Zweiter Weltkrieg: All die Unbill lässt sich nur erahnen

Nr. 7 –

Sibylle Elam hat anhand von Briefen die Geschichte ihrer verfolgten und später verschonten Eltern recherchiert und aufgeschrieben. Ein berührendes Buch gegen das Vergessen.

Eine Familiengeschichte aus dem 20. Jahrhundert: Alex Klumaks Mutter Reisel, Alex Klumak mit Klaus, Alex’ Schwester Anni und Schwager Camillo, Trude mit Baby Sibylle. Foto: Privatarchiv

1936 kommt die zwanzigjährige Trude Waldo aus Nazideutschland nach Zürich, um sich beim angesehenen Professor Alfredo Cairati in Gesang und Klavier ausbilden zu lassen: In Stuttgart, wo sie seit drei Jahren an der Musikhochschule studiert hat, gibt es keinen Platz mehr für eine Jüdin.

Die Grosseltern Ike und Fanny Morgenroth-Frank, bei denen Trude aufgewachsen ist, schaffen es nicht, Deutschland rechtzeitig zu verlassen. Im Mai 1941 werden sie aus ihrem Haus in Heilbronn vertrieben und müssen in ein «Judenhaus» umziehen, knapp ein Jahr darauf folgt eine weitere Zwangsumsiedelung nach Haigerloch bei Stuttgart, fünf Monate später die Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen. Die sehr geschwächte Fanny stirbt dort gut zwei Wochen nach der Ankunft, Ike wird Ende September ins polnische Vernichtungslager Treblinka deportiert, wo er vermutlich umgehend ins Gas geschickt wurde.

Wichtige Puzzlesteine

2005 findet Trudes Tochter Sibylle Elam im Nachlass ihrer Eltern mehrere Bündel Briefe, darunter solche, die ihre Urgrosseltern zwischen 1937 und 1942 ihrer Enkelin Trude nach Zürich gesandt haben, sowie Liebesbriefe von Trude und ihrem künftigen Mann, Alex Klumak.

Obwohl in ihrer Kindheit über vieles aus der Familiengeschichte gesprochen wurde, gibt es auch Lücken. Vor allem vom Schicksal der Verwandten mütterlicherseits weiss Sibylle Elam sehr wenig. Die Briefe sind wichtige Puzzleteile zum Verständnis ihrer Herkunft. Elam entschliesst sich, das, was sie weiss, und das, was sie rekonstruieren kann, für ihre Kinder aufzuschreiben. Es folgen jahrelange Recherchen, deren Resultat die frühere WOZ-Redaktorin jetzt als Buch veröffentlicht hat.

Die Briefe der Grosseltern sind berührende Dokumente der Sorge um die Enkelin in der Fremde. Gleichzeitig versuchen sie, ihr eigenes Schicksal so darzustellen, dass sich die Empfängerin möglichst wenig Sorgen macht. Widerfahrene Unbill ist meist nur zwischen den Zeilen zu lesen: Sie üben sich in Selbstzensur. Sie hoffen, ein Visum für die USA zu erhalten, doch spätestens nach den Novemberpogromen 1938 dürfte sich diese Hoffnung zerschlagen haben. Wie viel sie vom Holocaust wahrhaben konnten oder wollten, bleibt ungewiss; noch vier Tage vor der Deportation in das von den Nazis als «Vorzeige-KZ» geführte Lager Theresienstadt schreibt der Grossvater: «Es soll dort sehr gut sein.»

Trude muss sich in ihren Antwortbriefen sehr viel bedeckter gehalten haben; immer wieder beklagen sich ihre Grosseltern, dass sie nichts über ihr Vorwärtskommen und ihr Befinden erführen. Sie freuen sich, als sie 1941 lesen, dass Trude in Zürich Alex Klumak kennengelernt und sich mit ihm verlobt hat. Allerdings hat ihnen Trude verschwiegen, dass sie aus einer flüchtigen Beziehung, die sie zuvor eingegangen war, einen unehelichen Sohn hat, Sibylle Elams Halbbruder Klaus.

Alex Klumak, 1909 in Budapest geboren und in Wien aufgewachsen, betritt als Flüchtling im August 1938 nach Umwegen über verschiedene Länder in Chiasso Schweizer Boden. Die jüdische Gemeinde in Lugano gibt ihm Geld für ein Billet nach Zürich. In der Schweiz trifft er auch wieder seine Mutter, zwei Schwestern und einen Schwager, die auf anderem Weg ins Land gekommen sind. Edy, ein Bruder, der nach Belgien geflohen ist, drängt, sie sollten ihm nach Brüssel folgen; dass sie es nicht tun, rettet ihnen das Leben. Edys weitere Stationen waren das Arbeitslager Gurs in Südwestfrankreich, die KZs Auschwitz, Gross-Rosen und Buchenwald, wo er kurz vor Kriegsende ums Leben kam.

Die Trauer schwingt mit

In der Schweiz versuchen Trude und Alex, unter schwierigen Umständen über die Runden zu kommen. Alex durchläuft verschiedene Arbeitslager, in denen während der Kriegsjahre arbeitsfähige Flüchtlinge interniert und zur Land- und Waldarbeit und für den Militärstrassenbau eingesetzt werden. Im August 1943 heiraten Trude und Alex, nachdem sie mithilfe der jüdischen Flüchtlingshilfe die nötige Kaution aufbringen können; sie nehmen Klaus, der seine ersten Jahre in einem Kinderheim verbracht hat, zu sich. 1947 kommt die Tochter Sibylle zur Welt. Alex baut eine bescheidene Textilfabrikation auf, spezialisiert auf Kleidungsstücke aus Tricotstoff. Trude, die gelegentlich als Sängerin auftritt, führt in unmittelbarer Nähe der Bahnhofstrasse eine Boutique. 1960 wird die Familie eingebürgert. Die Schilderung dieses Lebensabschnitts ist belegt durch Schreiben der Vormundschaftsbehörden und anderer Ämter; dabei halten sich Bürokratie und unkomplizierte Hilfsbereitschaft meist die Waage.

Sibylle Elam hat sich nicht mit der Publikation der Briefe begnügt. Sie hat sich in die Lebensumstände der verfolgten Juden vertieft, Dokumente aufgespürt, Historiker befragt, reiste an die Schauplätze des Grauens. Sie lässt uns an ihrer Recherche teilhaben und vergegenwärtigt uns die Bedrohung, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegt. In ihrer ruhigen Sprache schwingt die Trauer stets mit, aber auch die Dankbarkeit für das Überleben der Überlebenden.

Am 28. Februar 2018 um 19.30 Uhr stellt Elam ihr Buch im deutschen Öhningen-Wangen (nahe Stein am Rhein) im Rathaus Wangen vor.

Sibylle Elam: «Es soll dort sehr gut sein». Eine Familiengeschichte von Flucht, Vernichtung und Ankunft. Rotpunktverlag. Zürich 2017. 292 Seiten. 34 Franken