Nicaraguas sandinistisches Erbe: Der tropische Stalinist und die esoterische Poetin

Nr. 44 –

Wie der einstige sandinistische Guerillero Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo das Land nach ihren Interessen zurechtgebogen haben – und warum sie noch lange regieren werden.

Selten konnte ein Wahlsieg in einem formal demokratischen Land mit Mehrparteiensystem mit so grosser Sicherheit vorausgesagt werden: Daniel Ortega wird am 6. November zum dritten Mal in Folge und zum vierten Mal insgesamt zum Präsidenten von Nicaragua gewählt werden. Eigentlich könnte das nur noch sein Tod verhindern. In diesem Fall würde dann seine Gattin Rosario Murillo gewählt, die nun seine Kandidatin als Vizepräsidentin ist. Ansonsten bleibt nur die Frage, ob Ortega sechzig, siebzig oder gar achtzig Prozent der abgegebenen Stimmen erhält. Auch mehr ist nicht ausgeschlossen: In Umfragen kommen die Kandidaten der rechten Oppositionsparteien zusammen auf nicht einmal zehn Prozent.

Die Wahl ist, «auf gut Nicaraguanisch gesagt, der Kampf eines losgelassenen Tigers gegen einen angebundenen Esel», sagt Sergio Ramírez, der während der ersten Präsidentschaft Ortegas in den achtziger Jahren dessen Stellvertreter gewesen war. Für den mittlerweile siebzig Jahre alten ehemaligen sandinistischen Guerillero, der sich immer noch gerne mit «Comandante» ansprechen lässt, wird der Urnengang ein Spaziergang werden. Internationale Wahlbeobachtung ist dabei nicht zugelassen.

Seit dem 19. Juli 1979, als die sandinistische Befreiungsfront (FSLN) nach zwei Jahren Bürgerkrieg den Diktator Anastasio Somoza gestürzt hatte und siegreich in Managua einmarschiert war, hat kein anderer Politiker Nicaragua so geprägt wie Daniel Ortega. Zuerst war er Mitglied einer fünfköpfigen Revolutionsjunta, ab 1984 dann gewählter Präsident. Selbst die Wahlniederlage von 1990 gegen die konservative Violeta Barrios de Chamorro hat seine Macht nur unwesentlich eingeschränkt. Schon am Tag nach seiner Niederlage hatte er vor AnhängerInnen angekündigt, die FSLN werde nun eben «von unten regieren».

Polizei und Armee waren nach dem Sieg der Revolution neu aufgebaut worden und sind bis heute unter der Kontrolle der sandinistischen Partei. Dazu verfügt die FSLN – anders als alle anderen Parteien in Nicaragua – über eine landesweit verbreitete straff organisierte Basis. Diese rief Ortega als Oppositionspolitiker bei jeder Regierungsentscheidung, die ihm missfiel, auf die Strasse. Er konnte das Land mit Demonstrationen und Strassenblockaden nach Belieben lahmlegen und Barrios de Chamorro jeden Kompromiss abtrotzen. Ihr Nachfolger Arnoldo Alemán, ein skrupellos korrupter Politiker mit ausgeprägtem Instinkt für die Macht, wusste, dass er diese nur ausüben konnte, wenn er einen Teil davon Ortega abtrat.

Die beiden einigten sich auf das, was bis heute in Nicaragua «der Pakt» heisst: Sie teilten unter ihren AnhängerInnen alle wichtigen Staatsämter auf, von der Wahlbehörde über den Rechnungshof bis zum Obersten Gerichtshof. Sie änderten das Wahlrecht so, dass 35 Prozent der Stimmen für das Präsidentenamt genügten. So viel, wusste Ortega, wird er immer bekommen. Wenn es ihm dann noch gelänge, die traditionell zerstrittene politische Rechte zu spalten, würde er wieder ins höchste Staatsamt gewählt.

Der Aufstieg der Rosario Murillo

Nur einmal kam er kurz ins Straucheln: 1998 beschuldigte ihn seine Stieftochter Zoilamérica Narváez, ein Kind aus einer früheren Beziehung von Rosario Murillo, sie seit ihrem 13. Lebensjahr immer wieder sexuell missbraucht zu haben. Juristisch konnte man Ortega nichts anhaben. Als ehemaliger Präsident und Parlamentsabgeordneter genoss er strafrechtliche Immunität. Und politisch sprang ihm Murillo zur Seite und zieh ihre Tochter der Lüge. «Das hat ihr enorm viel Macht gegeben», sagt die einstige FSLN-Kommandantin Dora María Téllez. «Ortega muss ihr nun eine grosse Rechnung zurückbezahlen.»

Bei der Wahl 2006 war die Chance gekommen, auf die Ortega seit dem Pakt mit Alemán gewartet hatte: Die Rechte war zerstritten und hatte keinen charismatischen Kandidaten. Zudem war es Ortega und Murillo gelungen, ihren einstigen Todfeind Miguel Obando y Bravo, den einflussreichen stockkonservativen Erzbischof von Managua, auf ihre Seite zu ziehen. Das Paar hatte sich nach sieben gemeinsamen Kindern von ihm trauen lassen und ihm zudem mit den Stimmen der Parlamentsfraktion der FSLN eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt geschenkt. In Nicaragua sind heute Schwangerschaftsabbrüche unter allen Umständen bei hohen Strafen verboten – selbst wenn etwa ein Kind nach einer Vergewaltigung schwanger wird.

Geld für einen bombastischen Wahlkampf war 2006 vorhanden. Hugo Chávez, der damalige linkspopulistische Präsident Venezuelas, vergab über den Verbund Petrocaribe Erdöl zu Vorzugsbedingungen an befreundete Regierungen. Wo die politische Rechte an der Macht war, gründeten linke Parteien wie die FSLN private Unternehmen, die dann in den Genuss des billigen Erdöls kamen. Über das von Ortega kontrollierte Unternehmen Albanisa sind so bis heute über drei Milliarden US-Dollar quasi privater Hilfe ins Land gekommen, über die keinerlei öffentliche Rechenschaft abgelegt werden muss. Ortega wurde 2006 mit 38 Prozent der Stimmen ins Präsidentenamt gewählt. Er hat es nicht mehr abgegeben.

Das vorher unruhige Nicaragua ist seither ein politisch stabiles Land und – zusammen mit Costa Rica – eine Insel der Sicherheit in einer von Gewaltkriminalität geprägten Region. Die arme Bevölkerungsmehrheit hat von der Rückkehr Ortegas an die Macht profitiert. Seine neoliberalen VorgängerInnen hatten das staatliche Bildungs- und Gesundheitssystem ausbluten lassen, er aber investierte. Er liess Schulen und Gesundheitsposten auf dem Land bauen, schaffte Schulgebühren genauso ab wie die Beteiligung der PatientInnen an den Krankheitskosten. Mit Geld aus den Albanisa-Gewinnen legte er Sozialprogramme auf, fördert KleinbäuerInnen in den Hungerzonen des Landes und den Bau einfacher Wohnungen. Und die Begünstigten wissen: Diese Hilfe kommt nicht vom Staat, sie kommt von Daniel Ortega.

Kommt es doch einmal zu Protesten, lässt er sie frühzeitig von der Polizei unterdrücken. Zuletzt mussten das DemonstrantInnen gegen das Projekt eines riesigen interozeanischen Kanals erfahren, den ein chinesischer Investor quer durch Nicaragua graben will (siehe WOZ Nr. 13/2014 ). Der Baubeginn wird immer wieder verschoben; nicht etwa wegen der Proteste, sondern wegen Zweifeln an der Finanzierbarkeit und Rentabilität des Projekts.

Rosa statt Rot-Schwarz

Der mächtige UnternehmerInnenverband Cosep, der Ortega in seiner ersten Amtszeit vehement bekämpft hatte, ist längst zum Freund des Präsidenten geworden. Dieser lässt die wenigen grossen Firmen des Landes schalten und walten, wie sie wollen. Zwar kontrolliert Ortega über Albanisa das weitaus grösste Tankstellennetz des Landes und die Erdölimporte. Darüber hinaus aber habe er kein Interesse, die Wirtschaft des Landes zu dominieren, sagt Carlos Fernando Chamorro, einst Chefredaktor der 1998 eingestellten sandinistischen Parteizeitung «Barricada» und heute einer der profiliertesten Kritiker Ortegas. «Er ist sicher reich», sagt der Journalist. «Aber er ist wahrscheinlich nicht korrupt.»

Einzig ein Sektor der Wirtschaft scheint ihn zu interessieren: die Kommunikation. Über ihre Kinder hat sich die Familie ein Imperium aus vier landesweiten Fernsehsendern, vielen Radiostationen und etlichen Werbeagenturen zusammengekauft. Diese Propagandamaschine, so Chamorro, «dient der Absicherung seiner Macht». Daniel Ortega sei «ein tropischer Stalinist».

Innerhalb der FSLN ist Ortegas Macht längst unumstritten. Wer immer ihm widersprach oder gar selbst Führungsansprüche formulierte, wurde so lange mit einer Schmutzkampagne überzogen, bis er die Partei verliess. Selbst sandinistische Ikonen wie der Dichter und Priester Ernesto Cardenal sind längst aus der FSLN ausgetreten. Aus der einst neunköpfigen kollektiven Führung ist nur noch Bayardo Arce als Wirtschaftsberater des Präsidenten übrig geblieben. Parallel zu dieser «Säuberung» hat Murillo ein neues Netz junger und absolut ergebener Kader aufgebaut.

Die 65-jährige Präsidentengattin, eine Poetin mit ausgeprägter esoterischer Ader, dunklen Locken und stets papageienbunten Kleidern, ist das öffentliche Gesicht der Regierung. Sie hat eine tägliche Fernsehshow, in der sie Regierungsbeschlüsse verkündet und alles kommentiert, bis hin zum Wetter. Der Werbeslogan der Regierung (Christlich. Sozialistisch. Solidarisch) ist genauso von ihr wie die Parteifarbe Rosa, mit der vor ein paar Jahren das traditionelle Rot-Schwarz der Sandinistenflagge ersetzt wurde. Termine mit Regierungsmitgliedern gibt es nur über sie. Zum Präsidenten, einst ein zugänglicher Mann, lässt sie so gut wie niemanden mehr vor. Er selbst tritt nur noch selten öffentlich auf.

Krank und fest im Sattel

ÄrztInnen aus Ortegas Umfeld sagen hinter vorgehaltener Hand, er leide seit Jahren unter Lupus, einer seltenen Erkrankung des Immunsystems. Bei seinen wenigen Reden wirkt er nicht mehr so hellwach wie früher, spricht schleppend und oft mit langen Pausen. Er ist langsam geworden in seinen Bewegungen, Körper und Gesicht sind ein bisschen aufgeschwemmt. Man sagt, das komme vom Kortison.

«Über die Krankheit von Ortega gibt es viele Gerüchte, aber nichts Sicheres», sagt Carlos Fernando Chamorro. Der Präsident möge unkonzentriert erscheinen und abwesend, «aber er ist nicht verwirrt. Er gibt noch immer die Agenda des Landes vor und hat alles unter Kontrolle.» Dora María Téllez vergleicht ihn mit dem 2013 verstorbenen Hugo Chávez. Auch dieser habe, schon vom Tod gezeichnet, noch immer alles bestimmt, bis hin zu seinem Nachfolger. «Ortega wird das Präsidentenamt nur tot verlassen», sagt sie. Und dann werde Rosario Murillo seine Nachfolgerin.

Schwache Konkurrenz

Daniel Ortega läuft ein einsames Rennen: Bei Umfragen zur Präsidentschaftswahl am 6. November antworten rund zwei Drittel der Befragten, sie würden ihm die Stimme geben. Seine beiden Kontrahenten – der rechtsradikale ehemalige Contra-Rebell Máximo Rodríguez von der Konstitutionalistischen Liberalen Partei (PLC) und der rechte Agrarunternehmer und Zahnarzt José del Carmen Alvarado von der Unabhängigen Liberalen Partei (PLI) – kommen jeweils nicht einmal auf fünf Prozent.

Der Rest der WählerInnen wollte sich nicht äussern oder hat sich noch nicht entschieden. Bei der gleichzeitig stattfindenden Abgeordnetenwahl rechnet Ortegas sandinistische Befreiungsfront mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament.

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