5G-Mobilfunk: Grenzwerte fallen nicht vom Himmel

Nr. 19 –

Kaum jemand kennt die Internationale Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung. Ihre Empfehlungen freuen die Telekombranche – und sie verfügt auch bei der aktuellen 5G-Debatte in der Schweiz über Deutungshoheit.

Installation einer 5G-Antenne der Swisscom in Bern. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

5G – die fünfte Mobilfunkgeneration wird in diesem Jahr ausgerollt, so nennt sich das in der Telekombranche. Die Schweiz wird mit vielen neuen Mobilfunkantennen ausgestattet, damit man auch auf der Alp Videos und Musik streamen kann. Doch der Widerstand wächst, viele erleben das Ausrollen als Überrollen. Am Freitag findet in Bern eine nationale Kundgebung unter dem Motto «Stop 5G» statt. Eine der Hauptforderungen lautet, schweizweit ein 5G-Moratorium zu erlassen. Die Kantone Genf, Waadt und Jura haben schon eins verhängt. In Bern, St. Gallen, Schwyz und im Aargau sind entsprechende Vorstösse hängig.

Derweil versucht Swisscom-Chef Urs Schaeppi zu kontern. Er sagt, die Kantone hätten gar nicht das Recht, Moratorien zu verhängen. Sie verstiessen damit gegen Bundesrecht. Der Streit ist heiss. Es geht um viel Geld.

Das Geld

Die Swisscom hat für 196 Millionen Franken Frequenzen gekauft, Salt für 95 Millionen und Sunrise für 89 Millionen. Der Bund kassierte also bei der Versteigerung im Februar 380 Millionen Franken. Verständlich, dass die Telekomfirmen die Netze schnell bauen wollen, um die Investition reinzuholen.

Jeder Mobilfunkmast gibt sogenannte nichtionisierende Strahlung ab. Am günstigsten käme es für die Telekomfirmen, wenn der Grenzwert, der für die einzelne Mobilfunkanlage gilt, einfach erhöht würde. Dann könnten sie die bereits bestehenden Anlagen hochrüsten und müssten weniger neue bauen. Neue Antennen kosten und lösen oft Widerstand aus. «Je nachdem, ob die gesetzlichen Grenzwerte angepasst werden oder nicht, wird es mehr oder weniger Antennen benötigen», schreibt die Swisscom. Die Branche klagt, wenn die Grenzwerte nicht erhöht würden, könne sich 5G nicht wirklich entfalten. Schon vor geraumer Zeit wurde im Parlament ein Vorstoss platziert, der höhere Grenzwerte verlangt. Die Forderung scheiterte bislang am Ständerat.

Die Grenzwerte

Die ersten Grenzwerte für nichtionisierende Strahlung stammen aus dem militärischen Bereich, wo das Personal von Radaranlagen unter diversen Beschwerden litt. Das US-Militär setzte in den sechziger Jahren einen relativ willkürlichen Grenzwert von 100 Watt pro Quadratmeter (W/m²) fest. Er gründete auf der Idee, Strahlung würde den Körper vor allem durch die Erwärmung belasten. Andere Strahlungseffekte wurden nicht berücksichtigt. Der Grenzwert von 100 W/m² galt für beruflich exponiertes Personal, für die Normalbevölkerung setzte man keinen fest.

Interessanterweise war die Sowjetunion in diesem Bereich viel weiter. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg betrieben die Sowjets in Moskau intensiv Forschung mit nichtionisierender Strahlung, untersuchten ihr Radarpersonal und beschrieben früh das «Mikrowellensyndrom»: neurovegetative Störungen, Neurosen, Depressionen, Tagesmüdigkeit, Leistungseinbussen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen oder Herz-Kreislauf-Probleme. Die Sowjetunion setzte deshalb schon früh strenge Grenzwerte: Für Angestellte galt ein Limit von 0,1 W/m², für die Allgemeinbevölkerung 0,01 W/m².

Heute orientieren sich die meisten Behörden der Welt an der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP; «Iknirp» ausgesprochen) – ein privater Verein, der sich selber konstituiert. Sein Sekretariat residiert beim deutschen Bundesamt für Strahlenschutz in der Nähe von München. Die ICNIRP gibt Empfehlungen für Grenzwerte ab und hat dadurch enorm viel Macht. Der heute empfohlene Immissionsgrenzwert für die Normalbevölkerung liegt bei 10 W/m² – der Wert der Sowjets war also um den Faktor tausend tiefer.

Die Schweiz hält sich an die ICNIRP-Empfehlung. Allerdings hat sie für die einzelnen Anlagen einen tieferen Grenzwert, 0,1 W/m², festgelegt. Stehen mehrere Anlagen nebeneinander, gilt jedoch wie in der EU der Gesamtwert von 10 W/m².

Der ICNIRP-Grenzwert gilt als enorm hoch, weil er nur vor akuter Gewebeerwärmung schützt. Alle anderen Effekte – dass die Strahlung auch die Hirnströme oder den Stoffwechsel beeinflussen und krebsfördernd wirken kann – berücksichtigt der Grenzwert nicht. Dabei gibt es inzwischen eine ganz Reihe von hochkarätigen Studien, die diese Effekte belegen. Zum Beispiel die berühmte Ramazzini-Studie: WissenschaftlerInnen hatten Ratten über längere Zeit Mobilfunkstrahlung ausgesetzt und konnten nachweisen, dass die Tiere signifikant häufiger an Krebs erkrankten. Ein Beratungsgremium der Internationalen Agentur für Krebsforschung – ein Gremium der Weltgesundheitsorganisation – fordert inzwischen, das Krebsrisiko von Funkstrahlung müsse aufgrund der neuen Studien prioritär neu beurteilt werden.

Der «unabhängige» Experte

Vor kurzem hat das Recherchenetzwerk Investigate Europe die ICNIRP genauer angeschaut. Der Berliner «Tagesspiegel» präsentierte die Ergebnisse und kommt zum Schluss: Die ICNIRP agiere als Kartell, das systematisch Kritik verhindere. Wer der Frage nachgehe, warum die WarnerInnen kaum wahrgenommen würden, treffe auf ein verblüffendes Phänomen: «Die Mitglieder der ICNIRP sind gleichzeitig auch in allen zuständigen Institutionen tätig und bestimmen so den offiziellen Diskurs.»

Der ICNIRP hat ein Schweizer Mitglied: Martin Röösli. In den Medien gilt er als unabhängige Koryphäe und ist überall präsent, von der «Arena» über den «Kassensturz» bis hin zu «Nau». Seine Botschaft – stets freundlich und einfühlsam vorgebracht – ist immer dieselbe: «Es gibt keine Indizien dafür, dass 5G stärkere oder andere Auswirkungen hat als bisherige Netze» («SonntagsZeitung»).

Röösli wird jeweils als Professor und Mitarbeiter des Tropeninstituts Basel vorgestellt. Dass er ICNIRP-Mitglied ist, wird nicht erwähnt.

Er präsidiert aber auch die Beratende Expertengruppe NIS (Berenis), die fürs Bundesamt für Umwelt arbeitet. Ausserdem sitzt er in der vom Bund mandatierten Arbeitsgruppe «Mobilfunk und Strahlung». Sie soll bis im Sommer einen Bericht «über Optionen im Hinblick auf den zukünftigen Ausbau der Mobilfunknetze» verfassen.

Die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) beschäftigen sich seit langem intensiv mit den Mobilfunkgrenzwerten. AefU-Präsident Peter Kälin sagt zum umstrittenen Verein: «Die Herangehensweise der ICNIRP basiert auf dem sogenannten Schädlichkeitsbeweis. Das bedeutet, dass eine Technologie weiter genutzt werden kann, obwohl es schon deutliche Hinweise gibt, dass sie die Gesundheit schädigt. Erst wenn der wissenschaftliche Beweis für die Schädlichkeit hundertprozentig erbracht ist, wird die Nutzung stark eingeschränkt oder verboten. Das kann Jahrzehnte dauern – wie zum Beispiel beim Asbest, beim Tabak oder beim Glyphosat.»

Seit 1998 halte nun die ICNIRP an ihrem thermischen Dogma fest, nach dem die Mobilfunkstrahlung den Körper nur wegen des Wärmeeffekts belaste. Kälin sagt: «Dass man wegen der vielen anderen, ernst zu nehmenden Effekte eigentlich den Grenzwert vorsorgend senken müsste, ignoriert die Kommission.»

Grundsätzlich könnte sich der Verein kritischer positionieren. Aber gerade weil er seine Mitglieder selber rekrutiert, dürfte er abweichende Meinungen meiden.

Wem dienen?

Das Prinzip Schädlichkeitsbeweis kollidiert konkret mit dem Umweltschutzgesetz. Darin steht: «Im Sinne der Vorsorge sind Einwirkungen, die schädlich oder lästig werden könnten, frühzeitig zu begrenzen.» Demnach hätten Menschen, die sich durch Mobilfunkstrahlung beeinträchtigt fühlen, einen Anspruch darauf, mindestens in ihrer Wohnung nicht davon behelligt zu werden – egal ob die Gefährlichkeit restlos nachgewiesen ist.

Die ExpertInnengruppe Berenis hat die Aufgabe, das Bundesamt für Umwelt (Bafu) in diesem Sinne zu beraten: Sie muss feststellen, ob die ICNIRP-Immissionsgrenzwerte genügend schützen oder ob der Bund den Grenzwert verschärfen müsste. «Berenis agiert im Geist der Vorsorge, wie das Umweltschutzgesetz das vorschreibt», konstatiert Kälin. «Die ICNIRP beschäftigt sich ebenfalls mit der Frage der Gefährlichkeit – aber sie tut es im wirtschaftsfreundlichen Geist des Schädlichkeitsbeweises.»

Nun sitzt Röösli in beiden Gruppen, die diametral unterschiedliche Geisteshaltungen repräsentieren. Vorsorge betreiben und gleichzeitig die Wirtschaft zufriedenstellen – das ergibt einen unlösbaren inneren Konflikt. Der liesse sich nur lösen, wenn Röösli eine der beiden Institutionen verlassen würde. Ansonsten könnte es ihm passieren, dass er als Verteidiger der Telekombranche wahrgenommen wird.