Evangelikale Kindheit: Emanzipation von der Erlösung

Nr. 48 –

Wer in einer Freikirche aufwächst, glaubt vieles, was die meisten Menschen abstrus finden. Jene, die sich davon lösen, müssen sich in der Welt und auch in ihrem Körper völlig neu orientieren. Vier, die es geschafft haben, erzählen von diesem Prozess.

Kennen Sie den «Bibelabstand»? In der freikirchlichen Jugendgruppe habe ich ihn als Running Gag erlebt: Zwischen einem Mädchen und einem Buben müsse immer eine Bibel Platz haben. Ob es um eine Bibelbreite, -länge oder gar nicht um einen physischen Abstand geht, hat niemand erklärt – allemal übte die Keuschheitsdistanz disziplinierende Wirkung aus. Überholte Geschlechterbilder und sexuelle Komplexe konnte man in der konservativen Gegend, in der ich aufgewachsen bin, an vielen Orten erlernen und erwerben. Bei mir entstammen sie dem freikirchlichen Umfeld aus Jungschar, «Kleingruppen» und christlichen Festivals.

Das Kind soll am Samstagnachmittag in den Wald, etwas Sinnvolles tun, unter Gleichaltrigen sein, hiess es nach der Scheidung meiner Eltern. Knotenkunde stand vordergründig gleichgestellt mit Bibellektüre. Doch für die wenigen Prozent der Menschen in der Schweiz, die Freikirchen anhängen (Schätzungen kommen auf 200 000 bis 250 000 Personen), ist die Bibellektüre eben nicht etwas, dem man sich wie der Knotenkunde nebenbei widmet: 93 Prozent von ihnen sind gläubig, fast 85 Prozent beten täglich, knapp 68 Prozent besuchen einmal pro Woche ein Gotteshaus. Keine andere religiöse Strömung, christlich oder nicht christlich, kam in der Erhebung des Bundesamts für Statistik auf ähnlich hohe Werte.

Dass während der Tage im Wald ernsthaft darüber diskutiert wurde, ob Menschen und Dinosaurier gleichzeitig lebten, konnten sich meine Eltern nicht ausmalen. Die These war stark, weil das Buch Hiob ein Wesen namens Behemoth erwähnt, ein monsterhaftes Nilpferd, und den drachenähnlichen Leviathan. In der Freikirche wurde viel diskutiert; viele Positionen galten als vertretbar, solange man zu spüren glaubte, dass sie von Gott kämen. Es gab in der Dinosaurierfrage auch Gegenpositionen – etwa die, dass Gott die Fossilien selbst verscharrt hätte, um zu prüfen, ob die Menschen sie finden und wie sie darauf reagieren.


Es sind harmlose Splitter eines magischen Denkens, das mich auch über fünfzehn Jahre nach der Loslösung von Freikirchen und Christentum noch beschäftigt. Rückblickend empfinde ich das freikirchliche Weltbild als einen Nährboden des Irrationalen: das Sprechen in «Zungen», die Ekstase, die nahe Apokalypse – all das teilt fundamentalistisches Christentum mit okkulten Gruppen. In fast allen freikirchlichen Elternhäusern sind schon die Harry-Potter-Bücher verboten. Doch während das Lesen über Slytherins, die in Schlangensprache reden, verdammenswert ist, bewundert man diejenigen, die während des Gottesdiensts plötzlich in irrem Kauderwelsch brabbeln. Harry Potter ist teuflische Propaganda; in der Kirche kommt das Kauderwelsch vom Heiligen Geist. Was Freikirchler:innen von Esoteriker:innen unterscheidet, für sie das Entscheidende: ihr Gottvertrauen. Das Vertrauen, dass ein allmächtiger Vater-Gott alles regelt. Dass man mit dem ständig anwesenden Freund-Jesus sprechen und intuitiv auf den Heiligen Geist vertrauen kann. In Krisen vermisse ich bis heute die Sicherheit, die mir der Glaube als Jugendlicher gegeben hat.

Vor der Pandemie und den damit einhergehenden Verschwörungstheorien interessierten sich viele Linke vor allem für dieses Milieu, wenn es sich beim «Marsch fürs Läbe» exponierte. Für diesen Text habe ich mit ehemaligen Evangelikalen gesprochen, von denen hier vier zu Wort kommen. Sie alle positionieren sich heute links, engagieren sich als Kulturschaffende, Politikerinnen oder Aktivisten und sehen Freikirchen schon viel länger als Thema, mit dem sich die Gesellschaft auseinandersetzen sollte.

David Dubach alias Knackeboul

Der Rapper Knackeboul ist Atheist – ein Atheist allerdings, der «Vor zäh Jahr hani dummerwys no Gottvertroue gha» rappt. Auch vor zehn Jahren hat er schon gerappt. Und bereits damals engagierte sich David Dubach, wie er eigentlich heisst, gegen Armut, Ausbeutung und die Festung Europa. Darin, wie er die Welt sieht, hat sich seither trotzdem vieles geändert.

In seiner Kindheit unter «Hardcore-Fundis» war Dubach Zeuge von Dämonenaustreibungen und musste im Religionsunterricht blutige Videos von Abtreibungen anschauen. Als Jugendlicher hatte er areligiöse Freund:innen, war kritisch – und fantasierte in bekifften Runden parallel darüber, dass die satanische Zahl 666 in Barcodes auf Preisschildern lauern könnte. Als sie im Gymnasium Nietzsche lasen, sog er die Gedanken auf – und hatte dabei ein schlechtes Gewissen. Dieses schlechte Gewissen war immer da. Es wird den Gläubigen in den Predigten eingebläut, quasi als Prophylaxe: Christ:innen befänden sich auf einem schmalen und steinigen Weg, von dem man leicht abkomme. Die Rückkehr aber sei möglich. «Wenn du jetzt dein Herz Jesus geben willst, komm auf die Bühne!» Aufrufe wie diese gehören zum Standardrepertoire freikirchlicher Gottesdienste. Wer zweifelt, darf sich öffentlich hingeben – und fördert dabei das schlechte Gewissen all jener, die sich nicht auf die Bühne trauen.

Die Erwähnung solcher Szenen löst bei Dubach fast «Panikattacken» aus. Als er mit Anfang zwanzig eine Krise durchlebte, orientierte er sich wieder weniger an Nietzsche und Co., sondern liebäugelte ein letztes Mal mit dem, was er von klein auf kannte. «Wer in so was hineingeboren wird, kann es nicht von aussen betrachten», sagt er. Man könne nicht anders, als das Weltbild der Familie für normal zu halten. Neben Gesprächen und Lektüren waren Reisen für Dubachs Loslösung wichtig: In Indien beobachtete er einen kleinen Jungen, der sich in Begleitung seiner Eltern vor einem Tempelaltar zu Boden warf. Andere erleben in Indien spirituelle Erweckung – bei Dubach führte die Szene zum Gegenteil. Er entfernte sich vom Glauben.

Mittlerweile habe ihm die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem ersten Weltbild, das er kennengelernt hatte, einen «extremen Bullshitdetektor» verschafft. Einem solchen Glauben verfallen könne er nicht mehr, doch die Erfahrung bleibe in ihm drin. Knackeboul setzt sich damit auseinander: In seinem Rap und auf den sozialen Medien bezieht er klar Stellung gegen Verschwörungstheoretiker:innen, fundamentalistische Weltbilder und jede Idealisierung von Führerfiguren. «Ob Patriarchatsprediger wie Jordan Peterson gefeiert oder an Demos Bilder von Öcalan rumgetragen werden: Immer sind es männliche Führerfiguren mit zu viel Einfluss.» Und wann immer solche Dynamiken spielten, gebe es Opfer: Menschen, die nah dran sind, leiden – aber auch der Rest der Gesellschaft. Dubach sieht einen «akuten gesellschaftlichen Notstand» darin, dass Freikirchler:innen in Schulen, der Pflege und der Politik ungehindert wirken dürfen. «Wenn es politisch und gesellschaftlich einen grösseren Stellenwert hätte, Leute beim Ausbruch aus solchen Gefügen zu unterstützen, wären auch weniger Menschen für Verschwörungstheorien anfällig», ist der Rapper überzeugt. Christliche Musik habe er übrigens nie gemocht.

Merlind Hauser*

«Weil ich erwachsen war, durfte ich es behalten», erzählt Merlind Hauser über ihr erstes Radio. Es war ein Geburtstagsgeschenk zum Zwanzigsten. Hauser ist in einer Familie aufgewachsen, die wechselnden pietistischen Freikirchen angehörte, darunter dem «Evangelischen Brüderverein», der sich heute «Gemeinde für Christus» nennt. Dort gibt es strikte Verhaltens-, Frisur- und Kleiderregeln. Frauen haben lange Röcke zu tragen. Radiomusik ist verpönt, stattdessen sang man «Heils- und Siegeslieder». «Hier sind wir nur ein Fremdgeschlecht, im Himmel, da ist unser Bürgerrecht», in Fraktur gesetzt, liest Hauser aus dem Band, den sie zum Treffen mitgebracht hat.

Das Manko an Popkultur, das sie als Erwachsene aufholen musste, habe auch Vorteile. So sei sie etwa unvoreingenommen gegenüber volkstümlicher Schlagermusik, die sie in ihrem Job in der Altenpflege mithört. Doch für die Loslösung vom fundamentalistischen Christentum musste Hauser nicht bloss Zweifel zulassen und wissenschaftliche Zugänge zur Welt anerkennen. Im Pietismus gilt der Mensch als sündig ab Geburt. «Ein gottgefälliges Leben zu führen und alle Regeln dazu einzuhalten, schien ein beinahe unerreichbar hohes Ziel. Für Frauen ist es schwieriger, und als Lesbe fühlte ich mich um eine zusätzliche Dimension ‹falsch›.»

Ob Turnverein oder sogar andere Freikirchen, das Urteil der Eltern war immer: «Das macht die Welt!» Wahre Christ:innen sollten mit Weltlichem nichts zu tun haben. Wenn man sich als von der Welt abgegrenzt versteht, hinterlässt das Spuren. Allein das rationale Überwinden der evangelikalen Enge verhilft noch nicht zu Selbstrespekt und -akzeptanz. Den Bezug zur Welt bis hin zum eigenen Körper, sagt Hauser, habe sie sich erarbeiten müssen.

Atheistin ist Hauser nicht. Die Frage, ob es Gott gibt, lässt sie für sich offen. Doch die Grenze zwischen Kirchen und Staat müsste schärfer gezogen werden – und der Staat müsste mehr Verantwortung übernehmen: «Es gibt Kinder, die in christlichen Privatschulen von der Gesellschaft abgeschottet aufwachsen. Das ist nicht kindgerecht.» Jedes Kind sollte frei aufwachsen dürfen. Der öffentlichen Schule ist Hauser dankbar. Einer ihrer Lehrer bestärkte sie im Fragenstellen. Von ihren Eltern, die weiterhin gläubig sind, spürt sie Einsicht, dass das Ausmass ihrer Weltabwendung nicht gut für die Familie war.

Viele Evangelikale erwarten jederzeit das Eintreten der Endzeit. In der Entrückung würden dann nur jene, die wirklich glauben, in den Himmel aufsteigen. Die anderen müssten auf Erden den Katastrophen, den Kriegen und der Unterwerfung unter das Tier mit der Zahl 666, dem Antichristen, entgegenharren. Als Kleinkind kam Hauser einmal nach Hause, und es war niemand da. Weil Waschtag war, lagen die Kleider ihrer Familie herum. Aber damals fürchtete sie, die Seelen von Mutter, Vater und Geschwister seien ins Himmelreich entrückt – und sie müsse nun alleine die Apokalypse erwarten. Auch Knackeboul und viele andere, die anonym bleiben wollen, beschreiben immense Ängste in der Kindheit. Die Angst, Gott nicht zu gefallen, vermengt sich mit der Angst, von der eigenen Familie zurückgelassen zu werden.

Sarah Kälin*

So wie der wortwörtliche Glaube an Prophezeiungen kann auch der soziale Druck des evangelikalen Gefüges Spuren hinterlassen. «Ich hatte ständig Angst, etwas falsch zu machen und nicht wirklich dazuzugehören», sagt Sarah Kälin. «Vielleicht führte das dazu, dass ich mich eine Weile noch stärker von der Welt ausserhalb der Freikirchen abgrenzte.» Eine Zeit lang lebte sie sogar in einer christlichen Wohngemeinschaft mit anderen Frauen. Ein Lockmittel sei die flauschige Worshipmusik gewesen, sagt Kälin, die noch heute Musik macht. Als Dreizehn-, Vierzehnjährige fast jede Woche vor Publikum zu singen, das gefiel ihr. Aber ihre Familiensituation, die «nicht ganz einfach war», habe einen Einfluss auf ihre «leidige Freikirchenkarriere» gehabt.

Bei keiner Gemeinde, in keiner sogenannten Kleingruppe fühlte sie sich dauerhaft willkommen. Aus «Alle sind gut, so wie sie sind» werde schnell übergriffiges Kollektivverhalten, wenn man drin sei. «Im Hauskreis wird dein Privatleben ausgequetscht, und du wirst dazu gedrängt, dich zu rechtfertigen», erzählt sie. «Dabei bekam ich oft das Gefühl: Etwas läuft falsch in meinem Leben.»

Wenn sie mit einem nichtgläubigen Mann zusammen war, gab man ihr das Gefühl, Christin zweiter Klasse zu sein. «Die Normen, was eine Frau, was ein Mann ist und sein muss, waren stark definiert, in der Chrischona- ebenso wie in der Minoritätsgemeinde», erzählt Kälin. Sexismus habe alles durchdrungen. Manchmal subtil, manchmal als offener Übergriff: Einmal, an einem europaweiten Christ:innentreffen in Spanien, sei ein Fremder zu ihr gekommen und habe gesagt: «Gott hat mir gesagt, dass du eines Tages meine Frau wirst.»

Kälin arbeitet als Lehrerin und engagiert sich für sichere Fluchtrouten. Ihr «Freikirchenfilter» schlage auch bei manchen NGO-Projekten an. Denn wenn sich Menschen ehrenamtlich oder für wenig Geld für etwas engagierten, das grösser als sie sei, würden zuweilen die Gefühle mit ihnen durchgehen. «Manchmal spüre ich dann einen Wahrheitsanspruch oder auch Machtspiele, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben», sagt Kälin. In solchen Momenten spreche sie das auch an.

Keine:r meiner Gesprächspartner:innen sprach über den Bruch mit den Evangelikalen so durchweg positiv wie Kälin. «Plötzlich habe ich alles stärker empfunden. Wie nach dem Absetzen der Antibabypille.» Ein Aufwachen sei es gewesen, schmerzhaft zwar, aber immerhin habe sie den Schmerz gefühlt. «Ich spüre ihn seither, ich darf mich dem hingeben, exzessiv sein, hinfallen, Fehler machen, austicken.» So positiv Kälin über ihre Loslösung spricht, so wütend macht sie das Thema als Lehrerin. Kinder und Teenager seien verletzlich – und sollten das auch sein dürfen. Es brauche Aufklärung. Kinder sollten lernen, was eine «Sekte» ist und wie Freikirchen aufgebaut sind: «Das Thema gehört in die Schulen. Es ist kein Randphänomen, es ist nichts, worüber man lacht.»

Jacqueline Fuhrer

Jacqueline Fuhrer ist in der urbanen Freikirchenhochburg Winterthur aufgewachsen und überzeugt, dass Jesus heute Sozialist wäre. Bevor sie in die SP Winterthur eintrat, deren Kopräsidentin sie heute ist, hatte sich Fuhrer in der EVP engagiert. Sie kommt aus einer «Heilsarmeefamilie seit drei Generationen» und hat dort erlebt, wie stark das soziale Gewissen vieler Mitglieder ist: «Das ist mir vorgelebt worden, und das finde ich megagut.» Die Heilsarmee, die heute in die Arbeitsbereiche «Soziale Wohlfahrt» und «Mission» gegliedert ist, startete im 19. Jahrhundert in London mit Suppenküchen und Schlafstationen. «Die Heilsarmee tut das ohne Ansehen der Person», sagt Fuhrer. Dass man «die Sünde und nicht die Sünder:innen verurteilt», ist für sie der gemeinsame «Kern von Nächstenliebe und sozialistischen Werten». Doch das soziale Gewissen ändert nichts daran, dass die Sozialdemokratin heute überzeugt ist: «Die Mechanismen, die in evangelikalen Gemeinschaften wirken, müssen ans Licht.» Beobachter:innen von aussen spürten, dass etwas nicht stimme. Aber das Ausmass «toxischer Beziehungskreise, von emotionalem und psychischem Missbrauch», so Fuhrer, «können sie weder benennen noch erkennen». Vieles davon beruhe auf unausgesprochenen Regeln. Explizit gebe es keine Kleidungsregeln, implizit aber schon.

«In der Kirche geht es zu achtzig Prozent um Sex», sagt Fuhrer, «also um dessen Unterdrückung.» Die Mittzwanzigerin, die selbst schon für ein Jahr verheiratet war, weiss von Pärchen, die bis zur Hochzeit warteten, bevor sie sich überhaupt küssten. Deren Umfeld habe das befördert, obwohl solche Entscheide vordergründig freiwillig seien. «Da führen Menschen fünf Jahre lang romantische Beziehungen ohne Körperkontakt. Wie soll der Wechsel dann plötzlich gehen?» Diese Schwelle sei unüberwindbar, fast unnatürlich.

Bis sie das so klar sehen konnte, drehte Fuhrer viele Emanzipationsrunden. Das erste Mal, dass das Gepredigte nicht mehr mit ihrer Perspektive auf die Welt einherging, war, als sich ihr bester Freund als schwul outete. Ihr war klar: Dass so ein guter Mensch in die Hölle komme, könne kein Gott verantworten. Entweder könne es keinen Gott geben, oder die Menschen hätten ihn falsch verstanden. Eine Weile fühlte sie sich theologischen Positionen verbunden, die das Zweite vertraten: Die Bibel sei falsch interpretiert worden und Homosexualität keine Sünde. Zuletzt war sie bei einer christlichen Studierendenorganisation, die Wissenschaft, Bibeltext und Lebenswirklichkeit zusammenbringen wollte. Irgendwann sei der Glaube dann verpufft. Jetzt, wo sie sich davon befreit hat, ist Fuhrer dankbar: «Weil ich mal dermassen falschlag und vieles hinterfragen musste, bin ich heute gut darin, meine Meinung kritisch zu hinterfragen.»

Sie sei nun «sehr anti Kirche», wolle aber niemandem den persönlichen Glauben absprechen. Als Kind habe ihr der Glaube geholfen. Erst wenn man ins Alter komme, in dem magisches Denken mit Wissen in Konflikt gerate, werde es richtig ungesund. Nach und nach erst habe sie den eigenen Körper, der schwach und sündig gepredigt wurde, kennen- und mögen gelernt: «Das Christentum macht den eigenen Körper zum Feind. Sodass man ihm fremd werden kann.»

In feministischen Kollektiven spüre sie sie heute manchmal wieder: diese Blicke. Fuhrer findet es zwar toll, wenn sich Frauen als politisches Statement nicht rasieren – sie selbst mag sich aber mehr mit glatten Beinen. Es sei keine grosse Sache, niemand sage was, man halte sie «einfach für ein kleines bisschen weniger feministisch». Implizite Regeln, die aber niemand explizit macht: «Die Blicke sind dann ähnlich, wie wenn ich in der Freikirche mit einem grossen Ausschnitt rumliefe.» Fuhrer beschreibt weitere Situationen, die sie ungut ans Freikirchliche erinnern, etwa das Gemeinschaftsgefühl in der Fankurve des FC Winterthur oder wenn sich ein aktivistisches Grüppchen in Begeisterung über den eigenen Aktivismus hineinsteigert. «Aber versuch mal in linken Kreisen zu erklären, dass du die Gesprächsdynamik deshalb schwierig findest, weil es dich ungut an die Freikirche erinnert», sagt sie lachend.


Alle, mit denen ich gesprochen habe, schildern solche Momente aus ihrem heutigen Leben. Natürlich muss man keinem freikirchlichen Weltbild entronnen sein, um eine (selbst-)kritische Perspektive einzunehmen. Doch in der kompletten Erschütterung des Weltbilds liegt – wenn sie einen nicht zu Boden reisst – trotz allem eine Kraft. Die Emanzipation vom Evangelikalen hinterlasse eine Narbe, sagte eine andere Gesprächspartnerin. So wie sie diese Narbe definiert hat, klingt es ein bisschen wie bei Harry Potter: Es gibt Trigger, die schmerzen. Doch die Narbe hilft dabei, problematische Rhetorik oder Gruppendynamik zu durchschauen.

Viele wollten nicht oder nur anonymisiert zitiert werden; manche haben sich im letzten Moment umentschieden, teils aus familiären Gründen – teils aber auch, weil das Thema in ihrem heutigen Umfeld schambehaftet ist. Wer will in einem aufgeklärten Umfeld schon zugeben, dass sie oder er einem voraufgeklärten Weltbild angehangen hat? «Was – du!?» Das sollte anders sein. Denn nicht nur die Freikirchler:innen sind überall, in Politik, Schule und dem Gesundheitssystem. Auch die Exfreikirchler:innen sind überall: in der lokalen Antifa, in queeren und feministischen Bewegungen.

* Name geändert.