«Stille Post»: Das Unbewusste der Erinnerungskette

Nr. 22 –

Ursprünglich wollte Christina von Braun nur über ihre Grossmutter schreiben - dann stiess sie auf ihre verborgene Familiengeschichte.

WOZ: Frau von Braun, Sie haben Ihre Familiengeschichte erst begonnen, als alle Protagonisten und Protagonistinnen tot waren. War das Rücksichtnahme auf Ihre Familienmitglieder, oder wollten Sie vermeiden, dass sich ihre Stimmen einmischen?

Christina von Braun: Eine Rolle spielte sicher, dass ich erst nach dem Tod meiner Mutter innerlich frei war, um einen objektivierenden Blick auf die eigene Familie werfen zu können. Meine Mutter war in den letzten zwei Jahren ihres Lebens nur noch wenig ansprechbar. Da hätte sie sich nicht mehr eingemischt. Es ging also mehr um die innere Freiheit.

Sie nennen Ihr Buch im Untertitel «eine andere Familiengeschichte» und meinen damit, dass Sie die Geschichte der Frauen Ihrer Familie aufschreiben wollten. Überliefern Frauen ihre Geschichte anders als die Männer?

Der Ausschluss von Frauen aus der offiziellen Erinnerung führte oft dazu, dass sie die Geheimbotschaften der Familien, das Unbewusste der Erinnerungskette aufbewahrten. Nach der Aufklärung wurde das Unbewusste gerne an das Weibliche delegiert, und solche geschlechtlichen Zuschreibungen wurden von Männern wie Frauen gelebt.

Sie schreiben nicht irgendeine Geschichte, sondern es ist auch die Geschichte der vor allem durch Ihren Onkel Wernher bekannten Familie von Braun. Glauben Sie, dass eine solche Geschichte auch bei weniger prominenten Familien funktionieren würde?

Was in meiner Familie so deutlich wird, sind die Extreme. Auf der einen Seite gibt es das ostpreussische Junkertum mit ganz traditionellen Wertvorstellungen, dann den Onkel, der an leitender Stelle dafür sorgte, dass die nationalsozialistische Kriegsmaschinerie möglichst lange durchhielt. Dann gibt es den Vater, der nach seiner Rückkehr von einer Weltreise 1935 einen sehr befremdeten Blick auf das nationalsozialistische Deutschland wirft und als junger Diplomat doch in dessen Sog gerät. Auf der mütterlichen Seite steht die Grossmutter, die zwar auch aus einer deutschnationalen Familie stammt, aber noch vor der Machtübernahme ihre Kinder vor Hitler zu warnen beginnt. Später greift sie beherzt ein, um jüdischen Freunden zu helfen, und zuletzt schliesst sie sich einer Widerstandsgruppe an, die von Kommunisten initiiert wurde.

Zur Erbschaft dieser Seite gehört auch Hans, der Bruder meiner Mutter, der 1936 als Siebzehnjähriger Deutschland verlässt, nach London geht und schliesslich in Australien landet. Ich denke, dass es solche Gegensätze damals in vielen anderen deutschen Familien gab; insofern ist meine Familie repräsentativ, nicht nur weil sie prominent ist.

Ihre Grossmutter, Hildegard Margis, haben Sie gar nicht mehr gekannt. Warum spielt diese Frau eine so zentrale Rolle in Ihrem Buch?

Diese Grossmutter war für mich der Anlass, in die Familiengeschichte einzusteigen. Warum bildete sie einen weissen Fleck in der Familienerzählung? Meine Mutter hat ausser spärlichen Informationen so gut wie nichts über sie erzählt - nur dass sie 1944 von der Gestapo verhaftet wurde und im Gefängnis gestorben ist. Erst als ich 1996 meinen australischen Onkel Hans kennenlernte, erfuhr ich Genaueres über diese Frau. Dadurch wurde ich neugierig auf die Geschichte der anderen Frauen meiner Familie während der NS-Zeit.

Eine weitere wichtige Figur, die die weibliche Erzählgenealogie allerdings durchbricht, ist Ihr Onkel Hans ...

Seine Mitteilungen sind im Unterschied zu denen meiner Mutter nicht über unbewusste Botschaften gegangen; sie waren direkt, es war nichts Verdrängtes dabei. Hans hat mir wichtige Schlüssel geliefert, um die verschwiegenen Botschaften meiner Mutter besser entziffern zu können. Aber ich zitiere ihn auch deshalb so ausführlich, weil mir sein Leben wie das ausgelebte politische oder psychologische Testament meiner Grossmutter erscheint.

Eine der wichtigsten Botschaften Ihrer Grossmutter ist ihre jüdische Abstammung, was in Ihrer Familie verschwiegen wurde.

Wir haben diesen Teil unserer Erbschaft erst über meinen Onkel Hans erfahren, der in Australien lebte und den wir erst sehr spät kennengelernt haben. Seiner jüdischen Frau zuliebe lebte er ziemlich orthodox, sagte aber von sich, er sei Atheist. Meine Geschwister und ich - wir waren alle schon erwachsene Leute - haben die Nachricht mit viel Vergnügen aufgenommen.

Das Verhältnis Ihrer Mutter zu Ihrer Grossmutter war schwierig, nicht zuletzt, weil beide Frauen sehr unterschiedliche Lebensentwürfe lebten. Sie deuten an, dass auch Sie zu Ihrer Mutter ein problematisches Verhältnis hatten.

Dieses Buch hat mich Neues gelehrt über meine Mutter als junge Frau und über die Verletzungen, die sie erfahren hat. Der Versuch, meine Mutter zu verstehen, begann aber schon früher. In meinem Buch über die Geschichte der Hysterie schrieb ich, dass sich in ihren Symptomen die Sprache eines Körpers artikuliert, dem die Zunge entrissen wurde. Nachträglich habe ich verstanden, dass dieses Buch mit meiner Mutter zu tun hatte. Meine Mutter hat mir einmal gesagt, sie habe schon als junge Frau begriffen, dass ihr «Körper ihr Kapital» sei. So denken viele Frauen, und viele zahlen dafür einen hohen Preis.

Nach 1941 bleiben Ihre Eltern im Ausland, Ihre Grossmutter in Deutschland. Sie fragen sich im Buch, warum Sigismund von Braun, Ihr Vater, nicht zu den Engländern übergelaufen und Ihre Grossmutter, obwohl in höchster Gefahr, in Deutschland geblieben ist. Könnte nicht eben die Ferne beziehungsweise Nähe zu Deutschland der Grund dafür gewesen sein?

Meine Eltern haben sich im Gefangenenlager in Kenia gefragt, ob sie nicht zu den Engländern überlaufen sollten, und entschieden sich dagegen, weil sie die berechtigte Angst hatten, dass sie dadurch die Familie in Deutschland gefährden. Bei meiner Grossmutter war das anders: Beide Kinder waren ausser Landes, niemand hätte direkt belangt werden können. Im Sommer 1943 war sie sogar noch einmal in Rom. Es muss ein Gefühl von tiefer Verbundenheit mit diesem Deutschland gewesen sein, das sie zurückkehren liess.

Das Engagement in der kommunistisch initiierten Bewegung Freies Deutschland brachte Ihre Grossmutter ins Gefängnis, wo sie starb. In Ihrer Familie herrschte Schweigen über sie, vielleicht auch aus einem unterschwelligen Schuldgefühl heraus?

Ich glaube, das Schweigen hing weniger mit Schuldgefühlen als mit der Tatsache zusammen, dass man in dieser konservativen Bundesrepublik der fünfziger Jahre auf eine Frau, die sich einer kommunistisch initiierten Widerstandsgruppe angeschlossen hatte, nicht stolz war. Im Westen waren die Kommunisten von der Wiedergutmachung ausgeschlossen, und die Erinnerung an diesen Teil des Widerstands wurde einfach ausgeblendet. In dieser Zeit war die Bundesrepublik noch ziemlich antisemitisch, und die wenigsten haben sich auf jüdische Anteile in der eigenen Familie berufen.

Diese Grossmutter bildet in Ihrem Buch das heimliche Gravitationsfeld, unter anderem, weil Sie die erzählenden Passagen mit fiktiven Briefen an Ihre Grossmutter wechseln lassen.

Die Grossmutter ist die Einzige, die ich nicht gekannt habe. Die Briefe haben mir ein Gesicht, eine Person aus Fleisch und Blut vor Augen geführt; das hat es leichter gemacht, über sie zu schreiben. Durch die Briefe konnte ich auch auf eine ganz unwissenschaftliche Weise fragen und reflektieren.

Während Ihre Eltern den Krieg geschützt im Vatikan verbrachten, lebten Ihre Grosseltern von Braun auf ihrem niederschlesischen Besitz. Wie Ihre Mutter aus der vatikanischen Zeit hat auch Ihre Grossmutter Emmy von Braun Tagebücher aus der unmittelbaren Nachkriegszeit hinterlassen. Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden Tagebüchern?

Die Tagebücher meiner Grossmutter beschreiben den Prozess der Aussiedlung und den Verlust des Gutes. Sie erzählt, wie sie von allen Nachrichten abgeschnitten sind, die Auswirkungen der ständig wechselnden Besatzung durch Russen und Polen. Das Tagebuch muss für sie ein Mittel gewesen sein, sich die Dinge, die ihr passierten, vom Leibe zu halten, Distanz zu wahren.

In den Tagebüchern meiner Mutter geht es oft um die Zukunft: Wandern wir aus, kann der Vatikan zum Ort der Erneuerung einer neuen christlichen Weltordnung werden? Meine Eltern waren Protestanten und wurden im Vatikan fast als Heiden betrachtet. Aber ihr Tagebuch ist voll von solchen christlichen Hoffnungen. Und natürlich erzählt meine Mutter von einem Luxusgefängnis, Emmy hingegen von einem hoffnungslosen und grausamen.

Als mein Grossvater in den fünfziger Jahren seine Memoiren schrieb, integrierte er ihr Tagebuch, aber ersetzte das Ich darin durch sein eigenes. So werden die Tagebücher von Frauen zu den Memoiren ihrer Ehemänner. Gemeinsam ist beiden Frauen das Gefühl, dass sie eine Zeit erleben, in der ganz viel ganz schnell passiert, das sie für später festhalten müssen.

Emmys Tagebuch behandelt die fünfzehn Monate bis zur endgültigen Aussiedlung der deutschen Bevölkerung 1946 aus Schlesien. Wie war es, als Enkelin damit konfrontiert zu werden?

Wie viele meiner Generation habe ich lange mit dieser Vertriebenenfrage nichts zu tun haben wollen, obwohl mein Grossvater im Vertriebenenverband sehr engagiert war. Dieser revanchistische Ton stiess mich so ab, dass ich mich politisch nie damit auseinandergesetzt habe. Die Tagebücher meiner Grossmutter haben mir einen neuen Zugang verschafft. Das Lesen der Tagebücher meiner Mutter war anders: Ich war vollkommen benommen. Als ich sie transkribierte, musste ich mich immer wieder aus dem Vatikan und der Haut meiner Mutter lösen.

Emmys Tagebuch liest sich an manchen Stellen sehr befremdlich, beispielsweise wie sie über die Polen spricht.

Absolut. Meine Grosseltern stilisierten sich als Opfer der Geschichte. In den Memoiren meines Grossvaters gibt es - noch zehn Jahre nach Kriegsende! - ein Kapitel, das «Nacht über Deutschland» heisst. Man denkt, er meint den Nationalsozialismus, aber nein, es handelt von der Vertreibung. Wenn bei ihm der Nationalsozialismus überhaupt erwähnt wird, dann nur, um die Verbrechen der Nazis mit den Bomben der Alliierten auf Dresden zu rechtfertigen.

Glauben Sie, dass Magnus und Emmy von Braun an die Juden gedacht haben, als sie im Viehwagen - sie hätten auch einen Personenzug nehmen können - Schlesien verliessen?

Ich selbst habe sofort daran gedacht. Ich glaube aber, meine Grosseltern haben nicht eine Sekunde diesen Vergleich gezogen. Meine Grossmutter schreibt nur, sie hätten im Viehwagen mehr Platz gehabt als in den Personenwaggons.

Irritierend ist auch, dass Ihre Grosseltern, die aus Ostpreussen beziehungsweise Vorpommern stammen, Schlesien überhaupt als Heimat sahen.

Sowohl auf der braunschen als auch auf der quistorpschen Seite gibt es tatsächlich eine lange schlesische Familientradition. Aber das Gut, das sie als Heimat bezeichneten, hatten sie erst 1931 erworben. Das hat mich veranlasst, über diesen Begriff «Heimat» zu reflektieren. Ich glaube, dass er im 20. Jahrhundert eine psychische Qualität angenommen und immer weniger mit tatsächlichem Land zu tun hat. Das wirft auf die ganze Frage der Heimatvertriebenen noch einmal ein ganz neues Licht.

Haben Sie diese «Heimat» selbst besucht?

Nein. Vielleicht auch, weil ich das Buch schreiben wollte als das Kind, das in dieser Bundesrepublik beziehungsweise in Westeuropa aufgewachsen ist. Hätte ich Niederschlesien während des Schreibens besucht, hätte ich das wohl nicht wie eine Touristin tun können. Jetzt kann ich es.

Ihr Buch endet mit einer fast kolportagemässig anmutenden Liebesaffäre Ihrer Mutter mit einem Geistlichen im Vatikan, die zur vorläufigen Trennung Ihrer Eltern führte. Sie haben erst als Erwachsene davon erfahren; hat das Ihre Mutter näher gerückt?

Ich hielt meine Mutter immer schon für eine unkonventionelle Frau, die Regeln überschritt, und sie ist mir durch diese Geschichte sehr viel näher gekommen. Andere wären über diese Geschichte vielleicht einfach hinweggegangen. Aber ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, wie «die» Geschichte und Kriege in das Leben von Frauen eingreifen. Dieser katholische Geistliche, selber «Halbjude», der vor seiner Deportation nach Buchenwald in den Vatikan flüchten konnte, und meine Mutter, die es durch den Krieg in den Vatikan verschlagen hatte, wären sich unter normalen Umständen nie begegnet. Ihre Begegnung verdankte sich den historischen Gegebenheiten. Die vergewaltigten Frauen vom Kriegsende haben nie über ihre Erfahrungen und Traumata reden dürfen, und hier ist es ähnlich. Meine Mutter wollte gerne davon erzählen, sie hat sich ja von meinem Vater getrennt, um darüber zu schreiben - und dann fehlten ihr einfach die Worte und die Kraft dazu. Ich glaube, meine Mutter wäre versöhnt gewesen zu wissen, dass ihre Geschichte nun doch erzählt worden ist.

Gerade in Bezug auf Ihre Mutter ist das, was Sie Vererbung über die Psyche nennen, besonders evident. Schreibt Ihre «Stille Post» nicht auch den Geschlechterdualismus fort, in dem Sinne, dass die Männer die Verantwortung für die politischen Ereignisse tragen und die Frauen sich mit dem psychisch-mentalen Erbe herumschlagen müssen?

Für diese Lesart finden Sie weder in diesen Biografien noch in meinen Reflexionen Belege. Die aktive Hilde Margis, meine Mutter, die, wenn es sein muss, zum Revolver greift, oder Emmy von Braun, die so präzise die fünfzehn Monate ihrer Aussiedlung festhält, sind alle drei keine Beispiele für passive weibliche Existenz. Auch das Leben von Hans ist ein Gegenbeispiel zu diesem Geschlechterdualismus. Natürlich sind die Materialien, aus denen ich zitiere, auf klischeehafte Weise geschlechtlich codiert: Die Frauen schreiben Briefe und Tagebücher, die Männer veröffentlichen Memoiren. Aber genau das thematisiere ich ja auch. Auf solche Klischees hinzuweisen, heisst nicht, die Traditionen fortzuschreiben. Die «stille Post» war lange ein Sondergebiet von Frauen, aber das trifft heute immer weniger zu. Ein Buch über die «stille Post» zu schreiben, impliziert in gewisser Weise schon den Abschied von einer weiblichen Erinnerungskette, die dem Unbewussten anvertraut wird.

Sie schreiben sehr ungeschützt, indem Sie sich und Ihr Involviertsein in die Geschichte Ihrer Familie deutlich machen. Machen Sie sich als Wissenschaftlerin damit nicht auch sehr angreifbar?

Natürlich. Aber wenn wir nur unter dem Aspekt, nicht angreifbar zu sein, schreiben, wie soll dann je dieses Schweigen, das insbesondere über den Erfahrungen von Frauen liegt, gebrochen werden? Die Wissenschaft schützt sich vor dem Unbewussten wie ..., ja, wie der Teufel vor dem Weihwasser, um bei den Bildern des Vatikans zu bleiben. Dennoch bezieht sie daraus einige ihrer wichtigsten Impulse.

Christina von Braun: Stille Post. Eine an­dere Familiengeschichte. Propyläen Ver­lag. Berlin 2007. 415 Seiten. 38 Franken