Abschottungsinitiative: Kommt bald die Nicht-Durchsetzungsinitiative?

Nr. 26 –

Warum stellt sich SVP-Präsident Toni Brunner in der «Arena» plötzlich auf die Seite von Economiesuisse und wendet sich gegen eine zu wortgetreue Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative»? Und warum sind Teile der Linken plötzlich dafür?

Es ist nicht die Sommerhitze, die irremacht, das besorgt die nationale Politik. Die Politprofis in Bern sind sich, wuselnd in der Wandelhalle unter medialem Dauerfeuer, wohl gar nicht mehr bewusst, welches Theater sie vollführen: Da standen vier VertreterInnen von links bis rechts am «Arena»-Tisch und waren sich einig, sogar in der Sprache. «Konsequente Umsetzung», sagten Jacqueline Fehr (SP), Philipp Müller (FDP), Toni Brunner (SVP) und Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer und nickten gemeinsam im Takt wie Wackeldackel. Interessantes Theaterdetail am Rande: Für eine «konsequente Umsetzung» plädierten in erster Linie die Verlierer der Abstimmung, Fehr und Müller. Ausgerechnet SVP-Präsident Toni Brunner, sekundiert von Karrer, wollte nun lieber die viel beschworenen Bedürfnisse der Wirtschaft gewahrt wissen. Der Volkswille als reines Propagandainstrument: Vor der Abstimmung noch war es die SVP gewesen, die posaunt hatte, die Ängste der Bevölkerung vor «Überfremdung» gelte es eben genau über jene Bedürfnisse zu stellen. Die Partei drohte gar mit einer Durchsetzungsinitiative. Lanciert sie nun stattdessen bald eine Initiative, die verlangt, die «Masseneinwanderungsinitiative» nicht zu wortgetreu umzusetzen?

«Koste es, was es wolle»

Wenn die Sache irre ist, ist es womöglich keine gute Idee, Christophe Darbellay anzurufen, CVP-König und als solcher oberste politische Windfahne in Bundesbern. Andererseits: In den letzten Jahren war die CVP gut gefahren mit dem Fünfer und dem Weggli, hatte einerseits auf Europa und Personenfreizügigkeit gesetzt und andererseits die lauten fremdenfeindlichen Töne hauptsächlich der SVP überlassen. Plötzlich droht der Crash mit Europa. Und Darbellay ist wütend. Er zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft: «Die Parteien hatten sich bei den letzten Von-Wattenwyl-Gesprächen darauf geeinigt, dass wir die bittere Pille schlucken und die Initiative nun wortgetreu umsetzen. Wir haben gesagt: Wenn das Volk die Beziehungen zur EU wirklich aufs Spiel setzen will, dann müssen wir diesen Auftrag annehmen. Und was ist passiert? Kaum haben wir den Kurs eingeschlagen, hat sich die SVP verabschiedet. Sie verleugnet ihre eigene Initiative, weil sie kalte Füsse bekommen hat wegen der drohenden Probleme. Wie etwa wollen die Bauern mit der kommenden Kontingentierung leben? Aber wissen Sie was? Das Volk hat entschieden. Die Kontingentierung wird kommen. Koste es, was es wolle.»

Umsetzen, koste es, was es wolle – Jacqueline Fehr war für eine Entschlüsselung ihres «Arena»-Auftritts nicht erreichbar. Dafür Jacqueline Badran, die – nach dem ersten Klingeln am Apparat – zwar vor allem geraucht und geflucht, aber zuerst einmal ziemlich wenig entschlüsselt hat. Als Erstes feuerte die SP-Nationalrätin eine Salve gegen die Personenfreizügigkeit ab: «Es gibt in diesem Land immer mehr Gesetzgebungen mit Privilegien für die Reichen.» Dann: «Was ist bei der Personenfreizügigkeit geblieben von der linken Forderung der Regularisierung? Von freien Menschen in einer freien Welt? Die Personenfreizügigkeit ist in erster Linie ein neoliberales Konstrukt, kein linkes. Sie hat eine Nivellierung nach unten geschaffen, nicht nach oben.»

Durchatmen. Dann noch eine Tirade gegen das massive Lobbying von Investmentfirmen im Parlament. Dann endlich die Antwort auf die Frage: Initiative konsequent umsetzen – ja oder nein? «Angesichts der Umstände ist der Vorschlag des Bundesrats nicht mal so schlecht. Die Verfassung gilt: Es wird kein Saisonnierstatut geben, keine Kappung des Familiennachzugs. Das ist unsere rote Linie. Gleichzeitig können Sie davon ausgehen, dass der Vorschlag von der SVP im Parlament noch massiv zerfleddert wird, indem der Familiennachzug gestoppt werden soll.»

Cédric Wermuth sagt, er werde sich garantiert an dieser Zerfledderung beteiligen und auf eine «konsequente Umsetzung» pfeifen: «Es kann nicht Aufgabe der Linken sein, Hand zu bieten für einen Vorschlag des Bundesrats, der Ausländer diskriminiert. Mir ist es völlig egal, ob ich dabei in der Minderheit bin. Diese Vorlage ist ein Fehler.» Aus strategischer Sicht habe er Verständnis für das Vorgehen des Bundesrats: «Er muss zwar davon ausgehen, dass sein Vorschlag in Brüssel scheitert. Aber hat er eine Wahl? Er hat ein politisches Mandat. Und wenn er jetzt nicht wortgetreu handelt, setzt er sich dem Vorwurf aus, den Volkswillen missachtet zu haben.»

Dass der Bundesrat in Brüssel gegen eine Wand laufen wird, davon ist Gewerkschafts-Chefökonom Daniel Lampart überzeugt. «Der Vorschlag geht in die falsche Richtung. Ich habe das Ja zur Initiative so interpretiert, dass viele Menschen in diesem Land in Sorge sind. Deshalb brauchen wir Lösungen statt neue Probleme. Der Bundesratsvorschlag steht im Widerspruch zu den Bilateralen. Ohne diese gibt es Druck auf Arbeitsplätze und Löhne. Den Verfassungsartikel zur Initiative kann man auf verschiedene Arten lesen. Man könnte die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte per Mindestanstellungsbedingungen steuern. Die vom Bundesrat vorgeschlagene Diskriminierung von Ausländern durch den Inländervorrang, die Unterscheidung von Schweizern und Nichtschweizern, das wird die EU niemals akzeptieren. Niemals.»

Und was dann?

Keine Ahnung. Sagen nicht nur Badran, Lampart, Wermuth. Sagt eigentlich jeder, den man fragt. Die Situation sei konfus. Durchsetzungsinitiative der SVP? Streichungsinitiative, wie sie der VPOD dem Gewerkschaftsbund vorschlagen will? Erneut abstimmen? Viele Fragen, keine Antworten. Immerhin, so der fatalistische Konsens, habe der Vorschlag des Bundesrats etwas Gutes: Dann müsse die Bevölkerung sich irgendwann klipp und klar ohne juristische Schlaumeiereien und Sonderregelungen an der Urne entscheiden, ob man mit der EU zusammenarbeiten wolle oder nicht. Fertig Sonderfall. Einzig der Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand hat die Gabe, in die Zukunft zu sehen: «Ich verrate Ihnen, was passieren wird: gar nichts. Die EU wird alles schlucken. Machen Sie sich mal keine Sorgen.» Im Übrigen finde er persönlich den Vorschlag des Bundesrats ganz in Ordnung.

Wenn die SVP mit ihrer fremdenfeindlichen Linie alle verwirrt, auch sich selbst, konsultiert man am besten den Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli. Er ist ein Intellektueller – eine rare Spezies im Bundeshaus.

«Toni Brunners Reaktion und auch jene von Economiesuisse zeigen, dass der Titel der ‹Masseneinwanderungsinitiative› eine Täuschung war», sagt Glättli. «Es ging der SVP offensichtlich nicht darum, die Menge der Zuwanderung zu verringern, sondern auf ein Regime hinzuarbeiten von rechtlich möglichst schlecht gestellten ausländischen Arbeitskräften.»

Er sei davon überzeugt, dass die SVP damit gerechnet habe, die Abstimmung knapp zu verlieren, um das Ausländerthema weiter polemisch bewirtschaften zu können. «Deshalb passt Brunner auch der Vorschlag des Bundesrats nicht, auch wenn er sich an den Wortlaut der SVP hält: Er sieht kein verfassungswidriges Saisonnierstatut vor, und das war genau das, worauf die SVP irgendwann hinauswollte.» Mit dem Schulterschluss mit Economiesuisse gebe die SVP das eigentliche Ziel der Initiative auf: «Economiesuisse will viel mehr Ausländer, als der SVP lieb sein kann. Wo sie sich treffen, ist im Interesse, schwächere und günstigere Arbeitskräfte zu haben.»

Während aus den Reihen der SP Verständnis oder gar Unterstützung für den Vorschlag des Bundesrats zu hören ist, kritisiert Glättli diesen scharf: «Es ist ein grosser Fehler des Bundesrats, auf das Scheitern der Bilateralen in einer Abstimmung hinzuarbeiten. Die Regierung handelt nicht nur mutlos, sie agiert vor allem verantwortungslos.» Es gebe genügend Alternativen, die Zuwanderung zu verringern, «und zwar ohne Ausländer zu diskriminieren». Man müsse die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern, steuerrechtliche Begünstigungen für reiche AusländerInnen aufheben und die Standortförderung für Firmen herunterfahren. «Es kann ja nicht sein, dass wir um die Schweiz eine Mauer für Menschen bauen und dahinter mit besten Bedingungen für das Kapital winken.»