Türkischer Angriffskrieg: «Erdogan verkalkuliert sich»

Nr. 42 –

Es sind vor allem innenpolitische Erwägungen, die den türkischen Präsidenten zur Invasion gegen die KurdInnen in Nordsyrien veranlasst haben – so die These der Nahostexpertin Elmira Bayrasli. Im Interview erläutert die Wissenschaftlerin, warum die USA bei diesem Spiel mitmachen.

WOZ: Elmira Bayrasli, nach einem Entscheid von US-Präsident Donald Trump ziehen die US-Truppen aus Nordsyrien ab und liefern damit die Kurdinnen und Kurden, ihre einstigen Verbündeten, den türkischen Invasoren aus. Folgt Trump der Devise «They did their job and now they are fired»?
Elmira Bayrasli: Trump kümmert sich um niemanden als sich selbst. Aber das Problem reicht weiter zurück; es liegt nicht nur an Trump, sondern insgesamt an der Politik des Weissen Hauses in den vergangenen Jahren. Schon die Präsidenten George W. Bush und Barack Obama handelten nicht besonders weitsichtig, was diese Region angeht. Jetzt haben wir zusätzlich einen Präsidenten, der den Nahen und den Mittleren Osten nicht nur nicht versteht, sondern überhaupt keine aussenpolitische Strategie hat. Trump spricht seit langem davon, US-Soldaten aus der Region abziehen zu wollen, ohne eine langfristige Vision für die Weltregion zu haben. Wenn er erst einmal etwas im Kopf hat, dann lässt er nicht wieder davon ab und hört weder auf seine Berater noch auf das Aussen- oder das Verteidigungsministerium und den Geheimdienst. Dieser Präsident handelt impulsiv: Er entscheidet aus dem Moment heraus.

Trump hat also überhaupt keine Vorstellung von dieser politisch und gesellschaftlich sehr sensiblen Region?
Ich kann Trump natürlich nicht in den Kopf schauen, aber es scheint mir, dass er sich immer von der Person beeinflussen lässt, mit der er zuletzt telefoniert hat. Wenn diese Person besonders dominant und autoritär den «starken Mann» markiert, dann kann sie Trump noch einfacher überzeugen. An jenem Sonntag, an dem er den Truppenabzug aus Nordsyrien verkündete, war sein letzter Gesprächspartner am Telefon eben der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Durch die Invasion wurden Hunderttausende Kurden und Kurdinnen zur Flucht gezwungen. Ist das für Trump einfach ein hinzunehmender Kollateralschaden?
Schauen Sie sich an, wie er mit den Flüchtlingen an seinen eigenen Grenzen umgeht: Tausende Familien sind da gestrandet, weil sie vor Armut und Kriminalität geflohen sind – und er hat die Familien einfach auseinandergerissen. Wer zu so etwas in der Lage ist, der kümmert sich doch nicht um Flüchtlinge in anderen Ländern. Ich bin nicht überrascht von dem, was er den Kurden antut.

Was bedeutet die türkische Invasion insgesamt für Kurdinnen und Kurden in der Türkei und in Syrien?
Für sie bedeutet das natürlich nichts Gutes, und die Invasion hat nationale wie internationale Auswirkungen. Syrien war schon zuvor zerstört, und ich weiss nicht, wie das Land zurück in den Zustand von vor dem Beginn des Bürgerkriegs 2011 gelangen könnte – eigentlich ist das unmöglich. Die Türkei wiederum hat eine lange tragische Geschichte mit ihrer kurdischen Minderheit, und wir reden hier immerhin von 12 bis 18 Millionen Kurdinnen und Kurden, die im Land leben. Diese Tragödie tritt jetzt wieder deutlich zutage. Die türkische Regierung ist unfähig, eine Lösung für die kurdische Frage zu finden, die Klagen der kurdischen Minderheit ernst zu nehmen und mit der PKK zu verhandeln. Doch es muss auch festgehalten werden, dass Erdogan mit dem Einmarsch auf die Auseinandersetzung mit der PKK reagiert, die für die EU, die USA und für die Türkei eine Terrororganisation ist.

Sie folgen damit Ankaras Argumentation, die besagt, dass man in Nordsyrien gegen die kurdischen YPG-Kämpferinnen und -Kämpfer vorgeht, die mit der PKK verbunden sind. Allerdings hat die YPG bisher keine Ziele in der Türkei angegriffen. Warum also ein Angriff auf eine Organisation im Nachbarland, die die Grenze bisher nicht überschritten hat?
Es stimmt, die YPG hat bisher auf lokalem Boden gehandelt, aber sie steht in Verbindung mit der PKK. Natürlich macht Erdogan einen Fehler, er muss sich mit den Kurden zusammensetzen und die Friedensverhandlungen wiederaufnehmen. Er muss verstehen, dass diese Menschen Unabhängigkeit und Menschenrechte und sich selbst repräsentieren wollen. Aber die Invasion ist auch sehr getrieben von den innenpolitischen Problemen, die der Präsident hat. Es geht um seine politische Stellung im Land. Er und seine AKP haben bei den letzten Kommunalwahlen im Frühling eine üble Niederlage erlitten. Die AKP hat Ankara und vor allem Istanbul verloren: die grösste und wichtigste Stadt sowie der Finanzplatz des Landes. Erdogan ist beunruhigt über den fehlenden Rückhalt in der Bevölkerung und die anhaltende Wirtschaftskrise. Immerhin wurde die AKP seit 2002 lange wegen ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik gewählt.

Es sind also hauptsächlich innenpolitische Erwägungen, die Erdogan zu dieser Invasion veranlasst haben?
Es ist auch die Gelegenheit, die ihm die Trump-Regierung verschafft hat und die er nun nutzt. Schon die Obama-Regierung hatte keinen richtigen Fahrplan für ihre Syrienpolitik, für Trump gilt das noch viel mehr. Trump aber sieht, wie kriegsmüde die US-Amerikaner sind und dass Washington kein starker Player mehr in dieser Region ist. Ausserdem wird im nächsten Jahr in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt, da muss Trump seine Klientel bedienen.

Sie haben eben die ökonomischen Probleme der Türkei angesprochen: Das Land befindet sich in einer Wirtschaftskrise, Ankara muss mit Widerstand der kurdischen Kämpfer in Nordsyrien rechnen, der Krieg könnte also für die Türkei andauernd und verlustreich werden. Spricht das nicht eigentlich gegen ein solches militärisches Engagement?
Die rund 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, sind ein nicht zu unterschätzendes Problem für Erdogan geworden. Am Anfang wurden sie von der Türkei noch willkommen geheissen, doch angesichts der eigenen politischen und wirtschaftlichen Krise werden die Türken immer wütender auf die Syrer. Es braucht eben immer einen Sündenbock, und das sind in diesem Fall auch die Syrer. Mit der Errichtung eines «Sicherheitskorridors» in Nordsyrien will Erdogan einen Raum schaffen, in den er die Syrer abschieben kann. Hier könnten dann türkische Firmen eine Infrastruktur aufbauen, was wiederum der heimischen Wirtschaft helfen würde.

Gibt es eigentlich schon konkrete Pläne zum «Sicherheitskorridor»? Bisher scheint das doch eher nebulös.
Ich zumindest habe bisher von keinen konkreten Plänen gehört.

Erdogan fordert von der Europäischen Union finanzielle Unterstützung für seine Umsiedlungspläne. Er hat nun wieder damit gedroht, die Grenzen zu öffnen und die Flüchtlinge in Richtung Europa ziehen zu lassen.
Er ist ein sehr guter Taktierer, er kennt seine Stärken und Schwächen – und auch die der Europäischen Union. Erdogan weiss, dass sich Europa vor weiteren Flüchtlingen fürchtet, weil das politisch Schaden anrichten würde. Er hat verstanden, dass er bei diesem explosiven Thema am längeren Hebel sitzt. Er handelt da sehr machiavellistisch, und er geht Konfrontationen nicht aus dem Weg.

Sie trauen ihm also zu, dass er die Grenzen öffnet?
Das ist eine Hypothese, die ich nicht eindeutig beantworten kann. Aber ich halte es prinzipiell für möglich, dass Erdogan dies tun könnte.

Die Invasion heisst «Friedensquelle». Faktisch aber will Erdogan doch gar keinen Frieden, sondern Krieg.
Er will beides, vor allem will er Frieden nach eigenen Regeln. Er verkalkuliert sich hier aber, denn er denkt, die Invasion werde ihm innenpolitisch helfen. Doch Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei werden ihn nicht mehr wählen, wie sie es zuvor noch getan haben.

Nahostexpertin Elmira Bayrasli Foto: Jason Gardner

Erste europäische Länder haben nun ihre Waffenlieferungen in die Türkei gestoppt. Bringt das etwas?
Das wird die Türkei nicht von einem bewaffneten Krieg abhalten. Die Europäer sind immer falsch mit der Türkei umgegangen. Europa und die USA müssten die Türkei miteinbeziehen und eine Lösung finden, die die volatile Situation in Nordsyrien einschliesst. Überhaupt müssen Europa und die USA den Nahen Osten als Ganzes einbeziehen, nicht nur einzelne Länder. Gegenwärtig hat der Westen dagegen keine kohärente Politik für den Nahen Osten. Europa müsste die Türkei auf gleicher Augenhöhe behandeln und nicht bestrafen.

Expertin für Internationales

Elmira Bayrasli ist Professorin für internationale Angelegenheiten am New Yorker Bard College. Von 1994 bis 2004 war sie Mitarbeiterin im US-Aussenministerium, wo sie insbesondere für Madeleine Albright und Richard Holbrooke tätig war. Zu ihren Schwerpunkten zählen die Türkei und «Aussenpolitik in Zeiten des Internets».