Britische Soldaten im Gemüsemarkt

Genau genommen ist es ein peinlicher Widerspruch, in den sich Militärs aller Welt immer wieder und im Kosovo-Krieg immer häufiger verwickeln. Einerseits sind sie schon von ihrem Berufsverständnis her äusserst ordentliche, weil disziplinierte Menschen, die noch das kleinste Detail planen, andererseits sind sie, auch das gemäss ihrem Berufsverständnis, im Stande, innerhalb kürzester Zeit ein gigantisches Chaos und gewaltige Verheerungen anzurichten. Dieses scheinbar Unvereinbare doch auf einen Nenner zu bringen, hat die bekannten Worthülsen vom «Präzisionskrieg» und den «intelligenten Bomben» hervorgebracht: grösstmögliches Elend, genau geplant und angeblich nach Mass.

Nur ganz selten manifestiert sich dieser militärinhärente Widerspruch auf unblutige Weise, zum Beispiel in der zweiten Bomben-Woche im griechischen Saloniki. Tony Blair hatte am Vortag noch ausgerufen, «The British soldiers are the best in the world!», da ging plötzlich alles vollkommen schief, obwohl der Krieg doch weit weg und alles hervorragend geplant war: ein britischer Militärkonvoi mit schwerem Kriegsgerät war trotz eines Streiks, mit dem die griechischen Hafenarbeiter gegen den Nato-Krieg demonstrierten, pünktlich entladen und in Marsch zur nahen mazedonischen Grenze gesetzt worden. Doch bereits kurz nach dem Zollgebäude fuhren die schweren Tieflader mit ihrer teuren Last statt zur Grenze schnurstracks ins Stadtzentrum, die Nato-Wegweiser waren über Nacht verdreht worden. Die schwitzenden Fahrer hatten alle Hände voll zu tun, sich durch den chaotischen, zu allem Unglück noch auf der «falschen» Strassenseite herumirrenden Stossverkehr zu kämpfen, gerieten aber unweigerlich immer tiefer in den Schlamassel, bis der Konvoi beim Gemüsemarkt definitiv zum Stillstand kam. Ein gewaltiges Chaos, Stunden brauchten die Fahrer, um im Rückwärtsgang ihr Kriegsgerät wieder aus dem Gemüsemarkt herauszumanövrieren.
Niemand übernahm bisher die Verantwortung für diesen Bubenstreich, doch vom Medienecho her zu schliessen, hatten die TäterInnen einen empfindlichen Nerv getroffen: die GriechInnen können die Nato nicht mehr riechen, 97 Prozent sind nach einer Umfrage zweier führender Meinungsforschungsinstitute gegen die Bomberei, zwanzig Prozent sind dafür, dass das Land sofort aus dem Bündnis austritt. Computerexperte Nikos will erst in das Korrespondentenbüro kommen, um den klemmenden Rechner wieder in Gang zu kriegen, nachdem er sich vergewissert hat, dass der Korrespondent kein «Nato-iker» ist. Eine Reihe von Anschlägen gegen Nato-Ziele konnten in der Öffentlichkeit mit stillschweigender Duldung rechnen. Und der serbische Bettler, der nun schon seit vielen Monaten in einer der Fussgängerpassagen erbärmliche Akkordeonklänge von sich gibt, kann mit grösstmöglicher Sympathie rechnen, nicht weil er auf einmal besser spielt, sondern weil er auf ein Schild geschrieben hat, dass er Serbe sei und vier Kinder habe.
Die GriechInnen waren nie besonders Nato-freundlich. Das hat historische Gründe. Der 1974 verlorene Zypern-Krieg wird den USA angelastet, und damit der Nato. Das stimmt so zwar nicht, denn es waren die griechischen Putschisten, welche das Debakel erst auslösten. Richtig ist aber, dass die Nato nichts zur Beilegung der Krise unternahm und die Teilung der Insel nach der türkischen Invasion sehr gut ins damalige politische Konzept Washingtons passte.
So sehr war die öffentliche Meinung damals gegen die Nato, dass der Konservative Konstantin Karamalis es nach der Wiederherstellung der Demokratie (1974) für angebracht hielt, wie seinerzeit General De Gaulle, das Land aus der Kommandostruktur des Bündnisses zu lösen. Einige Jahre später kehrten die griechischen Konservativen wieder kleinlaut dorthin zurück, was die Stimmung der Linken gegen die Nato und gegen die USA nur noch verstärkte: «EOK kai Nato, to idio syndikato», skandierten die DemonstratInnen bei jeder Gelegenheit, «Die EG und Nato, dasselbe Syndikat».
Übernommen wurden diese Slogans nicht nur von der Kommunistischen Partei Griechenlands, sondern auch vom Berkeley-Professor Andreas Papandreou, der einen «dritten Weg des Sozialismus» vorgeschlagen und damit die Wahlen im Oktober 1981 gewonnen hatte: Griechenlands geistige Heimat, so Papandreou, sei der Osten. Der Ost-West-Gegensatz ist im griechischen Selbstgefühl sehr viel stärker verankert als etwa in Westeuropa, wo dieser Konflikt vielfach auf den Kalten Krieg beschränkt wird. Ost-West, das ist immer auch das Schisma des Christentums, der Konflikt zwischen Ost- und West-Rom, zwischen der Orthodoxie und dem Katholizismus.
Dennoch: als das Morden in Bosnien nicht aufhören wollte, reagierte die griechische Öffentlichkeit nicht annähernd so heftig wie jetzt im Bombenkrieg gegen Jugoslawien. Weit mehr als 200 000 Tote damals, möglicherweise 5000 jetzt, das Ausmass des Schreckens alleine ist keine Erklärung für die Reaktion der griechischen Öffentlichkeit. Auch die vor allem von westeuropäischen Medien immer wieder hervorgehobene Bruderliebe zwischen den (orthodoxen) SerbInnen und den ebenfalls orthodoxen GriechInnen kann die abgrundtiefe Enttäuschung Europa gegenüber alleine nicht erklären. Dahinter stehe schlichte Angst, meinte die Tageszeitung «Kathimerini». Der stark wachsende Nationalismus in der Türkei, das Debakel der Öcalan-Festnahme, der von Washington und Ankara vereitelte Versuch, russische Flugabwehrraketen auf Zypern zu stationieren, das ständige Gerangel um die Grenzziehung in der Ägäis, das alles werde verstärkt durch die Nähe des neuen Krieges und habe die Angst und die Abneigung gegen den Westen fast ins Absurde gesteigert. Griechenland, so schliesst die Analyse von «Kathimerini», sei das politisch, wirtschaftlich und sozial stabilste Land des Balkans. Merkwürdigerweise sähen aber nur die wenigsten GriechInnen heute ein, dass diese Stabilität in erster Linie durch die Anbindung an Europa zustande gekommen sei.