Kurdistan/Kosovo: Die Geschichte zweier Protektorate: Schutzengel und Bösewichte

Vor zehn Jahren waren im Nordirak eine Million Menschen auf der Flucht. Aber rechtfertigt massenhaftes Elend «humanitäre Kriege»?

Anfang April 1991 entdeckten die westlichen Medien die KurdInnen. Die kurdische Kultur gehört zwar seit Jahrtausenden zur Geografie des Nahen Ostens, und im osmanischen Vielvölkerstaat war die geografische Bezeichnung Kurdistan durchaus gebräuchlich – doch in Europa bedurfte es zweiter Golfkriege, um die Existenz der KurdInnen wahrzunehmen. Erst als Ende März 1991 irakische Truppen die Stadt Kirkuk eroberten und im April über eine Million Menschen aus Angst vor der Rache des irakischen Diktators Saddam Hussein über die irakisch-türkische Grenze flohen, erst als das Grauen und Leiden der Flüchtlinge durch die Fernsehkameras vermittelt wurde, stellte sich die kurdische Frage auch im Westen. Der damalige US-Präsident George Bush befahl die Operation «Provide Comfort» und liess im Norden des Irak eine militärisch abgesicherte Schutzzone einrichten. «Humanitäre Intervention» nannte man das Ganze.
Wie den KurdInnen erging es später den Kosovo-AlbanerInnen. Auch sie wurden vor 1999 von einer breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es bedurfte des Nato-Krieges gegen Serbien, des Grauens und der Leiden in den Flüchtlingslagern, damit sich die Kosovo-Frage stellte. Dem «humanitären Krieg» folgte wie in Kurdistan ein Protektorat. Von der politischen Entdeckung der KurdInnen und der Kosovo-AlbanerInnen nicht zu trennen ist die vorgängige Konstruktion der jeweiligen Bösewichte Saddam Hussein und Slobodan Milosevic.
Über beide Ereignisse hat Werner van Gent für zahlreiche Schweizer Medien berichtet (unter anderem für Radio und Fernsehen DRS und im Fall des Kosovo auch für die WoZ) – und in seinem Buch «Der Geruch des Grauens»** verschränkt er Reportagen und Analysen aus Kurdistan und dem Kosovo. Der Tod in den Flüchtlingslagern ist unterschiedslos. Die Menschen an der irakisch-türkischen Grenze krepieren genauso wie die Menschen an der jugoslawisch-mazedonischen Grenze. Die zufällig gezogenen, aber doch realen Grenzen der Nationalstaaten entscheiden über Leben und Tod. Van Gent begnügt sich aber nicht mit der Darstellung des Elends, er analysiert auch die historischen Abläufe und vorgängigen Entwicklungen, die in beiden Fällen (Kurdistan wie Kosovo) einen Schatten auf die Initiatoren der «humanitären Intervention» werfen.
Van Gent steht auf Seiten der Bevölkerung, die «dazwischendrängt und den Kriegsschauplatz unsicher macht», wie es Bertolt Brecht in den «Flüchtlingsgesprächen» formulierte. Seine Beschreibung der westlichen Reaktionsmuster trifft zu. «Wegschauen, ein panikartiger und darum halbherziger Einsatz politischer Mittel und dann der Bombenkrieg. Das ist das Muster der ‘Neuen Weltordnung’.» Gelöst wird kein Konflikt. Die Situation im kurdischen Nordirak ist heute katastrophal. Wenn «dreizehn nordirakische KurdInnen Ende 1999 in der geschlossenen Garage einer griechischen Adria-Fähre ersticken, nachdem an Bord ein Brand ausgebrochen ist, dann ist das genauso wenig eine weltbewegende Nachricht, wie wenn elf KurdInnen von einem skrupellosen Menschenschmuggler am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros/Meric schnurstracks in ein Minenfeld geschickt werden.» Und die Massenflucht hält an, wie die hohe Zahl kurdischer Schiffbrüchiger dokumentiert. Die Übergriffe auf die serbische Zivilbevölkerung nach dem Nato-Krieg und die Kämpfe im kosovarisch-mazedonischen Grenzgebiet führen vor Augen, dass auch im Kosovo der Konflikt durch den Krieg nicht gelöst wurde.
Doch was tun, wenn Millionen vor dem Tod flüchten? Ist dann – ungeachtet aller Fehler und Verbrechen der Vergangenheit – eine «militärische humanitäre Intervention», ein «humanitärer Krieg» nicht unausweichlich? Ratlosigkeit ergreift nicht nur uns LeserInnen, sondern auch van Gent, der ein entschiedener Gegner des Nato-Einsatzes im Kosovo ist. Er schreibt, dass «die Welt in der neuen Ordnung einen Mechanismus der Friedenssicherung braucht, der an den Grenzen der Nationalstaaten nicht Halt macht», und formuliert im Konjunktiv: «Hätte die Golfallianz sich nicht sofort nach dem Krieg aus dem Irak zurückgezogen, dann hätte Saddam Hussein sich nicht getraut, nochmals gegen Schiiten und Kurden loszugehen. Hätte man im Kosovo auf eine einsatzfähige Truppe zurückgreifen können und hätte man im Konflikt nicht gleich Partei ergriffen, dann wäre die Friedenssicherung durch die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, d. Red.) wohl ganz anders gelaufen. Es wäre dann darum gegangen, die serbischen Truppen und die UCK (Befreiungsarmee des Kosovo) politisch zu neutralisieren.»
Werner van Gent formuliert auch die gewagte These, wonach die Rolle der kurdischen Arbeiterpartei PKK mit jener der UCK in Jugoslawien verglichen werden kann. Der Westen hat schliesslich die Türkei im Krieg gegen die KurdInnen unterstützt. «Wäre man ähnlich entschlossen wie gegen die PKK auch gegen die UCK vorgegangen», fragt van Gent, «hätte dann nicht auch der Kosovo-Konflikt eine ganz andere Wende nehmen können? Hätte dann nicht der Übeltäter Milosevic noch am Verhandlungstisch dazu gebracht werden können einzulenken?»
Die Stärke des Buches liegt in der Beschreibung der Genese der Konflikte. Die Frage, ob das derzeitige politische Weltsystem mit seinen Nationalstaaten und der Führungsrolle der USA überhaupt einen «Mechanismus der Friedenssicherung» zulässt oder ob die Regionalkonflikte mit ethnischen und religiösen «Säuberungen» nicht integraler Teil unserer Welt sind, stellt van Gent nicht. Doch er wirft in seinem Buch zahlreiche Fragen auf, die geeignet sind, die herrschende Ideologie zu erschüttern. Das erschwert die Aufteilung der Welt in gute und böse Akteure und zwingt zum Nachdenken. Und das ist gut so.

* Mit seinen Berichten über die Massenflucht vor zehn Jahren begann Ömer Erzeren seine Korrespondententätigkeit für die WoZ (siehe WoZ Nr. 15/91). Von ihm erschien der Band «Der lange Abschied von Atatürk» im ID-Verlag, Berlin, herausgegeben von der WoZ.
** Werner van Gent: «Der Geruch des Grauens. Die humanitären Kriege in Kurdistan und im Kosovo». Rotpunktverlag. Zürich 2000.