Generalstreik in Frankreich: Alle gegen einen

Nr. 50 –

Seit jeher träumt die französische Linke vom Zusammenfliessen der sozialen Kämpfe im Land. Die Wut auf Macrons Rentenreform ist in der Bevölkerung so gross, dass der Traum so greifbar scheint wie seit langem nicht.

Es ist kurz nach fünf Uhr am Dienstagmorgen, die Temperatur liegt knapp über null Grad. Dick eingepackt stehen etwa hundert Menschen vor dem Zaun des Busdepots in Ivry-sur-Seine, einer Vorstadt im Süden von Paris. Eine Palette wird zerlegt und in einer Tonne in Brand gesteckt, um für etwas Wärme zu sorgen. Aus einem Lautsprecher ertönt «Hells Bells» von AC/DC, Rauchfackeln hüllen die Szene in blauen und roten Nebel.

Unter den Streikenden befinden sich Lehrer, Gemeindeangestellte und Studentinnen, auch ein Dutzend Autonome sind gekommen. Gemeinsam wollen sie verhindern, dass die Busse das Depot verlassen. Die Angestellten der Verkehrsbetriebe RATP bedanken sich mit Kaffee, Orangensaft und Keksen; sie hatten um diese Unterstützung gebeten, weil ihnen die Kündigung droht, wenn sie ihren Arbeitsplatz selbst bestreiken. «On est là! Macron si tu le veux ou pas!», klingt es aus einem Lautsprecher: Sie sind hier, ob es dem französischen Präsidenten gefällt oder nicht. Gegen 8.30 Uhr fährt die Polizei vor, drängt die Menge vorsichtig zurück und lotst dann fünf Busse aus dem Depot.

Ist es diesmal anders?

Es ist ein Kräftemessen, wie es seit dem Beginn des Generalstreiks vor einer Woche überall in Frankreich zu beobachten ist. Eine ganze Reihe von Berufsgruppen, allen voran die EisenbahnerInnen und Angestellte der Pariser Verkehrsbetriebe, haben ihn ausgerufen. Unbefristet.

Am Montag vor dem Streik im Busdepot findet in Ivry eine spontane Versammlung statt, an der kommende Aktionen diskutiert werden. «Macron will uns mit ein paar Eingeständnissen abspeisen», warnt Loïc Rondeau, der Vorsteher der lokalen Sektion der CGT (Confédération générale du travail), der grössten Gewerkschaft des Landes. Hier in Ivry, das seit jeher als «rote Vorstadt» gilt, kann sich die CGT auf breite Unterstützung verlassen. «Aber wir akzeptieren nur eine gänzliche Abkehr von der Rentenreform!», ruft Rondeau den Anwesenden zu. Ein Mann um die fünfzig meldet sich zu Wort: Er sei nicht nur Gewerkschafter, sondern sei auch von Anfang an bei der Gelbwestenbewegung dabei gewesen. «Bei der letzten Demo hat uns die Polizei daran gehindert, zu euch zu stossen. So soll die Gewerkschaftsbewegung von den Gelbwesten getrennt werden, dabei führen wir denselben Kampf!»

Die Angst der Regierung vor dem grossen Zusammenschluss aller Berufsgruppen, verschiedener Bevölkerungsteile und unterschiedlicher politischer Lager ist immens. Schliesslich träumt die französische Linke seit jeher von der «convergence des luttes», dem Zusammenfliessen unterschiedlicher Kämpfe. Bereits seit Monaten machen Krankenhausangestellte, Feuerwehrleute und BeamtInnen ihrem Unmut auf der Strasse Luft. «Wir müssen die Leute zusammenbringen», sagt der dreissigjährige Gewerkschafter Clément, «auch jene, die eigentlich isoliert sind, die sonst nicht mitstreiken. Leute aus der Privatwirtschaft.» Deswegen habe man heute ein Einkaufszentrum besucht und dort Angestellte über die Streikforderungen aufgeklärt. Seine Kollegin Stéphanie, die in der städtischen Bibliothek arbeitet, fügt an: «Wir müssen in alle Schulen gehen, Flugblätter verteilen. Die Lehrer könnten am Mittwochnachmittag zu uns stossen, wenn sowieso kein Unterricht stattfindet.»

Neben der CGT zeigen auch die meisten anderen Gewerkschaften Durchhaltevermögen, solange noch keine genauen Informationen über die Details der Reform bekannt sind. Auch nach den Zugeständnissen, die Premierminister Édouard Philippe am Mittwochmorgen ankündigte, bleibt für die Streikenden die gänzliche Abkehr von der Reform das oberste Ziel. In ersten Reaktionen forderte die EisenbahnerInnengewerkschaft, den Streik gar auszuweiten. Das bestehende System mit seinen 42 verschiedenen Rentenregimen sei so ungerecht wie kompliziert, argumentieren hingegen Präsident Emmanuel Macron und seine MinisterInnen, weil es bestimmten Berufsgruppen wie etwa den EisenbahnerInnen oder den Angestellten der Pariser Oper zu viele Privilegien einräume. Die geplante Reform sieht stattdessen ein Punktesystem vor, in dem sich die Rente künftig nach der Beitragsdauer richtet und Anreize bieten soll, später als heute üblich in Rente zu gehen.

Mit der Vereinheitlichung und der Bemessung nach Punkten, so finden hingegen die Streikenden, drohen beispielsweise jene bestraft zu werden, die Pausen in ihrer Erwerbstätigkeit einlegen – etwa weil sie Kinder bekommen oder zeitweilig arbeitslos sind. Bevorteilt würden hingegen jene, die bereits im Berufsleben ein gutes Auskommen hatten und zumeist über Vermögen und Eigentum verfügen.

Zwar stellt die Regierung eine Mindestrente von tausend Euro in Aussicht in der Hoffnung, dass Geringverdienende in der Reform eine Verbesserung sehen. Die Wut dämmen soll auch eine sogenannte Grossvaterklausel, der zufolge das neue System erst in Jahrzehnten vollständig in Kraft treten und nur für die Jahrgänge ab 1975 gelten soll. Den FranzösInnen ist jedoch klar: Über kurz oder lang sollen sie länger arbeiten. Aber ist das gerecht, wenn sie am Ende auch noch weniger Rente bekommen? Viele befürchten genau das. Besonders besorgt sind nicht zuletzt die vielen prekär Beschäftigten, die in Teilzeit arbeiten oder selbstständigerwerbend sind. Mit dem neuen Punktesystem würde sich ihre Prekarität im Alter noch verschärft fortsetzen.

Über Ivry schwebt der Geist von Maurice Thorez, dem einstigen Generalsekretär des Parti Communiste (PC). Eine Schule ist nach ihm benannt, eine Avenue und auch ein Park tragen seinen Namen. Thorez, der schon im Alter von zwölf Jahren in einem Bergwerk schuftete und dessen politische Laufbahn im hiesigen Wahlkreis begann, prägte einen Spruch, der auch von PolitikerInnen gerne zitiert wird: «Man muss einen Streik auch beenden können.» Üblicherweise unterschlagen sie aber den zweiten Teil des Zitats: «Wenn man den Sieg bei den entscheidendsten Forderungen erlangt hat.»

Die Abkehr von der Rentenreform ist die entscheidende Forderung dieses Generalstreiks. Dass überhaupt eine entscheidende Forderung vorliegt, unterscheidet ihn von vielen anderen Protesten der letzten Monate und Jahre: Als etwa 2016 vornehmlich junge Menschen in der sozialen Bewegung Nuit debout gegen die von François Hollande geplanten Arbeitsrechtsreformen protestierten, gab es zwar viele Ideen für mehr demokratische Partizipation, aber es gab keine einheitlichen Forderungen. Ebenso diffus erschien vielen FranzösInnen, trotz anfänglicher Sympathien, die Gelbwestenbewegung: Diese wetterte gegen vieles, konnte aber nicht zuletzt wegen fehlender Führungsfiguren nicht ernsthaft mit der Regierung über politische Massnahmen verhandeln.

«Keine rassistischen Lösungen»

Diesmal sind die Karten neu verteilt, insbesondere weil die Gewerkschaften vereint vorneweg gehen. Sie haben zwar weit weniger Mitglieder als in anderen Ländern, dafür besitzen sie die Fähigkeit, das öffentliche Leben lahmzulegen. Nicht nur den Verkehr, sondern auch Schulen, Treibstofflager und Raffinerien. Sollte sich der Streik weiter ausdehnen, wird es zunehmend ungemütlich: für die Wirtschaft genauso wie für die Regierung. Dass sich aber auch die Rechtsextreme Marine Le Pen hinter die CGT stellt, heizt den Kampf um die politische Deutungshoheit dieser Mobilisierung an. Gerade mit Blick auf die Gemeindewahlen im März, die auf ein Duell zwischen den Parteien Macrons und Le Pens hinauslaufen dürften, will Letztere von den verhärteten Fronten profitieren. Die CGT würde auf Le Pens Rückhalt gerne verzichten, selbst wenn sich damit mehr Menschen auf die Strasse bringen liessen. So sagte es zumindest CGT-Generalsekretär Philippe Martinez gegenüber dem Fernsehsender France 2: «Die Lösungen von Menschen, die Rassisten sind, heissen wir in den sozialen Bewegungen nicht willkommen.»

Am Dienstagnachmittag machen sich von Ivry sechs Busse auf in Richtung Innenstadt, wo erneut demonstriert wird, über Berufsgruppen und Altersgrenzen hinweg. Die viel beschworene «convergence des luttes», sie scheint in Frankreich derzeit so nah wie noch nie. Was aber, wenn die Stimmung doch noch kippt? Wenn die Einschränkungen durch den Streik die Sympathien in der Bevölkerung zugunsten von Macrons Plänen schwinden lassen? Noch scheint der Wille zum Durchhalten gross. «Wir brauchen euch alle!», ruft in Ivry-sur-Seine ein Busfahrer unter dem Applaus der Zuhörenden. «Nur wenn wir zusammenhalten, kriegen wir diesen verdammten Macron klein!»