Flüchtlingspolitik: Das Asylrecht verkommt zur Fiktion

Nr. 26 –

Die EU-Staaten haben während der Coronapandemie Fakten geschaffen: Die Aufrüstung der Aussengrenze geht voran, die Asylzahlen sind alarmierend tief, auch in der Schweiz.

Auf den ersten Blick handelt es sich nur um eine nüchterne Zahlenreihe. Doch auf den zweiten ist die Statistik der in der Schweiz gestellten Asylgesuche alarmierend: Die Zahlen befinden sich auf einem historischen Tief. Gewiss ist die Coronapandemie mit ihren Grenzschliessungen ein Grund dafür. Doch das Virus machte auch in diesem Fall nur deutlicher, was sich schon zuvor abgezeichnet hatte. Im «Flüchtlingssommer» 2015, als sich die europäischen Grenzen für einige kurze Monate öffneten, wurden in der Schweiz rund 40 000 Asylgesuche gestellt. Darauf folgte der freie Fall: 2016 waren es 27 000 Gesuche, 2018 noch 15 000. Im letzten Jahr wurden lediglich 11 000 gezählt.

Im Gefüge der europäischen Asylpolitik ist die Schweiz als Schengen- und Dublin-Staat gewissermassen EU-Vollmitglied. In den letzten Jahren bestand ihre Strategie darin, sich wegzuducken. Zwar hat sie nicht wie Ungarn die gegenseitigen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten missachtet; das reiche Land hat aber auch keinen humanitären Kraftakt wie Deutschland geleistet. Als 2015 Millionen Menschen aus dem syrischen Bürgerkrieg flohen, waren die Behörden froh, dass die meisten Geflüchteten in München und nicht in Buchs ankamen. Derweil verschärfte das Parlament unter Anleitung der damaligen SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga das Asylgesetz. Unter dem Diktum der Beschleunigung der Verfahren wurde ein System der Halbgefangenschaft installiert. In den neuen Bundesasylzentren kommt es wiederholt zu gewalttätigen Übergriffen (siehe WOZ Nr. 18/2021 ).

Extrem tiefe Asylzahlen, ein beschränkter Wille zur Solidarität und Haftbedingungen für Geflüchtete: Die Schweiz steht exemplarisch für die Stossrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik. Im vergangenen Jahr haben die Angriffe verschiedener Staaten auf die Genfer Flüchtlingskonvention, die den Schutz vor politischer Verfolgung garantiert, zugenommen. Noch existiert das Asylrecht, doch wird der Zugang immer stärker eingeschränkt.

Schallkanonen gegen Geflüchtete

Als Kippmoment erweist sich im Rückblick der 29. Februar 2020. Kurz bevor die Pandemie zum alles dominierenden Thema wurde, verkündete der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan: «Wir haben die Tore geöffnet.» Er zündelte mit der Drohung, den Deal mit der EU aufzukündigen, der nach dem «Flüchtlingssommer» in Kraft getreten war. Der Vertrag regelt die Rückübernahme von Geflüchteten durch die Türkei gegen Milliardenzahlungen aus der EU. Kommissarin Ursula von der Leyen reagierte martialisch auf Erdogans Drohung. In einem Militärhelikopter flog sie an die Aussengrenze und bedankte sich bei Griechenland als «europäischem Schutzschild». Die neue, rechtskonservative Regierung des Landes verstand die Dankesworte als Aufforderung.

Sie baute die Grenze am Evros-Fluss mit Stahlmauer, Infrarotkameras und Drohnen zu einer Festung des 21. Jahrhunderts aus. Seit neustem kommen sogar Schallkanonen zum Einsatz, um die Menschen fernzuhalten. MenschenrechtsaktivistInnen bezeichnen diese Lautsprecher als Folterinstrumente. In der Ägäis wiederum wurden seit letztem Jahr mehr als 10 000 Geflüchtete von der griechischen Grenzwache in türkische Gewässer zurückgedrängt. Diese Pushbacks – Rückschaffungen ohne die Möglichkeit, ein Asylgesuch zu stellen – verstossen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Weil sie mit dem Mitwissen, fallweise auch mit der Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur erfolgten, läuft gegen Frontex eine Untersuchung im Europäischen Parlament.

Keine Antwort von Keller-Sutter

Die griechische Regierung baut zudem auf der Insel Samos den Prototyp eines neuen Haftlagers. Es soll Asylsuchende von der Zivilbevölkerung abschirmen, der Zutritt für NGOs wird mit hohen finanziellen Auflagen erschwert. Schliesslich hat Griechenland kürzlich die Türkei zum «sicheren Drittstaat» erklärt. Neben den Anträgen von Geflüchteten aus Syrien sollen auch die von Menschen aus Afghanistan, Somalia, Pakistan und Bangladesch für unzulässig erklärt werden, wenn sie sich vorgängig in der Türkei aufgehalten haben. Insgesamt ist die Zahl der Schutzsuchenden auf den Ägäischen Inseln gesunken. Aufgenommene Asylsuchende lässt die griechische Regierung über die Westbalkanroute in den Norden ziehen. Die europäischen Partner beschweren sich denn auch lieber über diese sogenannte Sekundärmigration als über die griechische Grenzabwehr.

Auch die Schweizer FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter fand Zeit, einen entsprechenden Protestbrief an die EU-Kommission zu unterzeichnen. Eine Antwort auf das Ansinnen von sechzehn Schweizer Städten und Gemeinden, mehr Geflüchtete von den Ägäischen Inseln aufzunehmen, bleibt Keller-Sutter derweil seit dem Brand des Lagers Moria auf Lesbos im letzten Spätsommer schuldig.

Hier und doch nicht da

Wie die Mitwirkung von Frontex bei der griechischen Grenzabwehr zeigt, steht diese durchaus im Einklang mit den europäischen Zielsetzungen. Die 26 Mitgliedstaaten des Schengen-Dublin-Systems verhandeln derzeit über einen «New Pact on Migration and Asylum». Mit dem Pakt wollten sie das Dublin-System beenden, in dem ein Asylsuchender im Erstaufnahmeland ein Gesuch stellen muss, was die südlichen EU-Staaten wie Griechenland oder Italien besonders exponiert. Stattdessen soll nun eine fiktive Zone geschaffen werden, in der Geflüchtete zwar europäischen Boden betreten haben, aber noch nicht in Europa angekommen sind. In einem dreimonatigen Asylgrenzverfahren sollen sie als «nicht eingereist» gelten. «Diese Fiktion wird sich nur mit Haft durchsetzen lassen, und die Kommission bietet den Mitgliedstaaten hierfür auch explizit die Rechtsgrundlagen», schreibt die deutsche Stiftung Pro Asyl. «In ihrem Zusammenspiel untergraben die Verordnungen das Recht auf Asyl in Europa.»

Mit dem Bau neuer Haftlager in der Ägäis, aber auch mit der Erklärung der Türkei zum sicheren Drittstaat übernimmt Griechenland Elemente des Pakts. Im Grunde wird der Vertrag umgesetzt, bevor er beschlossen wurde. Bis jetzt konnten sich die Mitgliedstaaten noch nicht einigen. Gestritten wird etwa über einen Schlüssel zur Verteilung von Geflüchteten. Fürs Erste finanziert man deshalb lieber Türsteher Recep Tayyip Erdogan weiter: 3,5 Millionen Euro sollen an türkische Hilfsprojekte zur Unterstützung von syrischen Geflüchteten fliessen, wie am EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs von letzter Woche beschlossen wurde.

Während die Diskussion über den Pakt fortdauert, schaffen die Nationalstaaten weitere Fakten. So nahm das dänische Parlament die alte Idee der vollständigen Externalisierung der Flüchtlingspolitik auf. Auf Antrag der sozialdemokratischen Minderheitsregierung hat es beschlossen, dass die Asylverfahren nicht im Land selbst durchgeführt werden, sondern in Aufnahmezentren in Drittstaaten. Gespräche soll es mit Ruanda, Ägypten, Eritrea und Äthiopien gegeben haben, Partner wurden indes bisher nicht gefunden. Man kann das dänische Gesetz als Ausfall einer Nation betrachten, die mit der Schaffung von offiziellen AusländerInnenghettos schon immer eine ausgeprägt rassistische Politik verfolgte. Gleichzeitig ist sie nur die konsequente Fortsetzung der «Nicht-Einreise», wie sie die EU proklamiert.

Hoffnung aus Palermo

Dass es auch Stimmen gibt, die Hoffnung machen, zeigte sich letztes Wochenende auf Sizilien. An einer Konferenz in Palermo schlossen sich 33 europäische Städte zu einer neuen «Allianz Sicherer Häfen» zusammen, darunter Potsdam, Amsterdam oder Barcelona. Sie fordern, dass Städte, die freiwillig mehr Geflüchtete aufnehmen wollen, dies tatsächlich tun dürfen. «Als europäische Städte und Gemeinden, die fest an die Verteidigung der Menschenrechte glauben, bieten wir Geflüchteten und Migranten seit Jahrzehnten eine neue Heimat», heisst es in einer gemeinsamen Erklärung. «Wir bekennen uns bedingungslos zu den humanitären Werten, den universellen Menschenrechten und dem Recht auf Asyl, auch in schwierigen Zeiten.»

Ein positives Signal gibt es auch aus dem Schweizer Parlament. SP-Ständerat Daniel Jositsch hat einen Vorstoss zur Wiedereinführung des Botschaftsasyls eingereicht. In der Begründung schreibt er: «Seit 2014 sind im Mittelmeer über 21 000 Menschen auf der Flucht gestorben, das sind zehn Menschen pro Tag! Diesem Drama, das auch durch unsere Gesetzgebung mitverursacht wird, muss ein Ende gesetzt werden.»