Nicaragua: Die Einsamkeit des Daniel Ortega

Nr. 25 –

Wie aus dem einstigen Strahlehelden einer schönen Revolution ein aus der Zeit gefallener Autokrat geworden ist.

Zeit spielte selten eine grosse Rolle im Leben des Daniel Ortega. Das Gespräch im Herbst 2006 war für zehn Uhr in der Nacht vereinbart, in seinem Privathaus, das in Teilen gleichzeitig Parteibüro ist, mitten im heissen Kessel von Managua. Sein Privatsekretär wartete gelangweilt. Auf dem Bildschirmschoner seines Computers wechselten «Playboy»-Models die Posen. Er führte in ein grosses Zimmer. Ein langer Tisch, unbequeme Stühle, an den Wänden zwei Porträts in Öl: Augusto César Sandino, der Namensgeber, und Carlos Fonseca, der Gründer der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN). «Der Comandante wird sich ein bisschen verspäten», sagte der Sekretär und verabschiedete sich. Eine Hausangestellte brachte Kaffee. Alle Stunde kam sie wieder mit frischem Kaffee, und immer sagte sie: «Der Comandante ist schon unterwegs.»

Um zwei Uhr morgens kam er, im verschwitzten und ausgebleichten roten T-Shirt und in Jeans. Er setzte sich an den Tisch, stützte sich auf beide Ellbogen und sagte, als gäbe es sonst nichts zu sagen: «Fangen wir an.» Er war noch immer hellwach, ganz auf sein Gegenüber konzentriert. Er ärgerte sich nicht über kritische Fragen. Er hatte, scheinbar ohne nachzudenken, entwaffnende Antworten. Seinen Besuch bei Erich Honecker, dem letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR, im Gefängnis von Moabit etwa rechtfertigte er so: «Das gehörte sich einfach, der Mann war todkrank. Er hat uns viel geholfen, als wir es brauchten.» Keine politische Frage, sondern eine des Anstands.

Kein Cowboy mehr auf weissem Ross

Man wusste schon damals, dass Daniel Ortega nicht nur der Strahleheld einer schönen Revolution war, die in den achtziger Jahren Linke und progressive ChristInnen aus Europa und den USA in Scharen angezogen hatte. Man wusste von der schnellen Bereicherung sandinistischer FunktionärInnen in der sogenannten Piñata nach der Wahlniederlage von 1990. Man wusste, dass er mögliche Rivalen wie den Unternehmer Herty Lewites und sandinistische Ikonen wie den Dichter-Priester Ernesto Cardenal mit widerlichen Schmutzkampagnen aus der Partei gedrängt hatte. Man wusste, dass ihm seine Stieftochter Zoilamérica Narváez vorgeworfen hatte, er habe sie seit ihrem 13. Lebensjahr sexuell missbraucht. Er aber hatte sich einem klärenden Gerichtsverfahren entzogen, indem er sich so lange hinter seiner parlamentarischen Immunität verbarrikadierte, bis die Vorwürfe verjährt waren. Er war nie ein guter Volksredner, eher eintönig und langatmig. Aber im Gespräch, von Angesicht zu Angesicht, da hatte er eine unglaubliche Präsenz und die Fähigkeit, sein Gegenüber um den Finger zu wickeln. Der Mann hatte Charisma.

Er hat dieses Charisma in den vergangenen Jahren verloren. Er gibt keine Interviews, gönnt sich kein Bad in der Menge mehr. Er ist nicht mehr der athletische Typ, der einst als «Kampfhahn» in den Wahlkampf zog, der in Cowboykluft auf einem weissen Ross in die Dörfer einritt und mit den Alten genauso plauderte wie mit den ganz Jungen. Er ist selbst alt geworden, 72 Jahre. Bei seinen wenigen öffentlichen Auftritten wirkt er unkonzentriert. Er bewegt sich langsam und redet schleppend, sein Gesicht ist aufgedunsen. Ärzte aus seinem Umfeld sagen, das komme vom Cortison. Er soll seit Jahren an Lupus leiden, einer seltenen Krankheit des Immunsystems, deren Schübe durch starke Sonneneinstrahlung ausgelöst werden können. In einem tropischen Land wie Nicaragua ist das für einen Politiker eine Katastrophe.

Der Präsident ist einsam geworden. Er hat den Kontakt zum Volk verloren. Das mag mit dazu beigetragen haben, dass er am 18. April die Lage völlig falsch eingeschätzt hat. Es war eine fatale Entscheidung, eine kleine Demonstration gegen seine per Dekret verordnete Rentenreform – Kürzung der Bezüge bei gleichzeitiger Erhöhung der Beiträge – zusammenprügeln zu lassen. Bislang hatte er bei Protesten immer ein gutes Gespür dafür, wie er seine Macht sichern kann. Diesmal hat er sich getäuscht, und aus einer bösen Schlägerei ist ein landesweiter Aufstand geworden. Die Polizei schlägt gnadenlos zu, es wurden schon über 150 Menschen getötet. Wer hätte das von einem Mann gedacht, der einmal der Prototyp des guten Revolutionärs war?

Er stammte aus einfachen Verhältnissen: Der Vater war Lehrer in der Provinz, die Mutter Grafikerin. Er brach früh sein Jurastudium ab und hat sich schon 1963 der FSLN angeschlossen. Von 1967 bis 1974 war er in Haft, wurde dann durch eine spektakuläre Geiselnahme freigepresst und nach Kuba ausgeflogen. Zwei Jahre später kehrte er von dort als Comandante zurück und wurde zum Retter der zerstrittenen Guerilla. Zwei Flügel bekämpften sich bis aufs Blut. Der eine setzte auf die Strategie des sogenannten verlängerten Volkskriegs, mit der das Regime des Diktators Anastasio Somoza mit vielen kleinen Nadelstichen zermürbt werden sollte. Der andere wollte im eher feudal strukturierten Agrarland eine klassische proletarische Revolution mit einer Arbeiterpartei als Avantgarde anzetteln.

Ortega gründete eine dritte Strömung, die sogenannten Terceristas. Er setzte auf einen Aufstand, getragen von einem breiten Volksbündnis bis hinein in bürgerliche Kreise. Der Erfolg gab ihm recht. Nach nur eineinhalb Jahren war der Tyrann verjagt. Nach dem von Aufständen begleiteten Krieg mit 40 000 Toten zogen die SandinistInnen am 19. Juli 1979 siegreich in Managua ein. Ein begeisterndes Experiment nahm unter widrigsten Bedingungen seinen Lauf.

Es war die Zeit, in der Kooperativen Grossgrundbesitz übernahmen, in der junge Freiwillige den Anteil der AnalphabetInnen von über fünfzig auf unter zehn Prozent senkten, in der Schulen gebaut wurden und Krankenhäuser Gratisbehandlungen für die Bevölkerung anboten. Es war die Zeit, in der die Polizei nicht mehr kaserniert und repressiv war, sondern in den Stadtvierteln wohnte und mit der Bevölkerung arbeitete, und in der die Städte so sicher wurden wie im Urlaubsparadies Costa Rica.

Revolution und Contra-Krieg

Es war aber auch die Zeit des von den USA finanzierten und gesteuerten Kriegs der antisandinistischen Contra, der weitere 30 000 Tote forderte. Die Zeit, in der die US-Marine die Hafeneinfahrten Nicaraguas verminte, um die Wirtschaft zu strangulieren. Die Zeit der Hyperinflation von bis zu 30 000 Prozent im Jahr und der langen Schlangen vor leeren Lebensmittelgeschäften. Ortega war damals zuerst Mitglied der fünfköpfigen Revolutionsjunta, seit 1984 dann gewählter Präsident.

Die Wahl 1990 verlor er gegen die bürgerliche Violeta Chamorro – auch sie war einmal Mitglied der Revolutionsjunta gewesen. Es war eine seiner stärksten Stunden. Chamorro brauchte damals drei Tage, bis sie den Schock ihres Sieges überwunden hatte und vor die Presse treten konnte. Ortega rief schon am Morgen nach der durchwachten Wahlnacht seinen AnhängerInnen zu, man werde nun «von unten regieren». Er konnte das. Er war der einzige politische Führer, dessen Partei im ganzen Land straff organisiert und jederzeit mobilisierbar war. Er konnte das Land mit Demos und Strassenblockaden lahmlegen, wann immer er wollte. Ohne ihn ging nichts.

Er konnte aber auch verhandeln. Mit Chamorros Nachfolger, dem so rechten wie korrupten Arnoldo Alemán, schloss er einen Pakt: Sie teilten alle wesentlichen staatlichen Institutionen – vom Rechnungshof über den Wahlrat bis hin zu den Gerichten – unter ihren AnhängerInnen auf und änderten das Wahlrecht: 35 Prozent der Stimmen genügen, um auf Anhieb ins Präsidentenamt zu kommen. Es musste Ortega nur gelingen, die oft zerstrittene Rechte zu spalten, dann konnte er zurück an die Macht. 2007 war es so weit. Das Verfassungsverbot einer Wiederwahl liess er dann 2010 vom ihm hörigen Verfassungsgericht aushebeln. Seither wird er wieder und wieder gewählt.

Die Rechnung mit der Gattin

Er war nicht immer unumstritten in der FSLN. Es gab Parteitage, die fast in Schlägereien ausarteten. Es gab andere mit Ambitionen aufs höchste Staatsamt. Ortega hat sie alle aus dem Weg geräumt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei seine Frau Rosario Murillo, die Mutter von Zoilamérica Narváez. Im Skandal um den sexuellen Missbrauch stärkte sie nicht ihrer Tochter, sondern dem mächtigen Mann an ihrer Seite den Rücken. Dora María Téllez, auch sie eine aus dem Weg geräumte ehemalige FSLN-Kommandantin, sagte damals: «Ortega muss eine grosse Rechnung begleichen, und als guter Politiker weiss er das.» Seither ist der Einfluss der vorher kaum öffentlich sichtbaren Murillo so gewachsen, dass oft der Eindruck entsteht, sie und nicht Ortega regiere das Land. Sie hat die alten Parteikader entmachtet, die langjährigen treuen Mitglieder ignoriert. Stattdessen hat sie ein Netzwerk aus jungen Leuten aus Armenvierteln geschaffen, die rau sind, fanatisch und ihr ergeben. Sie lassen sich jederzeit rufen, wenn es darum geht, Proteste mit Prügeln im Keim zu ersticken, und so war es wohl auch am 18. April gedacht.

Die Aushöhlung der Partei zur leeren Hülle trug mehr zur Einsamkeit von Ortega bei als seine Krankheit. Er hat kein Korrektiv mehr, niemanden, der ihm die Meinung sagt. Das fiel lange nicht auf, weil Nicaragua unter seiner Herrschaft zu einem ruhigen und stabilen Land geworden war. Selbst der mächtige UnternehmerInnenverband Cosep, der ihm einst spinnefeind war, hatte begriffen, dass man besser Geschäfte machen konnte mit Ortega als Präsident denn mit Ortega als Oppositionsführer. Ortega liess Cosep allen neoliberalen Spielraum. Ihn interessierte nur die politische Macht.

«Macht ist ein Instrument, das man zum Guten und zum Bösen einsetzen kann», hatte er in einem früheren Gespräch gesagt. «Wir wollen die Macht einsetzen gegen Armut und soziale Ungleichheit.» Das hat er lange auch getan. Er hat heftig ins öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen investiert – beides war unter den rechten Vorgängerregierungen fast verschwunden. Er hat Null-Hunger-Programme für die arme Landbevölkerung aufgelegt. Er hat das alles über die von ihm kontrollierte Firma Albanisa finanziert, die billiges Benzin aus Venezuela bekam und über ihr Tankstellennetz zu Marktpreisen verkaufte. Nun steht Venezuela selbst am Abgrund, die Vorzugslieferungen bleiben schon lange aus. Die – wieder zurückgenommene – Rentenreform sollte wenigstens die marode Sozialkasse retten. Protest dagegen war nicht vorgesehen.

Ortega hat an der Zeit vorbeigelebt. Er hat nicht erkannt, dass es fast vierzig Jahre nach dem Sieg des FSLN eine junge Generation gibt, die mit seinem Namen nicht mehr Befreiung verbindet, sondern Autokratie. Eine Generation, die zwar – noch? – kein politisches Konzept hat, die aber genauso aufmüpfig ist, wie er es als junger Mann war. Und die sich vor allem nicht mehr verprügeln lassen möchte, sondern mitreden will. Ortega kommt damit nicht zurecht und verwendet nun seine Macht zum Bösen.