99-Prozent-Initiative: Eine logische Korrektur

Nr. 36 –

Es ist im Grunde erstaunlich, dass die Schweizer Bevölkerung dies so leise hinnimmt: Während die 300 Reichsten in ihren Villen und Jachten ihr Vermögen in der Coronapandemie 2020 um weitere 5 auf 707 Milliarden Franken steigern konnten, bangen unzählige Menschen weiter um ihre Zukunft.

Das Ausmass der hiesigen Ungleichheit wird kurz vor der Abstimmung über die 99-Prozent-Initiative vielen bekannt sein: Besass das reichste Prozent der Schweizer Bevölkerung 2003 laut der Uni St. Gallen noch 36 Prozent der Vermögen, sind es inzwischen 43 Prozent. Was bisher unterging: In 27 Industrieländern, für die die OECD Zahlen sammelt, liegt dieser Wert mit Ausnahme der USA (41 Prozent) zwischen 27 und 9 Prozent. Die Schweiz liegt noch vor den USA zuvorderst an der Spitze.

Stellt man sich die drei Billionen Vermögen des reichsten Zehntels so hoch wie den Eiffelturm vor, dann besitzen die darauffolgenden vier Zehntel alle zusammen das Berner Münster. Der Hälfte der Bevölkerung bleibt dagegen nicht einmal ein Kaninchenkäfig – nämlich nichts. Das ist schlicht pervers.

Schwer zu verstehen, warum sich PolitikerInnen von SVP bis GLP derart kompromisslos gegen die 99-Prozent-Initiative stellen. Diese verlangt, dass Einkommen aus Vermögen wie Dividenden ab einer vom Parlament festzulegenden Freigrenze 1,5-mal so hoch besteuert werden wie Arbeitseinkommen. Mit dem Geld des reichsten Prozents sollen Leute mit mittlerem und tiefem Einkommen entlastet werden. Eine kleine Korrektur, mehr nicht.

Die GegnerInnen widersprechen, dass unter Einbezug der Pensionsersparnisse die Ungleichheit gar nicht so gross sei. Doch sind diese Ersparnisse weniger ein Vermögen als die Quelle, die einem im Alter ein Einkommen sichern soll. Und: Das reichste Prozent besitzt auch mit diesen Ersparnissen immer noch 37 Prozent der Vermögen. Damit fällt die Schweiz grad mal knapp hinter die USA zurück.

Weiter sagen die GegnerInnen, dass die Reichen aufgrund der höheren Steuern weniger in die Wirtschaft investieren würden. Das ist schlicht Unsinn: Wie ETH-Wirtschaftsprofessor Michael Graff in der WOZ festhielt, sind die Ersparnisse in der Schweiz so hoch, dass ein Grossteil im Ausland investiert werden muss. Schliesslich behaupten die GegnerInnen, dass die Initiative auch KleinunternehmerInnen treffen würde, die ihren Betrieb verkauften; dies, weil nebst etwa Dividenden auch Gewinne höher besteuert werden sollen, die beim Verkauf von Aktien anfallen.

Ein unanständiges Argument: Die Initiative ist so offen formuliert, dass das Parlament sie problemlos so umsetzen könnte, dass sie wirklich nur die Reichsten trifft. Und in diesem Parlament stellen die GegnerInnen die klare Mehrheit.

Der eigentliche Grund für das Nein liegt eher darin, dass ParlamentarierInnen wie Thomas Matter (SVP), Marcel Dobler (FDP) oder Ruedi Noser (FDP) selber zum reichsten Prozent gehören. Die übrigen folgen der eigenartigen Vorstellung vieler Bürgerlicher, wonach man mit sozialer Kälte irgendwie wirtschaftliche Kompetenz beweise.

Dabei macht sich weltweit bis weit in bürgerliche Kreise hinein längst der Konsens breit, dass Ungleichheit schädlich ist. Nicht nur, weil sie Gesellschaften zerrupft, die Demokratie aushöhlt und den Populismus befeuert. Die Ungleichheit hat auch den Kapitalismus in eine tiefe Krise gestürzt: Die riesigen Vermögen finden immer weniger reale Investitionsmöglichkeiten – auch weil aufgrund der Ungleichheit unten die wirtschaftliche Nachfrage lahmt. Das Überangebot an Vermögen treibt die Zinsen immer tiefer nach unten, wie eine jüngst am Gipfel der Notenbanken in Jackson Hole vorgestellte Studie zeigt, was die Renten der einfachen Leute schrumpfen lässt.

Die Reichsten legen ihr Geld immer mehr in Aktien oder Immobilien an, was – zusätzlich befeuert durch die tiefen Zinsen – deren Preise immer weiter in die Höhe treibt. Letzte Woche warnte Nationalbank-Vize Fritz Zurbrügg vor einem «grossen Immobiliencrash».

Die Ironie am Ganzen: Mit ihrem Anliegen, die perverse Ungleichheit etwas zu korrigieren, ist es ausgerechnet die Juso, die sich um den Kapitalismus sorgt.