Flüchtlingspolitik: «Die Menschen werden wie Tiere gehalten»

Nr. 11 –

Jean Ziegler hat ein bewegendes Buch über die auf Lesbos gestrandeten Flüchtlinge geschrieben. Ein Gespräch über die Aussetzung des Asylrechts, das Scheitern der Uno und die Mitverantwortung der Schweiz.

Greift die EU-Kommissionspräsidentin frontal an: Jean Ziegler möchte Ursula von der Leyen vor Gericht sehen – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

WOZ: Herr Ziegler, Sie waren im Mai auf Lesbos und haben die Erlebnisse in Ihrem Buch «Die Schande Europas» festgehalten. Gibt es eine Szene, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf geht?
Jean Ziegler: Was mich in dieser fürchterlichen Situation am meisten bewegt hat, das waren die Kinder. Etwa ein Drittel aller Geflüchteten, die man hinter Stacheldraht eingesperrt hat, sind unter fünfzehn Jahre, darunter viele unbegleitete Minderjährige, die letzten Überlebenden eines bombardierten Hauses oder eines Schiffbruchs auf der Flucht. Am schlimmsten war für mich, von den Selbstmordversuchen der Kinder zu erfahren, sie verstümmeln sich selbst, ich habe die Messernarben auf den Armen und Schenkeln gesehen: ein Hilferuf totaler Verzweiflung. Kinder wie meine Grosskinder, die mit einer Stoffattrappe im Schlamm Fussball spielen. Ich war acht Jahre lang Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, war in den schlimmsten Slums der Welt, aber ich habe nie so ein Elend gesehen wie in Moria.

Was macht die Situation dort noch schlimmer?
Die Menschen sind hinter dreifachem Nato-Stacheldraht eingeschlossen. Die Nahrung ist ungenügend und oft ungeniessbar, häufig stinkt der Fisch, den die Leute bekommen. Das ist organisierte Unterernährung. Ganz schlimm ist zudem die Hygiene. Für hundert Personen gibt es eine Toilette, die meistens verstopft ist – ein fürchterlicher Gestank –, zudem eine Dusche für 150 Leute mit kaltem Wasser, im Winter können die Mütter ihre Kinder nicht waschen, weil sie Angst haben, dass diese an einer Lungenentzündung erkranken. Dann die Verzweiflung. Die Menschen wollen ein Asylgesuch stellen, werden aber nicht vorgelassen, sondern nur physisch registriert. Jenseits des offiziellen Lagers gibt es die Camps in den Olivenhainen, ein totaler Slum. Die Zelte brechen zusammen, wenn es stark regnet oder schneit. Kinder sind erfroren.

Wer trägt die Hauptverantwortung für diese Zustände?
Griechenland ist ein souveräner Staat, der Stacheldraht nach Lesbos liefert, die fürchterlichen Verhältnisse und die mangelhafte Versorgung schafft. Letztlich ist es aber die EU, die bezahlt und befiehlt. Die EU-Behörde EASO führt die ersten Befragungen durch und erstellt die Dossiers, die dann von den Griechen bearbeitet werden. Und es ist die EU-Grenzschutzbehörde Frontex, die Pushbacks verantwortet, die Flüchtlingsboote auf hoher See aufgreift und gewaltsam in die Türkei zurückzwingt.

Letzte Woche ist die Situation noch einmal eskaliert. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder von der griechisch-türkischen Grenze gesehen haben?
Das Foto von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geht mir nicht mehr aus dem Gedächtnis: Letzte Woche sind sie und weitere EU-Spitzen in einem Nato-Helikopter über die Menschenmassen geflogen – wie arrogante Feldherren, grauenhaft. In Athen hat von der Leyen dann gesagt, dass Europa die Grenzen schliesse. Sie hat das Asylrecht liquidiert!

Wie ordnen Sie diesen Schritt historisch ein?
Das Asylrecht ist eine Zivilisationserrungenschaft, festgeschrieben in der universellen Deklaration der Menschenrechte von 1948 und in der Uno-Flüchtlingskonvention von 1951. Es besagt: Wenn jemand in seinem Heimatland bombardiert, gefoltert, verfolgt wird, hat er das Recht, in einem anderen Land um Schutz nachzusuchen. Schliesst man die Grenze, verunmöglicht man einem Menschen, sein Gesuch zu deponieren. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Von der Leyen gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof. Die Grenzen müssen geöffnet werden!

Was bedeutet es für das Projekt EU, wenn von der Leyen von Griechenland als «einem Schild gegen Flüchtlinge» spricht? Immerhin hat die EU ja mal den Friedensnobelpreis bekommen.
Den hätte man ihr schon längst aberkennen sollen, der Preis ist ein Skandal. Viktor Orban, der Oberhalunke, lässt Flüchtlinge mit Hunden jagen, steckt jeden ins Gefängnis, der sogenannt illegal über die Grenze kommt. Doch für einen Flüchtling gibt es keinen illegalen Grenzübertritt.

Welche Strategie verfolgt die EU damit?
Die Leute in den Hotspots werden wie Tiere gehalten – in der Hoffnung, es kämen weniger Flüchtlinge, wenn man in Idlib oder Aleppo von den Zuständen auf Lesbos hört. Diese Strategie ist politisch ineffizient, die Menschen kommen ja trotzdem. Aber die Betonköpfe in Brüssel sehen die Flüchtlinge als Feinde, als Bedrohung. Von der Leyen wollte das Migrationsministerium in «Departement für Migration und den Schutz der europäischen Lebensweise» umbenennen. Diese werde von den Flüchtlingen bedroht, so die Annahme. Dabei sind es Menschen wie Sie und ich, verstehen Sie? Was uns von ihnen trennt, ist nur der Zufall der Geburt. Sie könnten die junge Frau sein, die im Sturm vor Lesbos ertrinkt.

Die EU begründet ihre Politik damit, dass die Rechtspopulisten wegen der Flüchtlinge auf dem Vormarsch seien.
Es stimmt, dass die rassistischen Bewegungen ungebremst Fortschritte machen. Marine Le Pen in Paris ist die einzige Opposition zu Emmanuel Macron – und wären morgen Wahlen, würde sie gewinnen. Und in Italien diktiert Matteo Salvini die Politik. Die Kommissare gehen aber von einer falschen Analyse aus.

Warum?
Ich, der Kleinbürger aus Genf, sage: Das ist ein historischer Irrtum. Die EU glaubt, sie könne mit schrecklichen Mitteln die Flüchtlingszahlen herunterfahren und so die rassistischen Bewegungen stoppen. Doch die Geschichte, das ist meine absolute Überzeugung, hat gezeigt: Rassisten und Antisemiten kann man keine Konzessionen machen, sie geben denen die Hand und die nehmen den ganzen Arm. Die kann man nicht besänftigen, indem man keine Flüchtlinge mehr hereinlässt. Die Leute werden Rassisten wählen, auch wenn es in Europa keinen einzigen Flüchtling gibt. Rassisten muss man bekämpfen mit allen politischen und konstitutionellen Mitteln, die man hat.

Haben Leute wie Orban gewonnen, wenn nun auch die restlichen Länder ihrer rassistischen Politik folgen?
Ja! Bei der Europawahl letztes Jahr wurde von der Leyen mit einer Mehrheit von nur neun Stimmen gewählt. Woher kamen die? Von den Nationalisten in Polen, Ungarn und Italien. Nun ist sie wahrscheinlich deren Geisel, hat ihnen gegenüber eine Bringschuld. Der springende Punkt ist aber der Verteilungsplan von 2016, wonach jeder EU-Staat ein obligatorisches Kontingent erhalten sollte. Aber die Osteuropäer lehnten dies ab – und verhinderten damit eine gerechte Verteilung.

Ist es nicht ein bequemes Argument der Westeuropäer, alles auf den Osten zu schieben?
Der Umverteilungsplan ist ein normativ obligatorisches Regelwerk, die Basis einer kohärenten Flüchtlingspolitik – und der Osten hat sich nicht daran gehalten. Ich hasse es, wenn die Leute sagen, Ziegler sei ein Idealist, der mache bloss Gymnastik im blauen Himmel. Dabei gibt es konkrete politische Waffen, um die Protofaschisten in Osteuropa zur Aufnahme Geflüchteter zu zwingen: die Suspension der Kohäsionsmilliarden. Nähme man ihnen das Geld weg, kämen sie zur Vernunft. Wenn sich die EU nicht mehr durchsetzen kann, fehlt ihr die moralische Glaubwürdigkeit, dann geht sie zugrunde.

Statt die Menschen zu verteilen, hat man einen Pakt mit Recep Tayyip Erdogan geschlossen.
Der Deal ist ein reiner Wahnsinn, er betraf ja nur die Syrer. Erdogan hat sechs Milliarden Euro für die 3,6 Millionen Flüchtlinge erhalten – und einen Teil des Geldes in eine Hunderte Kilometer lange Mauer an der Grenze zu Syrien mit eingebauten Selbstschussanlagen gesteckt. Es war ganz sicher ein Fehler, sich durch Ankara erpressbar zu machen.

Sie waren im Auftrag des Uno-Menschenrechtsrats auf Lesbos. Bei den Millionen Menschen, die zurzeit weltweit auf der Flucht sind: Hat nicht auch das UNHCR versagt?
Der jetzige Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, ist ein tipptopper Mensch, ein Linkskatholik, der sein ganzes Leben in Flüchtlingscamps verbracht hat. Aber das UNHCR ist total überfordert mit der Anzahl der Geflüchteten. Zudem funktioniert es nach dem Subsidiaritätsprinzip: Was ein Mitgliedstaat tun kann, macht die Uno nicht. Und die EU hat gesagt, die Flüchtlingstragödie in der Ägäis und im Mittelmeer sei ein europäisches Problem. Ich finde aber, das Prinzip darf nicht gelten, wenn die EU das Asylrecht liquidiert. Die Uno müsste die Hotspots übernehmen und sie schliessen, sie müsste mit Griechenland über die Öffnung der Grenzen verhandeln.

Sie sprechen die ganze Zeit von der EU, aber die Schweiz ist ja zentraler Teil der Flüchtlingsabwehr. Was müsste sie jetzt tun?
Und wie, leider! Und die 1,3 Kohäsionsmilliarden zahlt sie auch. Unsere Steuergelder helfen Orban, Hunde für die Menschenjagd zu dressieren. Die Schweizer Sektion von Amnesty International unterstützt eine Petition, dass die Schweiz sofort 200 unbegleitete Flüchtlingskinder aufnimmt. Diese Petition muss man jetzt massenhaft unterschreiben, dass wenigstens diese kleinen Menschen morgen früh gerettet werden. Punkt.

Sie enttäuschen mich etwas, Herr Ziegler. Bräuchte es nicht viel eher eine Luftbrücke?
Natürlich sollte man viel mehr Menschen aufnehmen – und zwar nach Kontingenten. In der Flüchtlingskonvention gibt es zwei Möglichkeiten: den Asylprozess und die Kontingentlösung. Im Kosovokrieg etwa wurden Menschen innerhalb eines Kontingents sofort aufgenommen, wenn sie beweisen konnten, dass sie aus dem Kosovo kommen, ohne individuelles Verfahren. Das Gleiche sollte Bern sofort auf Syrien, den Irak, Afghanistan, den Jemen und den Südsudan anwenden.

Sie sassen einst für die SP im Nationalrat. Machen die linken Parteien genug in der Flüchtlingspolitik?
Die SP hat 1918 einen Generalstreik organisiert – und aus nostalgischer Erinnerung daran zahle ich immer noch meinen Beitrag. Heute ist die SP das Rote Kreuz des Kapitalismus. In der Flüchtlingspolitik ist sie als autonome Kraft praktisch abwesend. Ein Grossteil steht vor der SVP wie ein Kaninchen vor der Schlange: bloss nicht mit humanitären Forderungen provozieren, bloss keine Argumente liefern. Ich hoffe, dass Cédric Wermuth und seine Genossin Mattea Meyer bei der Wahl ums SP-Präsidium durchkommen, in ihnen lebt der sozialistische Geist. Das wäre die Chance auf eine Renaissance!

So wenig Sie an die institutionelle Politik glauben, so viel Hoffnung scheinen Sie in die Gesellschaft zu setzen. Sie verweisen in Ihrem Buch auf die «Macht der Schande», die die Menschen auf die Strasse treiben soll.
Das wichtigste historische Subjekt ist die Zivilgesellschaft. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, das haben ja die Frauen bewiesen: Seit dem Frauenstreik sind sie in grösserer Zahl im Nationalrat vertreten. Nicht, weil irgendein Höhlenbewohner der SVP gesagt hätte, die Frauen hätten in der Analyse recht, sondern weil sie aufgestanden sind. Die Menschen haben alle verfassungsmässigen Waffen zur Verfügung, sie müssen sich bloss bücken und sie aufnehmen. Der französische Sozialist Jean Jaurès sagte: «Die Strasse ist mit Leichen gesäumt, aber sie führt zu Gerechtigkeit.»

Nach all dem Elend, das Sie gesehen haben, sind Sie Optimist geblieben?
Was Optimismus? Soziologische Analyse! Was ich auf Lesbos auch gesehen habe, waren Fischer, die nachts im Sturm hinausfahren und Menschen retten, die sie überhaupt nicht kennen. Sechzig Prozent der Menschen dort stammen von Flüchtlingen aus Kleinasien ab, und weil sie dies noch im Gedächtnis haben, sind sie oft unglaublich solidarisch.

Der emeritierte Soziologieprofessor Jean Ziegler (85) ist einer der profiliertesten Globalisierungskritiker und Autor zahlreicher Bestseller. Sein neustes Buch, «Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten», ist im Januar im Bertelsmann-Verlag erschienen.