Schweiz–EU: Eine kopernikanische Wende
Die Gewerkschaften belegen mit einer historischen Studie die Vorzüge der Personenfreizügigkeit: für die AusländerInnen, die SchweizerInnen und die Wirtschaft insgesamt.
Die Personenfreizügigkeit steht unter Druck. Aussenminister Ignazio Cassis verkündete, bei den flankierenden Massnahmen nach «kreativen Lösungen» zu suchen. Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner richtete ihm via NZZ aus, dass die Gewerkschaften gegen jede Schwächung des Lohnschutzes das Referendum ergreifen würden. Nach Redaktionsschluss informierte der Bundesrat über das weitere Vorgehen. Wie auch immer er sich entschieden hat: Die Personenfreizügigkeit wird noch länger zu reden geben. Die SVP greift sie mit ihrer sogenannten Kündigungsinitiative grundsätzlich an.
In diesem heiklen politischen Moment schafft eine historische Studie Orientierung. Sie beschreibt, wie in der Schweiz die Kontingentierung der Einwanderung abgeschafft wurde. Sie belegt ausserdem, welche Vorteile der freie Personenverkehr mit den flankierenden Massnahmen gebracht hat. Verfasst hat die Broschüre Vasco Pedrina, der erste Kopräsident der Unia. Pedrina hat als Akteur die gewerkschaftlichen Positionen in der Migrationspolitik entscheidend geprägt. Dennoch gelingt es ihm als Autor, Distanz zum Geschehen zu bewahren. Die Gewerkschaften waren beileibe nicht immer für die Personenfreizügigkeit, und Pedrina verschweigt das keineswegs.
Diskriminierung und Spaltung
So beklagte sich Gewerkschaftssekretär Willi Ritschard, der später gefeierte «Büezer im Bundesrat», Anfang der sechziger Jahre: «Jetzt haben wir bald eine halbe Million Ausländer, das ist genug!» Der damalige Präsident des Gewerkschaftsbunds, Hermann Leuenberger, meinte, die «Überfremdungsgefahr» sei unbestritten. «Überfremdung» war der Angstbegriff, über den sich die Migrationspolitik im Ersten Weltkrieg gewandelt hatte: Weg vom freien Personenverkehr – hin zur restriktiven Kontrolle der Einwanderung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Schweiz besonders vom Wirtschaftswachstum profitieren, dank intakter Infrastruktur und einem Reservoir von billigen Arbeitskräften aus Südeuropa. Die Migrationspolitik wurde auf eine «rotierende Zuwanderung» ausgerichtet. Der Bund teilte den Unternehmen und Kantonen jährlich ein Kontingent von ausländischen Beschäftigten zu. In Krisen sollten sie schnell wieder zurückgeschickt werden, was im konjunkturellen Einbruch Mitte der siebziger Jahre auch geschah: Mehr als 200 000 AusländerInnen wurden entlassen.
Mit der Kontingentierung verbunden war das Saisonnierstatut. Ausländische ArbeiterInnen durften nur neun Monate pro Jahr bleiben, ein Stellen- und Ortswechsel war ihnen untersagt, ebenso der Familiennachzug. Die entwürdigenden sanitarischen Grenzkontrollen und die beengenden Wohnverhältnisse in den Baracken zeigen die Fotos in der Broschüre.
Auch die Schweizer Gewerkschaften folgten dem Denkmuster, Migration sei ein vorübergehendes Phänomen. Im Burgfrieden der Sozialpartnerschaft brav und angepasst, betrachteten sie die ausländischen KollegInnen als KonkurrentInnen. Die Abstimmung über die «Überfremdungsinitiative» des Rechtspopulisten James Schwarzenbach spaltete die Beschäftigten. «Erfahrungen erlebter Solidarität wurden in der Schweizer Arbeiterbewegung immer seltener», schreibt Pedrina.
Erste Forderungen nach der Abschaffung des Saisonnierstatuts wurden von der 68er-Bewegung geäussert, ebenso von MigrantInnenorganisationen wie der Federazione delle Colonie Libere Italiane. Als sich die Kräfteverhältnisse in den Gewerkschaften zugunsten der Linken und der MigrantInnen änderten, kam es zur «kopernikanischen Wende», wie Paul Rechsteiner zitiert wird.
Die Gewerkschaften, von der bürgerlichen Presse und Linksliberalen gerne als «ewiggestrig» tituliert, wurden zur Kraft des gesellschaftlichen Wandels. 1990 fand auf dem Bundesplatz eine Demonstration für die Abschaffung des Saisonnierstatuts und die Gleichberechtigung aller Beschäftigten statt. Damit das Saisonnierstatut fiel, brauchte es aber auch Druck von aussen. Im Zuge der Verhandlungen um den EWR nutzten die Gewerkschaften ihre Kontakte zu den südeuropäischen Regierungen. Die Personenfreizügigkeit wurde zum Thema. Nach dem knappen Nein zum EWR 1992 dauerte es mehr als ein Jahrzehnt, bis sie nach der Annahme der bilateralen Verträge 2002 eingeführt wurde. Seither kann sich aus der EU in der Schweiz niederlassen, wer eine Arbeitsstelle nachweisen kann. Die Bewegungsfreiheit gilt umgekehrt ebenso.
Dass das Saisonnierstatut fiel, war auch einer ökonomischen Einsicht geschuldet. Wie aus der Statistik hervorgeht, bremste die Kontingentierung die Einwanderung nicht. «Die Schwankungen der Migrations- und Konjunkturzyklen zeigen, dass fast immer die wirtschaftliche Entwicklung und das Bedürfnis der Unternehmen nach Arbeitskräften massgebend für die Zuwanderung waren», schreibt Pedrina.
Wichtig zu verstehen ist der Zusammenhang zwischen dem rechtlichen Status der AusländerInnen und dem allgemeinen Lohnniveau. Die Kontingentierung mit ihren diskriminierenden Regelungen schwächte die Position der MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt. Lohn- und Sozialdumping sowie Schwarzarbeit waren die Folge. Noch Mitte der neunziger Jahre erhielt ein Saisonnier im Schnitt dreizehn Prozent weniger Lohn bei gleicher Qualifikation als ein Schweizer. Dies drückte auf das Lohnniveau aller Beschäftigten.
Entsprechend waren bei der Einführung der Personenfreizügigkeit Massnahmen zum Lohnschutz vordringlich. Sie reichen heute von der 8-Tage-Anmeldefrist für ausländische Firmen bis zur Möglichkeit, Gesamtarbeitsverträge für eine Branche verbindlich zu erklären. Die Verbesserungen wurden meist im Vorfeld von Abstimmungen erkämpft. Dabei zeigt sich, dass sich die BürgerInnen gegen eine aussenpolitische Öffnung aussprachen, wenn sie sozialpolitisch nicht abgefedert war, so bei der EWR-Abstimmung und 2014 bei der «Masseneinwanderungsinitiative».
Fixsterne am Horizont
Die Personenfreizügigkeit sorgte auch dafür, dass sich die Schweizer Wirtschaft entwickelte, weil heute besser qualifizierte Personen einwandern. Dieser Braindrain liesse sich durchaus kritisieren, Pedrina gewichtet aber die Bewegungsfreiheit der einzelnen Beschäftigten höher.
Die Massnahmen zum Lohnschutz sind heute nicht nur innenpolitisch, sondern auch vonseiten der EU unter Druck (siehe WOZ Nr. 25/2018 ). Dagegen helfen soll weiterhin eine internationalistisch ausgerichtete Politik. Die Schweizer Gewerkschaften setzen sich auf EU-Ebene für das Prinzip «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» sowie einen europäischen Mindestlohn ein. Pedrinas Fazit: «Die zwei Fixsterne unseres Engagements heissen Gleichberechtigung und sozialer Schutz.» Das soll nicht nur mit Blick auf Europa gelten. Die Gewerkschaften fordern auch die Regularisierung der Sans-Papiers von ausserhalb, der Saisonniers des 21. Jahrhunderts.
Vasco Pedrina: «Von der Kontingentierungspolitik zur Personenfreizügigkeit». 118 Seiten, 2018. Erhältlich beim Unia-Zentralsekretariat, www.unia.ch.