Angriff auf Rojava: Der zerplatzte Traum
Zwischen Märtyrerkult und Desillusionierung: Wie Familie Gulo in Kamischli für ein selbstverwaltetes und unabhängiges Nordsyrien kämpft.
Helelije ist ein altes kurdisches Viertel in Kamischli, einer der drei grössten Städte in der selbstverwalteten Region Nordostsyriens. Ein Wohnhaus reiht sich ans andere, ebenerdig und ohne Obergeschoss, aber mit Innenhof, aus dem oft ein Baum ragt und in dem Hühner gackern. Die Aussenwände sind traditionell mit braunem Lehm verputzt. Allgegenwärtig sind Bilder und Graffiti, die den heroischen Kampf der kurdischen YPG-Miliz beschwören. Das Stadtviertel ist eine Hochburg des kurdischen Widerstands. Und das schon lange bevor am 9. Oktober die türkische Invasion begann – mit dem Ziel, die «Terrorbande» YPG zu zerschlagen und eine «Sicherheitszone» in Nordostsyrien einzurichten.
In Helelije lebt auch Familie Gulo. Sie ist hier bekannt und respektiert, weil sie zu den Familien mit den meisten «MärtyrerInnen» zählt. Im Wohnzimmer hängt ein riesiges Plastikplakat mit Porträts von zehn Männern: Väter, Söhne, Onkel und Cousins. An der gegenüberliegenden Wand ein Bild der gefallenen Tochter und dann noch eine Reihe Fotos von elf getöteten FreundInnen. Der Raum wirkt wie ein Schrein zum Gedenken an die Toten.
Halsketten und Heldengeschichten
«Wir sind stolz auf sie und werden sie nie vergessen», sagt Naja Gulo, die im Schneidersitz auf einer Matratze am Boden sitzt. «Auch unsere Freunde sind für uns wie Söhne und Brüder.» Die 62-Jährige, die einen langen, blauen Schal als Kopfbedeckung trägt und diese in Syrien so populären superdünnen Zigaretten raucht, ist das Oberhaupt der Familie.
Sie zeigt auf das Gesicht eines Mannes rechts oben auf dem Märtyrerplakat hinter ihr. «Das ist mein Mann Mustafa, der 1991 in den Sirvanbergen in der Türkei gestorben ist», sagt sie und beginnt, seine Heldengeschichte zu erzählen. «Mustafa und ein anderer Kamerad waren von insgesamt fünfzehn Mann als Einzige noch am Leben, nachdem sie in einen Hinterhalt der türkischen Armee geraten waren», berichtet sie fast gebetsmühlenartig. Man merkt, dass sie diese Geschichte über die Jahre öfter genau so erzählt hat. «Mein Mann war schwer verwundet und hätte nicht überlebt. Er bat noch um eine letzte Zigarette, bevor er seinem Kameraden Feuerschutz gab und ihm so die Flucht ermöglichte.»
Gulos Mann starb damals für die PKK, die in der Türkei verbotene kurdische Arbeiterpartei. Die PKK kämpft seit drei Jahrzehnten für das Selbstbestimmungsrecht der KurdInnen gegen den türkischen Staat. 40 000 Menschen fielen dem Konflikt zum Opfer, die meisten davon waren kurdische ZivilistInnen. Heute wird die PKK auf den Terrorlisten der meisten europäischen Länder (mit Ausnahme der Schweiz), der USA und anderer Länder geführt.
«Das ist doch vollkommener Blödsinn», ruft Salah Gulo verärgert. «Ob PKK oder YPG – wir sind keine Terroristen.» Der Schwiegersohn von Naja Gulo, Salah Gulo, ist rechtzeitig zum Tee gekommen, den seine Tochter nun im Wohnzimmer serviert. Sie trägt ein goldenes Herz an einer Halskette, mit den Fotos ihrer beiden Brüder, die als YPG-Kämpfer starben und deren Porträts ebenfalls auf dem grossen Plastikposter an der Wand zu sehen sind.
«Wir haben der PKK in der Türkei geholfen, und nun hilft sie uns in Syrien», erklärt Salah Gulo. «Da gibt es keinen Unterschied, wir sind Brüder und kämpfen für die gleiche Sache.» Dem Mittvierziger ist es egal, dass das nicht der offiziellen Parteilinie entspricht. Ganz besonders nicht in dieser Situation, in der die türkische Armee und ihre überwiegend islamistischen Hilfstruppen der syrischen Rebellen immer weiter vordringen.
Die YPG sind stets bemüht, sich als unabhängige, nationale Organisation zu präsentieren. Man will kein Ableger der PKK sein – um nicht ebenso den Stempel einer Terrororganisation aufgedrückt zu bekommen. Die Realität ist aber eine andere. PKK-OffizierInnen bekleiden innerhalb der YPG nach wie vor wichtige Positionen, auch wenn sie in der Öffentlichkeit nicht mehr so präsent sind wie in den Anfangsjahren der Revolution 2011. Das Porträt Abdullah Öcalans, eines Mitbegründers der PKK, ist dagegen in Nordsyrien allgegenwärtig und darf in keinem YPG-Büro fehlen. Öcalan gilt als der ideologische Übervater der PKK und der YPG. Der 71-Jährige sitzt seit 1991 in türkischer Haft und hat inzwischen seiner einst marxistisch orientierten Partei ein anarchistisches Update verordnet – den «demokratischen Konföderalismus».
Die KurdInnen, die über die Türkei, Syrien, den Irak und den Iran verstreut sind, sollen nicht mehr für einen eigenen Staat, sondern für autonome Gebiete in ihren jeweiligen Staaten kämpfen. Und diese Gebiete sollen föderal und basisdemokratisch strukturiert sein. Nach diesen Prinzipien entstand die autonome Selbstverwaltung Rojava. Den «neuen Gesellschaftsentwurf» hat Öcalan bei Murray Bookchin abgeschaut, dem 2006 verstorbenen US-Anarchisten.
Erdogans Bevölkerungspolitik
Auf den Tod seiner beiden Söhne angesprochen, verliert Salah Gulo kein Wort des Bedauerns oder der Trauer. «Der eine starb im Kampf. Der andere war mit seiner Einheit auf dem Weg nach Hause, als eine am Strassenrand versteckte Bombe explodierte», erzählt er, so als sei es das Normalste der Welt. Auch seine Frau, die gegenüber auf der Matratze beim Fenster sitzt und schweigsam die dreimonatige Tochter im Arm hält, zeigt keinerlei Regung.
Das Märtyrertum scheint in die Genetik der Familie eingebrannt zu sein. Salah Gulo und seine Frau haben heute vier lebende Kinder, darunter einen Sohn. «Wenn es so weit ist, können sie zum Militär gehen und kämpfen», meint Salah. «Uns Kurden bleibt nichts anderes übrig», fügt er hinzu und zuckt kurz mit den Schultern. «Egal wo, niemand will uns. Schon gar nicht die Türkei, die uns jetzt schon wieder zu vertreiben versucht.»
Die Veränderung der Demografie ist ein wichtiger Teil des Invasionsplans des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er will in der sogenannten Sicherheitszone mindestens zwei Millionen arabisch-syrische Geflüchtete aus der Türkei ansiedeln und für sie sogar neue Städte aus dem Boden stampfen. «Sehen Sie, wir Kurden wollen nur in Freiheit und in Frieden leben», platzt es laut aus Salah Gulo heraus. «Aber die Türkei lässt uns nicht. Selbst wenn wir auf den Mond gehen würden, käme die Türkei hinterher, um uns wieder zu vertreiben.»
Man merkt ihm an, wie frustriert und verärgert er ist. Denn der Traum von einem autonomen, selbstverwalteten Nordsyrien geht unausweichlich dem Ende entgegen. Dabei schien er schon Wirklichkeit geworden zu sein, nachdem der sogenannte Islamische Staat (IS) im März nach fünf Jahren Krieg endgültig besiegt war. Das Projekt Rojava garantierte den KurdInnen wie auch allen anderen ethnischen und religiösen Minderheiten ihre politischen und kulturellen Rechte. Kurden, Assyrerinnen, Armenier und Araberinnen sollten friedlich in basisdemokratischen Strukturen zusammenleben.
Aber dann zerplatzte der grosse Traum, als US-Präsident Donald Trump per Telefon seinem Amtskollegen Erdogan überraschend grünes Licht für die türkische Invasion gab und die stationierten US-Truppen aus der Schusslinie abzog. Mittlerweile haben die türkische Armee und ihre syrischen Freischärler die Grenzstädte Tal Abdschad (kurdisch: Gire Spi) und Ras al-Ain (Sere Kaniye) erobert und rücken dort, trotz des Waffenstillstands, immer weiter vor.
Weit über 200 Menschen wurden getötet, mehr als 1000 verletzt, und 200 000 mussten flüchten. Aber nun plagt die BewohnerInnen Rojavas noch eine ganz andere Sorge als die der türkischen Invasion: Es ist die Angst vor dem Assad-Regime, das die autonome Selbstverwaltung nach Beginn der türkischen Offensive um Hilfe gerufen hat. Nun ist die Armee des syrischen Diktators Baschar al-Assad entlang der türkisch-syrischen Grenze und an strategisch wichtigen Orten stationiert.
Risiko Assad
«Wir hatten doch keine andere Wahl», sagt Naja Gulo und nippt an ihrem Teeglas. «Uns drohte die Vernichtung durch die Türkei, und das Regime ist nur präsent, um die Invasion zu stoppen», betont sie immer wieder. Erst nach mehreren Nachfragen räumt sie ein, dass das Regime ein unkalkulierbares Risiko sei. Schliesslich hat es Hunderttausende Oppositionelle inhaftiert, viele von ihnen gefoltert und exekutiert. «Ja, man kann dem Regime nicht trauen», sagt die ältere Frau nachdenklich. «Der syrische Geheimdienst hat vor Jahren zwei meiner Söhne, nur weil sie Kurden sind, verhaftet und für sechs Monate ins Gefängnis gesteckt», erinnert sie sich. «In unserer Situation weiss man nicht, ob man zornig oder traurig sein soll.» Sie wischt sich kurz den Schweiss von der Stirn und zündet sich eine neue ihrer dünnen Zigaretten an. «Zuerst verraten uns die USA mit ihrem Abzug, dann die türkische Invasion mit all den Toten und Verwundeten, unter ihnen viele Kinder, und nun kommt auch noch das Regime zurück.» Die 62-jährige Frau, die schon so viel an Leid und Elend erlebt hat, wirkt ratlos.
Ihrem Schwiegersohn Salah Gulo sind diese Gedanken scheinbar zu schwermütig. «Egal wie es weitergeht, wir kämpfen», sagt er. «So wie wir das immer gemacht haben.» Er steht abrupt auf und führt uns über den Innenhof in ein Nebenzimmer. In einem Schrank stehen sechs Kalaschnikows und Munitionswesten mit Magazinen. Salah Gulo nimmt eines der Gewehre in die Hand und lächelt, wie zum Beweis, dass er kein Mann der leeren Worte, sondern der Taten ist.
KritikerInnen verhaftet
Wer in der Türkei in den vergangenen Wochen den Angriffskrieg in Nordsyrien kritisierte, bekam die volle Härte des Regimes zu spüren: Laut einem Bericht von Amnesty International sollen Hunderte des «Terrorismus» beschuldigt und Ermittlungen, Verhaftungen und Reiseverboten ausgesetzt worden sein. Von der Repressionswelle besonders betroffen waren demnach Journalistinnen und Social-Media-Nutzer, DemonstrantInnen sowie Mitglieder der linken HDP. Die türkische Regierung habe die Militäroffensive als Vorwand genutzt, um kritische Meinungen zum Schweigen zu bringen, schreibt die NGO.
Zuletzt war aus der Türkei aber auch Erfreuliches zu hören: Nach über drei Jahren in Haft kamen am Montag der Autor Ahmet Altan und die Journalistin Nazli Ilicak unter Auflagen frei.