Aufnahme von Geflüchteten: Keller-Sutter das Steuer entreissen

Nr. 13 –

Auf der griechischen Insel Lesbos war dieser Tage wieder einmal hoher Besuch zu Gast. Die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson war vor Ort, um die Fortschritte für ein neues Flüchtlingslager zu überprüfen. Wetterfest soll es sein, Schulen soll es geben, anständige Toiletten, Duschen, weniger Mauern und Zäune. Es soll jene Mindeststandards erfüllen, um die sich die griechischen Behörden seit Jahren foutieren. Und die dort gestrandeten Menschen wortwörtlich aus dem Morast hieven.

250 Millionen Euro stellt die EU Griechenland zur Verfügung, um unter anderem das nach der Brandkatastrophe von Moria geplante Lager neu aufzubauen. Allerdings wurde auf der dafür angemieteten Wiese noch kein Grashalm gekrümmt. Vereinbart war, dass es im Herbst eröffnet wird, doch das wird kaum geschehen, wie die griechischen Behörden Johansson klarmachten. Für die im provisorischen Zeltlager Kara Tepe untergebrachten Flüchtlinge bedeutet das wohl einen weiteren Winter im Elend, für die EU – und auch für die Schweiz – einen weiteren Winter der Schande.

Zur selben Zeit, als Ylva Johansson auf Lesbos aufläuft, stellen städtische PolitikerInnen, AktivistInnen und KirchenvertreterInnen auf dem Berner Bundesplatz 700 Stühle auf, stellvertretend für 7000 Menschen, die die Schweiz sofort aus der Ägäis evakuieren und in jene Gemeinden verteilen könnte, die sich öffentlich und in zahlreichen Schreiben dazu bereit erklärt haben. Die breite Koalition von «Evakuieren jetzt» erneuert damit ihren Osterappell von vor einem Jahr. Doch die Forderungen erzeugen dieselbe Resonanz wie jene von Johansson auf Lesbos.

Meisterhaft lassen FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter und Migrationschef Mario Gattiker die einzelnen Akteure ins Leere laufen. BürgerInneninitiativen werden mit Standardbriefen abgefertigt, Kantone, Gemeinden und deren Ausschüsse in unterschiedlichen Arbeitsgruppen beschäftigt und zermürbt. Mal heisst es, die Städte müssten schon konkret sagen, was sie wollten, dann wieder: Rechtlich sei das leider nicht machbar, sie sollten doch neue Vorschläge ausarbeiten. Und so weiter und so fort, ein endloser Leerlauf.

Keller-Sutter will die Steuerung der Asylpolitik um jeden Preis in ihrer Hand behalten und Alternativen zum europäisch gut eingebetteten Minimalismus verhindern. Politisch hat sie alles unter Kontrolle: Das Thema ist tot. Die Anzahl der Asylgesuche lag 2020 auf einem historischen Tiefstand, die Zentren stehen halb leer. Nimmt man die SRF-Politshow «Arena» als Gradmesser, interessiert die Schweiz nichts weniger als Moria und die eigene Asylpolitik. Die letzte «Arena» zu Flüchtlingen fand Anfang 2018 statt, wobei es damals um Steuerflüchtlinge ging.

Nur verschwinden die gepeinigten Menschen damit nicht. Und glücklicherweise auch nicht der Widerstand. Die Koalition der Willigen wächst: Waren es vor einem Jahr die acht grössten Städte des Landes, die Flüchtlinge aus der Ägäis aufnehmen wollten, sind es nun schon sechzehn. Dazu haben sich Dutzende kleinere Gemeinden aus allen Landesteilen angeschlossen, wie das Solothurner Biberist, das St. Galler Sevelen oder das Baselbieter Arlesheim. Keller-Sutter, glauben Städtevertreter wie Zürichs Raphael Golta, lasse sich nur durch öffentlichen Druck bewegen. Dieser stiege, würden Petitionen künftig nicht von ein paar Tausend, sondern ein paar Hunderttausend BürgerInnen unterzeichnet.

Eine breitere Debatte ist auch im Parlament nötig. Karin Keller-Sutter plant, viel Geld nach Griechenland zu schicken. Über die Kohäsionszahlungen an die EU sollen künftig jährlich bis zu fünfzig Millionen Franken nach Athen fliessen. Dabei erhält das Land schon Hunderte Millionen aus EU-Töpfen für seine Unterlassungen. Solange Griechenland keine anständigen Camps zulässt und die Sicherheitskräfte Geflüchtete mit illegalen Pushbacks zurück ins Meer werfen, sollte kein einziger Franken gesprochen werden.

Zumal Keller-Sutter mit den Zahlungen von der bitteren Wahrheit ablenken will: Jedes Kind, das sich auf Lesbos aus Verzweiflung die Haare ausreisst, ist ein Kind, das längst hier sein könnte. In einem Asylverfahren, in Schutz, mit einer Perspektive.