach einem christlichen Freund zu suchen. Grotesk leer scheinen Jessica die knalligen Celebrations, in denen Jesus zu einem bunt-aufgeblasenen Heilsversprechen verkommt. Jessica, die inzwischen an der Zürcher Hochschule der Künste (ZhdK) studiert, hat mehr gemeinsam mit ihren MitstudentInnen als mit den jungen ChristInnen, die der ICF glauben, endlich beides sein zu können: gläubig und cool. Wieder zwei unvereinbare Welten. Wieder kein Ausweg. Eine säkulare Freundin fragt: «Glaubst du eigentlich, dass ich in die Hölle komme?» Jessica weiss keine Antwort.
Im Internet sucht sie nach jungen Menschen, die sind wie sie: kreativ, gebildet, christlich. Sie findet ihren neuen Freund: Missionarskind, Musiker, Hippie. Drei enthaltsame Jahre sind die beiden ein Paar. Sie, die coole Zürcher Kunststudentin, er, der spirituelle Sänger. Der neue Freund und seine beiden Schwestern verkehren in der ICF Basel. Sie geht mit, ihm zuliebe. Die beiden werden zum ICF-Vorzeigepaar und Teil einer Clique, die von den Jüngeren bewundert und von der ICF gefördert wird. Die Kirche stellt einen Bandraum zur Verfügung. Abhängen. Die Jüngste der Gruppe ist dreizehn, Jessica, die Älteste, wird zum Vorbild, der Bandraum zum Freiraum.
Die Teenager lesen die Bibel gleichzeitig mit einer Biografie E. T. H. Hoffmanns, fühlen sich bohemienmässig schräg, musizieren, zeichnen Comics, drehen Filme, sprengen Grenzen. Immer öfter, immer wilder. Jemand bringt Lachgas mit. Dann Pilze, Salvia: Halluzinogene, die das Bewusstsein erweitern sollen. Eines der Mädchen hat wilde Jesusfantasien. Die Dinge geraten in Schieflage, arten aus. Jessica nimmt keine Drogen, sperrt sich gegen den Rausch, die krude Vermischung von Religion, Jugendrebellion, Spiritismus. Irgendwann distanziert sie sich endgültig.
Es bricht eine Dimension weg
«In unseren Köpfen herrschte ein riesiges Chaos», sagt Jessica Nussbaum heute. Irgendwann will sie nur noch eines: Nüchternheit. In Israel beschliesst sie, ein Jahr lang nicht über Religion nachzudenken. Sie zieht von zu Hause aus. Ein Jahr lang hat sie keinen Kontakt zu ihren Eltern. Sie orientiert sich an ihren weltlichen FreundInnen: «Es war erleichternd, mit Menschen zu reden, die nicht auf alles eine Antwort hatten.»
Das Loslassen der Religion bedeutet aber auch eine Sinnkrise. Es bricht eine Dimension weg. Das Leben wird komplizierter, widersprüchlicher. Jessica Nussbaums Eltern fürchten, dass ihre Tochter in der Hölle landen könnte. Und respektieren zugleich, dass es ihrer Tochter heute psychisch viel besser geht als früher. Die Tochter formuliert es so: «Religion taucht dein Leben in ein warmes, schummriges Licht. Das Licht der Realität ist eher das einer Neonröhre: heller, härter und manchmal schwer zu ertragen. Dafür klarer.»