Frankreich: Schlaflose Nächte für Macron
Zur Hälfte geschafft! Das denken sich inzwischen viele FranzösInnen. Vor zweieinhalb Jahren wählte das Land mit Emmanuel Macron einen neuen Präsidenten. Einen Staatschef à la Justin Trudeau in Kanada – um die vierzig, cool, modern, tatkräftig. Einen, der selbst dem US-amerikanischen Präsidenten die Stirn bietet. Mit dem Slogan «Make Our Planet Great Again» machte er sich zum Vorreiter in Sachen Ökologie – und alle Trump-GegnerInnen lagen ihm zu Füssen. Im Sommer erst überraschte Macron vor der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf, als er einen «verrückt gewordenen Kapitalismus» geisselte und stattdessen eine «soziale Marktwirtschaft mit einem Platz für jeden» forderte, um nicht «die extreme Rechte zu stärken».
Macron: Umweltschützer, Hüter der sozialen Marktwirtschaft, Bollwerk gegen Rechts. Der Mann, von dem alle progressiven Nationen träumen? Da gibt es den Blick von aussen – und die Wahrnehmung im Inneren. Da gibt es seine Worte – und die Fakten.
Für seinen Premierminister Édouard Philippe hat Macron nur einen Platz im eigenen Schatten übrig. Sein Vertrauter, der Sicherheitsbeamte Alexandre Benalla, musste nach Skandalen zurücktreten, und sein Umweltminister, der grüne Hoffnungsträger Nicolas Hulot, ist aus Verzweiflung gleich aus freien Stücken gegangen. Die Gelbwestenbewegung hat die soziale Frage wiederbelebt, und der Staat hat mit neuer Härte darauf geantwortet.
Und schliesslich hat jener Macron, der in Genf auf keinen Fall die Rechten stärken wollte, nicht gezögert, die Themen «nationale Identität» und «Einwanderung» wieder auf die Tagesordnung zu setzen. In einem Interview mit dem ultrarechten Wochenmagazin «Valeurs actuelles» sagte er nun dem Islamismus und der illegalen Einwanderung den Kampf an. Zur Begründung hiess es, er wolle sich an alle Teile der Bevölkerung wenden. Marine Le Pen und ihre rechtsextreme Partei Rassemblement National können sich indes nur freuen, wenn Macron ihre Themen in den Mittelpunkt rückt. Nach neusten Umfragen hat Le Pen in der WählerInnengunst zugelegt, und sein Rechtsruck hat dem Präsidenten bisher mehr geschadet als genützt. Genau davor hatte die Linke 2017 gewarnt: Sollte es nun wieder zu einem Duell zwischen Macron und Le Pen kommen, betrüge ihr Abstand zueinander nur noch 10 statt 33 Prozent wie vor zweieinhalb Jahren.
Genau so viel Zeit bleibt Emmanuel Macron jetzt noch. Wird er weiter versuchen, sich als einziges Bollwerk gegen das Schreckgespenst Le Pen zu etablieren? Macron, der angetreten war, um die alte Bipolarität «links versus rechts» zu beenden, versucht nun, eine neue Zweiteilung zu etablieren: «progressiv versus national». Aber die politische Landschaft ist derart durcheinandergeraten, dass man den Zuspruch für Marine Le Pen schon als einzige Konstante ausmachen muss. Die Linke ist zersplittert und schafft es kaum, sich zusammenzuraufen. Die Rechten finden keine Angriffsflächen mehr, weil Macron «der rechte Präsident» ist, den sie nicht erwartet hatten.
Und auf den Strassen? Am 17. November feiern die Gilets jaunes ihren ersten Jahrestag. Sie haben beschlossen, sich dem Streik gegen die Rentenreform anzuschliessen. Die EisenbahnerInnen haben ihn initiiert – ab dem 5. Dezember, auf unbestimmte Zeit.
Das weckt Erinnerungen an den Dezember 1995. Auch damals ging es um die Reform der Rente, drei Wochen lang ging nichts mehr, ein Land im Stillstand. Dann knickte die Regierung ein. Macron hat seinerseits bereits angekündigt, es werde kein Zurückweichen geben. Noch immer hält er seine Politik für alternativlos, auch wenn 65 Prozent der FranzösInnen mit ihr unzufrieden sind und 69 Prozent ihn als autoritär bezeichnen.
Als Emmanuel Macron so beliebt, cool und tatkräftig war, hiess es immer, vier bis fünf Stunden Schlaf reichten ihm. Es kann gut sein, dass seine «widerspenstigen GallierInnen» ihm bald schon gänzlich schlaflose Nächte bereiten werden.