Frauenmonologe: Wer die Geschichte schreibt

Nr. 48 –

Wer ist da die Schlampe? In zwei Monologen auf Berner Bühnen suchen zwei Frauen die Freiheit. Mit ganz unterschiedlichen Strategien.

«Man sollte vielleicht einmal ernsthaft darüber nachdenken, wer die Geschichte schreibt!» Es ist Helena, die diese Forderung stellt, und die Geschichte, das ist in ihrem Fall die «Ilias». Darin wird sie von Homer nicht nur als «schönste aller Frauen» gepriesen, sondern sie verkörpert auch die «schlampige» Ehebrecherin, die mit ihrem Geliebten durchbrennt. Im kollektiven Gedächtnis ist Helena deshalb primär als Auslöserin des Trojanischen Kriegs gespeichert.

Im Stadttheater Bern reisst sie jetzt die Geschichte an sich. Im Stück «Helena – Plädoyer für eine Schlampe» des spanischen Dramatikers Miguel del Arco setzt die gealterte Helena (Heidi Maria Glössner) unter der Regie von Patricia Berchtold zu einem Monolog an – und zieht in der Rückschau das Urteil, das die «Ilias» über sie fällt, gründlich in Zweifel: Der Ehebruch mit dem Prinzen Paris habe ihrem Gatten Menelaos nur als Vorwand gedient, um in den Krieg gegen Troja zu ziehen. Sie räumt auf mit der Glorifizierung der männlichen Heldengeschichte und verschiebt den Fokus auf die damit einhergehende Gewalt und Ausbeutung. Nach ihrem Plädoyer soll das Publikum über ihre Schuld entscheiden.

Noch immer notwendig

Sie verkommt dadurch beileibe nicht zu einer eindimensionalen Heldin: Stets die Hand an der Flasche, bleibt Helena in ihrer nervös-perfekten Selbstinszenierung und ihrer mit Sarkasmus getränkten Erinnerung zwiespältig und zutiefst menschlich. Souverän trägt Heidi Maria Glössner dieses Monodrama vor schlichten Spiegelwänden. Ihr ist es zu verdanken, dass manche wie Geschichtsunterricht anmutende Längen des Textes oder sein unverhohlener Hang zu Pathos der Figur nicht den Boden entziehen.

Die Forderung nach einer anderen Perspektive, nach einem kritischen Umgang mit männlicher Geschichtsschreibung ist ja nicht neu. «Helena», 2011 uraufgeführt, folgt hier einer Tradition von «angewandter Frauenforschung», für die etwa Christine Brückner mit «Wenn du geredet hättest, Desdemona» oder zahlreiche Texte von Elfriede Jelinek wegbereitend waren. Und dieses Projekt ist längst nicht abgeschlossen: Nach wie vor erfreut sich das Narrativ des männlichen Helden und seiner kriegerischen Taten erstaunlicher Beliebtheit.

Dabei zeigen gerade die Lücken an entscheidenden Stellen von Helenas Plädoyer, wie notwendig dieses Projekt auch heute noch ist. So lässt Miguel del Arco seine Protagonistin im Moment der Liebe in patriarchale Denk- und Sprachmuster zurückfallen. Die eigenen Worte für das Begehren fehlen ihr, der Autor kleidet ihre Liebe zu Paris stattdessen in die Worte der Objektivierung und des Besitztums – sie will ihm gehören, ist sein Schatten, will verschlungen werden. Hier scheitert das Theater an seinem emanzipatorischen Anspruch, eine Sprache zu finden, die die Machtverhältnisse weder romantisiert noch zementiert.

«Gesegnete sexuelle Unterwerfung»

Gar nicht verlegen um Worte des Begehrens und des Sex ist dagegen die Frau, die im Berner Schlachthaustheater zum Monolog ansetzt. «Die Hingabe» von und mit Isabelle Stoffel beruht auf den Memoiren der australischen Balletttänzerin Toni Bentley, die darin ihre besessene Suche nach sexuellen Erlebnissen schildert, die sie minutiös archiviert. Solche Bekenntnisliteratur von Frauen, die Sex als Mittel zur persönlichen Befreiung feiern, ist nun ebenfalls kein Novum in der (Bühnen-)Literatur – einiges davon durchaus von höherer Qualität als «Fifty Shades of Grey».

Wie die Helena bei Heidi Maria Glössner spricht auch Isabelle Stoffel in «Die Hingabe» in Worten der Unterwerfung. Ja, sie deutet diese sogar als Befreiungsakt, der sie von ihrer «jämmerlichen emotionalen Unterwerfung» zu ihrer «gesegneten sexuellen Unterwerfung» führt. Isabelle Stoffel spielt das furchtlos, mit überraschendem Humor und in einer Unverblümtheit, die nie vulgär wirkt. Wenn sie aber Rosenkränze sammelt und mit weissem Korsett bekleidet zu (heterosexuellem) Analsex stöhnt, besetzt sie gleichwohl die tradierten Gemeinplätze der Weiblichkeit: ein bisschen «Heilige», ein bisschen «Hure», viel Unterwerfung und nur dann und wann ein vielschichtiger, um umfassende Freiheit ringender Mensch. In der hingebungsvollen «Fickoptimierung» geht ganz vergessen, dass Machtstrukturen zuallerletzt vor unseren Körpern haltmachen, und der stets perfekte Sex wird als etwas rein Privates dargestellt.

Gerade diese Naivität der Figur verleitet dazu, an der Tragfähigkeit ihrer emanzipatorischen Idee zu zweifeln. Es sind berechtigte Zweifel – und doch sollten sie nicht dazu dienen, dieser Figur aufgrund von moralischen Wertvorstellungen ihre Worte und die Autorschaft ihrer Geschichte abzusprechen. Denn diese Autorschaft ist der Erzählerin, die mit Kassettenbändern, Tagebucheinträgen und Fotos ihr Erleben dokumentiert, von grösster Bedeutung. Selbstironisch bezeichnet sie ihre Erkenntnisse als zwar nicht besonders originell, doch sie betont: «Ich bin selbst draufgekommen.»

Vielleicht liegt ihre Freiheit gar nicht so sehr darin, Analsex zum Paradies zu verklären, sondern darin, die Deutungsmacht über die eigene Geschichte zu behalten – genau so, wie es im Stück von Miguel del Arco auch die als «Schlampe» stigmatisierte Helena versucht.

«Die Hingabe» im Schlachthaus Bern: 28./29. November 2014, jeweils 20.30 Uhr. «Helena – Plädoyer für eine Schlampe» im Stadttheater/Konzert Theater Bern: 13./20. Dezember 2014, 8./21. Januar 2015, jeweils 19.30 Uhr.