Asylpolitik: Hinter dem Verantwortungshorizont
Auf den griechischen Ägäisinseln steigt die Zahl der ankommenden Bootsflüchtlinge aus der Türkei wieder an. Die Situation in den überlasteten Auffanglagern wird noch dramatischer – aber der Schutz der Geflüchteten hat nirgends Priorität.
Bereits wurden in manchen Kantonen Asylunterkünfte geschlossen: Die Zahl neuer Asylgesuche ist in der Schweiz mit 15 522 im Jahr 2018 so tief wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr. Und 2019 zeichnet sich ein neuer Minusrekord ab. Die sogenannte Flüchtlingskrise ab 2015, als sich Hunderttausende auf dem Weg nach Zentral- und Nordeuropa befanden und auch hierzulande fast 40 000 Menschen um Asyl ersuchten, sei endlich überstanden, vermelden die einen. Andere fordern Massnahmen, um künftige Anstiege der Gesuche proaktiv zu unterbinden. Die Erleichterung ist jedenfalls gross. Und in manch einer Partei wird aufgeatmet, weil der SVP das wichtigste Wahlkampfthema abhandengekommen ist.
Dass andere Themen die Debatte dominieren, ist zu begrüssen. Es ist aber zynisch, jetzt in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Gegenwärtig sind weltweit mit über siebzig Millionen Menschen noch immer so viele auf der Flucht wie noch nie. Wenn die Schweiz also auf eine Schönwetterasylpolitik umsatteln kann, dann nicht, weil ein Problem gelöst wäre, sondern nur, weil dieses ausgelagert wurde.
Toxische Abhängigkeiten
Zum Beispiel auf die griechischen Ägäisinseln. Auf Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos befinden sich fünf Auffanglager, sogenannte Hotspots, in denen Geflüchtete unterkommen und sich registrieren lassen sollen. Menschenrechtsorganisationen berichten von unhaltbaren Zuständen; gegen 27 000 Menschen sind in den fünf Lagern untergebracht, die eigentlich für weniger als 9000 Menschen Platz bieten. «Nur schon grundsätzliche menschliche Bedürfnisse wie Essen, Unterkunft, Hygiene, Medizin und Schutz vor Kälte und Nässe können nicht annähernd gedeckt werden», sagt die Schweizer Aktivistin und Autorin Johanna Lier, die derzeit auf Lesbos ist.
Lier kennt die Lage im dortigen Lager Moria gut. In der ehemaligen Militäranlage wäre Platz für 3000 Menschen, aber gemäss der norwegischen NGO Aegean Boat Report (ABR) halten sich dort knapp 6500 Personen auf. Im «Dschungel», dem informellen Lager in einem anliegenden Olivenhain, leben zusätzlich etwa 4000 Menschen. «Die Situation ist katastrophal, das ganze System geht nicht auf», sagt Lier. Im Überlebenskampf der Internierten hätten sich Gewalt und Zwangsprostitution eingenistet, die Menschen seien zermürbt, die Suizidalität hoch. Lier spricht von einem «toxischen Geflecht von Abhängigkeiten», das sich etabliert habe. Und das unter der Aufsicht der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und der Obhut des UNHCR.
Die Hotspots funktionieren in der Logik des EU-Türkei-Abkommens vom Frühling 2016, durch das die Türkei zum Angelpunkt der europäischen Migrationsabwehr gemacht wurde. Grundsätzlich bedeutet das: Die Türkei erhält Geld dafür, dass sie Menschen daran hindert, nach Griechenland zu gelangen. In den Lagern auf den Ägäisinseln sollen die Angekommenen ein Verfahren durchlaufen, an dessen Ende feststeht, ob sie auf dem Festland ein materielles Asylgesuch stellen dürfen. Wer sich registrieren lässt, landet auf einer langen Warteliste: Manche erhalten erst für 2021 einen Termin. Bis dahin müssen sie in den Lagern ausharren. Und dann entscheidet ein Stempel im Flüchtlingsausweis, ob sie aufs Festland dürfen, wo ihr Zugang zu Sozialleistungen jedoch stark eingeschränkt ist. Oder sie müssen auf der Insel bleiben – und fürchten, in die Türkei abgeschoben zu werden.
Die Zustände in den Hotspots der Ägäis rückten zuletzt wieder ins Bewusstsein hiesiger KommentatorInnen, nachdem Anfang September innert Stunden sechzehn Boote mit Hunderten Flüchtenden aus der Türkei angekommen waren. Überhaupt stieg die Zahl der neu Angekommenen 2019 wieder beträchtlich an, bisher sind es über 30 000. In der Analyse scheint man sich einig: Die griechische Bürokratie sei schuld an den Zuständen. Man müsse den «Flüchtlingsdeal» mit der Türkei endlich effizient umsetzen, um die Lage zu entschärfen. Dabei schwingt vor allem die Befürchtung mit, dass die Gestrandeten den Weg ins Herz Europas finden könnten. Die Herausforderung, so wird suggeriert, liege nicht darin, möglichst vielen Menschen in Notsituationen Schutz zu gewähren, sondern darin, diese möglichst umstandslos hinter den eigenen Verantwortungshorizont zu befördern.
Erdogans Druckmittel
Was sich dort abspielt, zeigt sich auch in der Ägäis. Dort kommt es immer wieder zu illegalen Pushbacks durch die griechische Küstenwache, wie Alarm Phone, die zivile Koordinationsstelle für Seenotrettung, mehrfach dokumentiert hat. Dabei scheint die Zusammenarbeit der griechischen mit der türkischen Küstenwache bisweilen gut zu funktionieren. An anderen Tagen hingegen ist Letztere kaum präsent; nämlich offenbar dann, wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gegenüber der EU mit den Muskeln spielt. Auch 2019 hat er wiederholt damit gedroht, «die Türen zur EU» zu öffnen. So nutzt er die vier Millionen Geflüchteten, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, als Druckmittel – etwa wenn es darum geht, eine «Schutzzone» in Nordsyrien einzurichten oder umstrittene Erdgasbohrungen vor der zyprischen Küste voranzutreiben. Derweil sind Flüchtende in der Türkei selbst in wachsender Bedrängnis: Vermehrt schiebt das Land Menschen nach Syrien ab. Oder auch nach Afghanistan, woher ein grosser Teil der zuletzt in Griechenland angekommenen Flüchtlinge stammt. «Es gibt durchaus Leute, die wissen, was sie in den Hotspots erwartet», sagt Johanna Lier. «Trotzdem steigen sie in die Schlauchboote.»
Die Situation für die Geflüchteten droht sich in Griechenland unter der neuen rechtskonservativen Regierung weiter zu verschärfen. Es wird erwartet, dass ihr Zugang zum Gesundheitswesen erschwert wird. Auch sollen Beschwerdemöglichkeiten im Asylverfahren reduziert werden. Derweil sind in Athen Oasen für ein selbstbestimmtes Leben, etwa das Hotel City Plaza, bereits ausgetrocknet worden, und im Stadtteil Exarchia hat die Polizei erste Besetzungen geräumt.
Die Schweiz hat dem Staatssekretariat für Migration (SEM) zufolge seit 2017 66 Personen nach Griechenland abgeschoben – nur 5 davon auf Basis der Dublin-Verordnung: Dass nämlich das griechische Asylsystem überlastet und ein menschenwürdiges Verfahren deswegen nicht garantiert ist, wird vom SEM berücksichtigt. Der Grossteil der Abgeschobenen sind Personen, denen in Griechenland bereits internationaler Schutzstatus zugesprochen wurde. «Die trifft es unter Umständen aber fast schlimmer», sagt Margarite Zoeteweij, die für die Schweizerische Flüchtlingshilfe im Rechtsdienst arbeitet. So würden die betroffenen Personen auch unter heiklen Umständen zurückgeschickt, sagt die Juristin, etwa wenn sie physische und psychische Probleme hätten und kaum auf eine adäquate Behandlung in Griechenland hoffen könnten. Der dramatische Fall einer iranischen Familie, die aus der Schweiz abgeschoben worden war und sich in Athen auf der Strasse wiederfand, wurde im Januar von der deutschen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aufgearbeitet. «Es gibt so viele unterschiedliche Fälle und so viele Geschichten dahinter», sagt Zoeteweij. «Im Normalfall haben Personen mit einem Schutzstatus in Griechenland praktisch keine Chance, in der Schweiz zu bleiben.» Das war schon unter SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga so, und unter FDP-Bundesrätin Karin Keller-Sutter wird sich dies kaum ändern. Keller-Sutter hat gar angekündigt, die generelle Schweizer Abschiebungspraxis weiter zu verschärfen.
Verblüffende Töne sind derweil aus Deutschland zu hören: Ausgerechnet CSU-Innenminister und Asylhardliner Horst Seehofer bot vergangene Woche Italien bei der Aufnahme von Geflüchteten Hilfe an. Frankreich und Deutschland würden je ein Viertel der Menschen aufnehmen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden. So könnte im Ansatz also jene binneneuropäische Zusammenarbeit beginnen, die Menschenrechtsorganisationen fordern. An der Situation in der Ägäis wird dies vorerst nichts ändern: Dort beherrscht nach wie vor der «Flüchtlingsdeal» mit der Türkei die Praxis. Solange keine legalen Fluchtwege existieren, die Aussengrenzen militarisiert sind und Hilfsinitiativen kriminalisiert werden, bleibt Europa eine Festung. Leere Asylunterkünfte können vor diesem Hintergrund noch lange kein Grund zur Freude sein.