Literatur: Vier Namen in zittriger Schrift
Eine geheimnisvolle Postkarte lässt die französische Autorin Anne Berest zur Detektivin werden. In «Die Postkarte» erzählt sie anhand ihrer Familiengeschichte von der Shoah, von Kollaboration und kontinuierlichem Antisemitismus.
In Frankreich ist es ein hochgelobter Bestseller: In «Die Postkarte» erzählt die Theaterregisseurin und Autorin Anne Berest vom Schicksal ihrer jüdischen Familie, von der Russischen Revolution bis ins 21. Jahrhundert. Noch hat der grosse Roman im deutschen Sprachraum nicht dieselbe Resonanz gefunden. Sicher, es geht um Vorgänge in Frankreich, um Kollaboration, Shoah und Antisemitismus. Aber das Buch der 44-jährigen Autorin, minutiöse Enquête und Roman zugleich, ist präzis verankert in den Biografien einer Familie sowie der Zeitgeschichte. Und die packende, beinahe kriminalistische Erzählung hat allgemeine und leider auch höchst aktuelle Bedeutung: Der Krieg im Nahen Osten hat seit dem 7. Oktober 2023 den Antisemitismus befeuert – auch in der Schweiz.
Berests Spurensuche- und Erinnerungsroman ist eine berührende Reflexion darüber, was es heute in Frankreich bedeutet, jüdisch zu sein. Und was es heisst, sich der ungebrochenen Kontinuität eines bestenfalls gedankenlosen, häufig freilich bewussten Antisemitismus ausgesetzt zu sehen – in Frankreich und anderswo.
Mit Hans Arp im Kofferraum
Die titelgebende Postkarte liegt am 6. Januar 2003 anonym im Briefkasten von Berests Mutter Lélia. Im Bild die alte Pariser Opéra Garnier. Auf der Rückseite in zittriger Schrift vier Namen: Ephraim, Emma, Noémie, Jacques. Es sind die Namen von Berests Urgrosseltern mütterlicherseits sowie von zwei von deren Kindern, Berests Grosstante und Grossonkel. Alle vier wurden im Sommer und Herbst 1942 von den französischen Behörden verhaftet und nach kurzem Aufenthalt in den Lagern Drancy beziehungsweise Pithiviers nach Auschwitz deportiert, wo sie im gleichen Jahr im Gas ermordet wurden oder durch Typhus starben.
Wer hat die Karte geschrieben, wer hat sie verschickt? Annes Grossmutter Myriam ist 1995 verstorben, ohne je über ihr Überleben in der Résistance und jene Zeit zu sprechen. Als die Karte ankommt, stellt Anne ihrer Mutter keine Fragen. Nochmals fünfzehn Jahre später, 2018, fragt ihre Tochter sie, ob sie selbst Jüdin sei, und erzählt: «In der Schule mögen sie Juden nicht besonders.» Jetzt erst stellt sich die Autorin ihrer Familiengeschichte. Grossen Anteil am Entstehen des Buches hat auch Annes Mutter Lélia, die über Jahre recherchiert und dokumentiert hat, was ihren Vorfahren seitens des französischen Staates und der Nazis, aber auch seitens kollaborierender Nachbar:innen widerfahren ist.
Anne Berests Urgrossvater Ephraim Rabinovitch, sozialistischer Ingenieur und Sozialrevolutionär in Moskau, muss 1919 vor der Verfolgung durch die Bolschewiki mit seiner Familie aus Russland fliehen. Sie versuchen, in Riga und später in Haifa, im britischen Mandatsgebiet Palästina, Fuss zu fassen, wo Ephraims Eltern schon lebten und versuchten, eine Orangenplantage in Schwung zu bringen. Nirgends heimisch geworden, zieht die fünfköpfige Familie 1929 schliesslich nach Paris. Rabinovitch bemüht sich jahrelang vergeblich um die französische Staatsbürgerschaft. Auch nach Kriegsausbruch 1939 bleibt die Familie im kleinen Sommerhaus ausserhalb der Metropole. Im Sommer 1942 wollen französische Gendarmen die drei Kinder verhaften. Das älteste, die 22-jährige Myriam, kann sich verstecken und schliesslich – mit dem bekannten Künstler Hans Arp in einen Kofferraum gepfercht – aus der Besatzungszone in den Süden fliehen. Dies auch dank ihrer Schwägerin Jeanine Picabia. Seit 1941 ist Myriam mit deren Bruder Vicente verheiratet. Der jüngste Sohn des längst getrennten Künstler:innenpaars Francis Picabia und Gabrielle Buffet nimmt sich wenige Jahre nach der Flucht das Leben und lässt Myriam mit der kleinen Tochter Lélia allein. Myriam schliesst sich der Résistance an und überlebt. 1945 hofft sie wie so viele vor dem Pariser Hotel Lutétia vergeblich auf die Wiederkehr ihrer Eltern und Geschwister.
Unter den Teppich gekehrt
Die Behörden registrieren die Toten als «nicht zurückgekommen», unterstellen «politische Gründe» statt der rassistischen für die Verfolgung, bestätigen Auschwitz nicht als Todesort. Es dauert Jahre, bis die Ermordeten als Deportierte anerkannt werden, und Jahrzehnte, bis eine minimale Restitution ihres Besitzes erfolgt. Lélia hatte schon in den siebziger Jahren bei ehemaligen Nachbar:innen ihrer Grosseltern deren kostbares Klavier und weitere Möbel entdeckt, die schamlos entwendet worden waren.
Anne Berest beschreibt diese teils bekannten, teils bis heute unter den Teppich gekehrten Ungeheuerlichkeiten französischer Amtsstellen und Nachbar:innen in geschickter Mischung von Recherche und plastisch imaginierten Szenen. Den flüssig formulierten Episoden folgt man oft atemlos, mit Mitleid, Trauer und immer wieder mit Erschrecken und Empörung. Berest hält den Spannungsbogen durch bis zum Schluss, wenn – nach vielen ergebnislosen Versuchen mithilfe von Detekteien, Grafologen, Mutmassungen – das Rätsel der Postkarte seine Lösung findet.
