Einwanderungsdebatte: Die drohende Rückkehr des Saisonnierstatuts

Nr. 51 –

Im Abstimmungskampf zur SVP-«Masseneinwanderungsinitiative» preisen Economiesuisse und Gewerkschaften den wirtschaftlichen Erfolg der Bilateralen. Das lenkt die Diskussion in eine falsche Richtung.

Es war Wahlkampf, die Schweiz zugepflastert mit SVP-Plakaten «gegen Masseneinwanderung», als an einem frühen Mittwochmorgen im September 2011 bei der WOZ ein Mail von Jacqueline Badran eintraf. «Rückzug Artikel zur PFZ», stand im Betreff. Die damalige Nationalratskandidatin hatte einen Text für die WOZ verfasst, in dem sie die Personenfreizügigkeit von links her kritisierte. Doch kurz vor Drucklegung zog sie ihn zurück. Sie könne «die Komplexität der Sache nicht gebührend rüberbringen» und fürchtete, dass sie die folgende «Mediendynamik» nicht steuern könne.

Badran sollte recht behalten. Tags darauf schrieb der «Tages-Anzeiger», dem sie zum gleichen Thema ein Interview in Aussicht gestellt und wieder abgesagt hatte: «Angst vor der SVP? SP-Politikerinnen wollen Migrationsdebatte hinauszögern.»

Sozialdemokratischer Provokateur

Nun entscheidet die Schweiz am 9. Februar 2014 über die «Initiative gegen Masseneinwanderung» der SVP. Die Rede ist von Bevölkerungswachstum, überfüllten Zügen, explodierenden Mieten – dafür verantwortlich wird die Zuwanderung gemacht. Gewerkschaften und Economiesuisse versteifen sich darauf, die wirtschaftlichen Vorteile der Personenfreizügigkeit zu preisen. Die Diskussionen über die fremdenfeindliche Initiative drohen in seltsame Bahnen zu geraten.

Jacqueline Badran hatte vor zwei Jahren auf eine qualifizierte Debatte über die Personenfreizügigkeit gezielt. Stattdessen endete alles in einem grossen Wirrwarr. Die Zürcherin, mittlerweile Nationalrätin der SP, gilt als Querkopf in der Partei und wird bei Fragen zur Personenfreizügigkeit gerne ins Beiboot der SVP gezerrt.

In den letzten Tagen hat ein anderer Sozialdemokrat dankbar die Rolle des Agent Provocateur übernommen: Rudolf Strahm, Ex-SP-Nationalrat, Ex-Preisüberwacher, Volkswirt und enger Vertrauter von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. In seiner Kolumne im «Tages-Anzeiger» geisselte er kürzlich die Personenfreizügigkeit und liess offen, ob er der SVP-Initiative am Ende vielleicht zustimmt, um als «Bürger das dringend nötige Druckmittel auf die Regierung» einzusetzen. Die Abstimmung als Denkzettel – vorgegaukelte Bürgernähe ausgerechnet von einem, der im Vorzimmer des Bundesrats sitzt.

Aber Strahm ist ein gewiefter Politprofi, der zu lange im Geschäft ist, als dass man ihm seine akute Ratlosigkeit abnehmen könnte. In Migrationsfragen bewegt er sich seit je im rechten Flügel der Sozialdemokratie. 2001 gehörte er zu denjenigen, die sich zum «Gurtenmanifest» bekannten. Unter den AutorInnen war damals auch die heutige Justizministerin Sommaruga. Im «Gurtenmanifest» wurde die Begrenzung der Zuwanderung zum Ziel sozialdemokratischer Politik erklärt: Hoch qualifizierte AusländerInnen rein, Unqualifizierte raus. Bis heute bleibt Strahms Position von diesem ökonomistischen Weltbild geprägt. Derzeit will er sich nicht weiter zu Personenfreizügigkeit und SVP-Initiative äussern. Aber die Absicht hinter seinem Flirt mit der SVP ist deutlich: Strahm will den Druck zugunsten eines gesetzlichen Mindestlohns erhöhen. Ein hoher Anteil Ja-Stimmen am 9. Februar würde gemäss dieser Logik (freilich ohne Annahme der Initiative) als Zeichen der Stimmbevölkerung für einen besseren Schutz der Beschäftigten gewertet.

Tatsächlich ist die Taktik aber ein Spiel mit dem Feuer. Gute Migration, schlechte Migration? Wer so argumentiert, schrammt gefährlich nah am strukturellen Rassismus vorbei.

Wintersession 2013: Im Nationalratssaal hat der bürgerliche Block gerade mit Zweidrittelmehrheit die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften verworfen. Jacqueline Badran steht draussen auf dem Bundeshausbalkon und bläst Rauch in die Sonne: «Ich wollte vor zwei Jahren die Ursachen der Probleme mit der Personenfreizügigkeit ansprechen. Denn die SVP argumentiert scheinheilig: Sie gibt vor, die Einwanderung verhindern zu wollen, dabei ist die rechte Steuerpolitik ihr grösster Treiber.» Headquarterhopping nennt es Badran. Mit Steuerdumping lockten die Rechtsbürgerlichen Hunderte Firmen in die Schweiz und wunderten sich, wenn die Menschen nachreisten. 55 bis 60 Prozent der europäischen Headquarters hätten ihren Sitz mittlerweile in der Schweiz, sagt Badran, darüber müsse man reden. Zudem werde mit tiefen Unternehmenssteuern massenweise Steuersubstrat vernichtet: «Wir müssen die Steuern in Europa harmonisieren statt Kontingente für Ausländer einführen. Ich kritisiere die Personenfreizügigkeit, weil sie aus Menschen Humankapitaleinheiten macht. Immerhin gewährt sie aber den Familiennachzug. Eine Kontingentierung tut das hingegen nicht. Das kann ich nicht befürworten.»

Ein Ja wäre der Dammbruch

Wird die Initiative gegen «Masseneinwanderung» angenommen, bedeutet das die Rückkehr zum Saisonnierstatut. Der Bund würde jährliche Höchstzahlen und Kontingente für AusländerInnen festlegen, dauerhafter Aufenthalt und Familiennachzug würden eingeschränkt. Es wäre eine Zeitreise zurück in die Barackenschweiz der sechziger Jahre: Italienische, portugiesische, spanische ArbeiterInnen wären vom Goodwill des Patrons abhängig, würden erpressbar, ihre Rechte wären schlecht geschützt. Letztlich geht es Christoph Blocher auch darum: die sozialen Errungenschaften der letzten dreissig Jahre zu bekämpfen, den Schutz von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu zerschlagen, die flankierenden Massnahmen aufzuheben. Hinzu kämen die aussenpolitischen Fragen: Kündigt die EU die Bilateralen? Muss der Bundesrat die Verträge auflösen?

Aber am 9. Februar entscheidet sich vor allem auch eine innenpolitische Frage: Gelingt der Ultrarechten im x-ten Anlauf seit James Schwarzenbachs «Überfremdungsinitiative» der Sieg? Heute gebe es keine Koalition der Sozialpartner mehr, sagt Gewerkschafter und SP-Nationalrat Corrado Pardini. «Die Positionen der Rechten sind heute in der Mitte salonfähig. Diese Entwicklung kulminiert bei der SVP-Initiative.» Ein Ja, sagt Pardini, käme einem Dammbruch gleich. «Die Fremdenfeindlichkeit würde institutionalisiert.»

Gleich doppelt fremdenfeindlich

Kürzlich fragte die «Handelszeitung» auf dem Titelblatt: «Rentieren Ausländer?» Daran zeigt sich, wie fehlgeleitet über Migration diskutiert wird. Balthasar Glättli, Fraktionschef der Grünen, sagt: «Wollen wir wirklich eine rein ökonomische Diskussion führen? Der Ausländer als Produktionsfaktor, das ist doch menschenverachtend. Es geht bei dieser Abstimmung um Grundsätzliches. Wir nehmen die Arbeiter, die wir brauchen. Aber ihre Familien sperren wir aus? Da landen wir sofort bei Max Frischs Zitat: ‹Wir riefen Arbeiter, es kamen Menschen.›»

In den letzten vierzig Jahren Ausländerpolitik habe die Schweiz fast nichts richtig gemacht – ausser bei der Personenfreizügigkeit: «Sie hat wenigstens die EU-Bürger bessergestellt, sie dürfen nicht mehr diskriminiert werden. Zwei Drittel der Ausländer sind EU-Bürger. Deshalb ist die SVP-Initiative gleich doppelt fremdenfeindlich: Sie richtet sich nicht nur gegen die neuen Zuwanderer, sondern mindestens ebenso sehr gegen die, die schon hier sind.»