Hiroshima: Ein Briefwechsel über das Grauen danach

Nr. 11 –

Die letzten ZeitzeugInnen des ersten Atombombenabwurfs am 6. August 1945 in Hiroshima sterben. Jetzt bringt ein sensationeller Fund neues Quellenmaterial der Überlebenden ans Licht.

Ein historischer Moment – und doch aktuell wie lange nicht mehr: Hiroshima, 6. August 1945. Foto: Public Domain

Ende 2016 räumt Keiko Ogura ihre Wohnung in Hiroshima gründlich auf. Sie ist fast achtzig, ihre Tochter soll bei ihr einziehen, damit sie nicht länger alleine leben muss. Da fällt der alten Dame eine Schachtel in die Hand, in der sie ein Stückchen der Nabelschnur ihrer Tochter aufbewahrt.

Die Schachtel entpuppt sich als sensationeller Fund: Unter der Nabelschnur liegen auf dünnem Durchschlagpapier fast 500 Seiten aus Briefen, die ihr verstorbener Mann Kaoru Ogura in den fünfziger Jahren an den österreichischen Journalisten und Schriftsteller Robert Jungk geschrieben hatte.

Jungk war der Erste, der in deutscher Sprache über das Leben nach dem ersten Atombombenabwurf in der Geschichte der Menschheit berichtet hatte. In seinem 1959 erschienenen dokumentarischen Hiroshima-Roman «Strahlen aus der Asche» erzählt er vom Überlebenskampf der Menschen nach dem Atombombenabwurf, von deren Leid, aber auch von der im Chaos herrschenden Brutalität.

Das Buch erschien in einer Startauflage von 40 000 Exemplaren, wurde in zehn Sprachen übersetzt und war Jungks dritter internationaler Bestseller. In dieser «Geschichte einer Wiedergeburt» schildert er, «wie die weitsichtige Stadtverwaltung schon vierzehn Tage nach dem Abwurf der Atombombe beginnt, mit Wirtschaftswunder-Geschwindigkeit Freudenhäuser zu bauen, die noch zeitig zum Einmarsch der amerikanischen Besatzer fertig werden, oder wie die Ärzte der amerikanischen Kommission zur Prüfung der Atomopfer zwar Tausende von Bürgern untersuchen, sich aber weigern, sie zu behandeln», wie der «Spiegel» 1960 in einer Rezension formulierte.

Als Opfer muss sie berichten

Robert Jungks wichtigster Helfer und Informant in Japan war Kaoru Ogura, der spätere Leiter des Friedensmuseums von Hiroshima und Ehemann von Keiko Ogura. 1920 in den USA geboren, sprach Ogura perfekt Englisch. 1930 zog er mit seinen Eltern nach Hiroshima, nach dem Krieg war er als Dolmetscher und Übersetzer tätig. Für Jungk arbeitete er zunächst während dessen Rechercheaufenthalts im Frühling 1957. Danach beantwortete er noch zwei Jahre lang Jungks Fragen – in insgesamt 213 fein säuberlich durchnummerierten Briefen. Die Briefe enthalten Interviews, Zeitungsartikel, Skizzen und andere Rechercheergebnisse. Sie galten als verschollen, bis sie bei seiner um viele Jahre jüngeren Witwe wieder auftauchten.

Keiko Ogura und ich lernten uns vor ein paar Jahren kennen, bei einem Mittagessen im 15. Stockwerk des Grand Prince Hotel am Rand von Hiroshima mit einem umwerfenden Panoramablick über die Bucht. Die 1937 Geborene gehört zu den letzten Überlebenden der Atombombe. Wie durch ein Wunder hat sie überlebt, 2,4 Kilometer vom Hypozentrum entfernt. Weil sie ihr Vater am Morgen jenes Tages, als habe er etwas geahnt, nicht zur Schule gehen liess.

Keiko Ogura muss über den 6. August 1945 sprechen, immer wieder. Sie trägt schwer an einer vermeintlichen Schuld. Sie, damals ein achtjähriges Mädchen, ein Schulkind in Hiroshima, gab Überlebenden in der zerstörten, heissen Stadt zu trinken. Ihre verzweifelten Rufe «Wasser, Wasser!» hört sie heute noch und wird sie nicht los. «Gebt den verstrahlten Opfern kein Wasser zu trinken, es wäre ihr Todesurteil», hatte der Vater gemahnt, doch da war es bereits geschehen. Bis heute ist Keiko überzeugt, dass sie diejenigen getötet hat, denen sie helfen wollte.

Miteinander bekannt gemacht hat uns Yuji Wakao, emeritierter Professor für moderne Geschichte an der Universität Nagoya. Er hatte Keiko Ogura für eine Radiosendung zum 70. Jahrestag des Atombombenabwurfs vermittelt. Als Zeitzeugin sollte sie über ihre Erinnerungen an den 6. August 1945 und ihr Leben als Hibakusha, als Atombombenopfer, sprechen. Wakao hat nach ihrem sensationellen Fund Ende 2016 auch die Briefe ihres Ehemanns an Robert Jungk ins Japanische übersetzen lassen und ein umfangreiches Buch über den Briefwechsel zwischen Kaoru Ogura und Robert Jungk geschrieben. Es wird im Mai 2018 auf Japanisch im Verlag der Nagoya-Universität erscheinen.

Der Geologe in den Ruinen

Die Aufarbeitung der Briefe war sowohl für Herausgeber Wakao als auch für das ÜbersetzerInnenteam eine riesige Herausforderung. Auf dem sechzig Jahre alten Durchschlagpapier fanden sich immer wieder völlig unleserliche Passagen. Kopfzerbrechen bereiteten den ÜbersetzerInnen auch die Eigennamen: Japanische Namen werden mit chinesischen Schriftzeichen geschrieben, die in Eigennamen oft anders ausgesprochen werden als üblich. Kaoru Ogura hatte die japanischen Namen für Jungk ins westliche Alphabet transkribiert. Für die Rücktranskription musste Wakaos Team nun jeden einzelnen Namen verifizieren – eine Herkulesarbeit.

Eine weitere Schwierigkeit sei es gewesen, die verschiedenen Quellen im Text auszumachen und zu trennen, erzählt Yuji Wakao: «Welche Aussage sollte wem zugeordnet werden? Was sind Materialien Dritter, wie zum Beispiel die Tagebücher des Überlebenden und Helfers Ichiro Kawamoto, eines der wichtigsten Protagonisten in ‹Strahlen aus der Asche›; oder was ist Oguras persönlicher Meinungskommentar?» Ogura kannte die Tagebücher Kawamotos, er hatte ihn interviewt und verwendete diese Quelle, wenn er Fragen von Jungk beantwortete.

Als besonders wertvoll erachtet Wakao die Interviews mit Überlebenden, die Kaoru Ogura geführt hat. Einer von ihnen ist der Geologe Shogo Nagaoka, der spätere erste Leiter des Friedensmuseums zum Gedenken an den Atombombenabwurf. Nagaoka, damals Lektor an der Universität Hiroshima, ging bereits am Tag nach dem Abwurf der Bombe durch das zerstörte Hiroshima, um zu verstehen, was passiert war (1959 erschien sein Buch «Hiroshima Under Atomic Bomb Attac»). Von seinen KollegInnen wurde der Geologe, der durch die Ruinen der Stadt kletterte und Schutt und Eisenteile aufklaubte, um sie zu analysieren, scheel angesehen. Sie hätten ihn als Idioten bezeichnet und sich lustig über ihn gemacht, erzählt Yuji Wakao, aber tatsächlich habe Nagaoka bedeutend zum heutigen Wissen über die Geschehnisse damals und über die Auswirkungen der Bombe beigetragen.

Schatten, auf Steinen eingebrannt

Die wichtigsten Artefakte, die auch heute noch im Museum zu sehen sind, stammen aus der Sammlung von Shogo Nagaoka: geschmolzene Flaschen, auf Steinen eingebrannte Schatten, verkohlte Bambusstäbe, durch die enorme Hitze veränderte Ziegel und vieles mehr; insgesamt rund 10 000 Samples. «Ohne Nagaokas Sammlung gäbe es das Friedensmuseum in dieser Form nicht», sagt Yuji Wakao. Robert Jungk, Kaoru Ogura und Nagaoka waren sich einig, dass diese Dinge grossen Wert für die Erinnerung und die historische Übermittlung haben.

Anders die Bevölkerung von Hiroshima: Viele waren der Meinung, es wäre besser, keine Artefakte auszustellen, die doch nur schmerzliche Erinnerungen weckten. Fingerspitzengefühl gegenüber Atombombenüberlebenden und deren Angehörigen ist bis heute verlangt, wie Yuji Wakao weiss: Viele von ihnen wollten ihren Namen nicht im Buch veröffentlicht sehen.

Für Robert Jungk waren sein Besuch in Hiroshima, die Interviews und Begegnungen mit Atombombenopfern und sein Briefwechsel mit Kaoru Ogura prägend. Sie machten ihn zu einem vehementen Atomkraftgegner – von Atomwaffen wie Atomkraftwerken gleichermassen.

Keiko Ogura gründete nach dem Tod ihres Mannes 1979 die Bewegung Hiroshima Translators for Peace. Die FriedensübersetzerInnen setzen sich für die Abschaffung von Nuklearwaffen ein und geben ihre traumatischen Erlebnisse auf Englisch an AusländerInnen weiter.