An der Grenze: «Weil wir mobiler werden, müssen andere immobiler werden»

Nr. 36 –

Ob mit Mauern oder digitaler Technologie: Allerorten werden die Grenzen aufgerüstet. Doch was genau wird kontrolliert? Der Berliner Soziologe Steffen Mau geht in seinem Buch «Sortiermaschinen» der Neuerfindung der Grenze nach.

«Man muss sich in Erinnerung rufen, dass achtzig Prozent der Weltbevölkerung noch nie ein Flugzeug betreten haben», sagt Steffen Mau. Foto: Ian Langsdon, Keystone

WOZ: Steffen Mau, wir stehen unter dem Eindruck der Bilder aus Afghanistan und der Versuche der Menschen, die Landesgrenze zu überwinden. Worin unterscheidet sich die Situation eines Flüchtlings in Marseille 1940, der wie in Anna Seghers Buch «Transit» den Atlantik überqueren muss, von den Flüchtenden dieser Tage?
Steffen Mau: Zunächst einmal gibt es Parallelen, für beide ist es der Versuch des Exits aus einer bedrohlichen Situation, wobei Pässe und Visa eine wichtige Rolle spielen. Wir haben heute natürlich viel machtvollere Bilder, die bedrückenden Geschehnisse auf dem Flughafen in Kabul sind uns allen vor Augen. Darüber hinaus sind Mobilität und Migration vielfältiger geworden, es sind viel mehr Personen, die sich heute bewegen beziehungsweise bewegen müssen. In einer Studie aus den 1950er Jahren wurden die Deutschen gefragt, ob sie jemals im Ausland waren. 26 Prozent bejahten dies. Heute geben 60 Prozent der Deutschen an, in den vergangenen zwölf Monaten im Ausland gewesen zu sein. Das heisst, grenzüberschreitende Mobilität ist eine alltägliche Erfahrung und ein normatives Leitmodell geworden.

Befinden sich Grenzen also in einem Aggregatszustand der Verflüssigung?
Das ist jedenfalls das dominante Narrativ der Globalisierungsforschung. Die Mobilitätssteigerung und die Entgrenzung sind ja zentrale Bestandteile des Globalisierungsdiskurses. Dagegen argumentiert mein Buch, wobei ich nicht in Abrede stelle, dass Öffnung stattfindet. Es gibt aber eine Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schliessung. Meine Hauptthese ist, dass Grenzen sich in Richtung halbdurchlässiger Filter verändern, die einerseits Durchflüsse von Personen, die ökonomisch willkommen sind, erlauben und andererseits solchen Personengruppen, die als Risiko gesehen werden, zunehmend als Barriere gegenübertreten. Das heisst, Grenzen werden viel selektiver als in der Vergangenheit und zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut.

Wenn wir Mobilität als selbstverständlich betrachten, ist das also eine ziemlich egozentrische Sicht.
Die Mobilitätserzähler sind selbst die Begünstigten dieser Öffnungsprozesse, weil etwa hochrangige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus westlichen Ländern Grenzen leicht überschreiten können. Das führt zu einer sehr einseitigen Sicht auf Globalisierung, man sieht nicht, dass es jede Menge Exklusionsprozesse gibt. Mobilisierung und Immobilisierung sind zwei Seiten derselben Medaille. Zugespitzt könnte man sagen, dass, weil wir mobiler werden, andere immobiler werden müssen. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass achtzig Prozent der Weltbevölkerung noch nie ein Flugzeug betreten haben, in westlichen Gesellschaften werden Sie nur wenige Leute finden, auf die dies – etwa aufgrund von Flugangst – zutrifft.

Kapitalströme fliessen ungehindert, warum ist das bei Personen anders?
In unserer Form von Staatlichkeit spielen Fragen von Aufenthalt, Zugehörigkeit und Identität eine grosse Rolle. Wir bewegen uns ja nicht nur in einem Transitraum, halten uns nicht nur zufällig in einem Staatsgebiet auf. Die meisten Leute leben in ihrem Geburtsland, wir sind grösstenteils eine, wenn auch mobile, Insassengesellschaft. Die Mobilitätsberechtigung wird staatlich reguliert, und reiche Demokratien haben es seit den 1970er Jahren geschafft, mehr und mehr Mobilität für ihre Bürger zu erreichen, ohne selbst offener zu werden. Sie streichen die Globalisierungsdividende ein, sind aber recht rigide im Hinblick auf die Freizügigkeit für andere.

Nach dem Fall der Berliner Mauer sind zumindest die Systemgrenzen gefallen. Wo verlaufen die Demarkationslinien heute?
Es gibt unterschiedliche Arten von harten, fortifizierten Grenzen, wie ich sie nenne. 1989 gab es nur zwölf davon, heute sind es über siebzig. In globaler Perspektive gibt es also ein wirkliches «Mauerbaufieber». Häufig verlaufen die Mauern entlang der Wohlstandsgrenzen und in Regionen, wo der Migrationsdruck sehr stark ist. Und wir beobachten neue Formen von geopolitischen und auf Territorialkonflikte bezogenen Grenzbildungen. Die afrikanischen Wohlstandsmauern, in Südafrika und Botswana etwa, sind sehr stark wohlstandsgeprägt, die Türkei baut Mauern gegen Geflüchtete aus Syrien, aber es existieren auch viele fortifizierte Grenzen auf dem asiatischen Kontinent, zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen oder Indien und Pakistan. Aber an diesen scheinbar gehärteten Grenzen soll nicht jede Art von Bewegungen unterbunden werden, sondern nur die unerwünschten.

Kulturelle Unterschiede spielen entgegen den Annahmen von Samuel P. Huntington, der den «Clash of Civilizations» prophezeite, also keine zentrale Rolle?
Ja, das ist interessant. Nach 9/11 hat man beispielsweise angenommen, es würden sich harte Grenzen bilden, die sich auf terroristische Bedrohungen beziehen. Aber kulturelle Unterschiede oder gar terroristische Bedrohungen sind nur schwache Erklärungsfaktoren bei der Grenzziehung, Reiseprivilegien finden wir auch bei den Bürgern aus reichen Golfstaaten.

Grenzschliessungen werden politisch auch instrumentalisiert, wie das aktuelle Beispiel von Weissrussland und Litauen zeigt.
Die Möglichkeiten der EU-Anrainerstaaten, die Nachbarstaaten durch Grenzmanipulation unter Druck zu setzen, gehören zum Kräftemessen, Geflüchtete fungieren dabei als Verschiebemasse auf dem Bahnhof der Weltpolitik. Einen ähnlichen Fall hatten wir im Mai in Marokko, wo die Menschen plötzlich nicht mehr von der marokkanischen Grenzpolizei aufgehalten wurden. Es ist generell ein Phänomen, dass viele Grenzkontrollen gar nicht mehr an der eigentlichen Grenzlinie stattfinden, sondern exterritorialisiert werden unter Einbindung anderer Länder wie in der Subsahara oder im Fall der Maghrebstaaten, die im Interesse der EU die Fluchtrouten abschneiden.

Vor und hinter den Grenzen entstehen Lager. Sind das die neuen Enklaven einer entgrenzten Welt?
Ganz sicher, diese Lager bilden eine eigene Art von Territorialität aus. Der Zu- und Weggang wird stark kontrolliert, die Menschen werden registriert und kaserniert. In den Lagern werden nicht genau zuzuordnende oder unwillkommene Menschen eingekapselt, die Lager werden oft vom Provisorium zur stabilen und dauerhaften Struktur. Es entstehen dabei rechtliche Sonder- und Kontrollzonen, die sich aus dem ungeklärten Status der sich dort aufhaltenden Personen ableiten. Auf Satellitenbildern sieht man, dass diese Lager oft entweder vor oder direkt hinter der Grenze liegen.

Wie hat sich das Kontrollregime an den Grenzen verändert?
Schon während der ersten Globalisierungsphase Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Einreisende auf ihren Gesundheitszustand überprüft, in den USA hat man damals deren Zähne und die körperliche Verfassung untersucht. Heute haben sich die digitalen und biometrischen Erfassungsmöglichkeiten enorm ausgeweitet. Irisscan, Gesichtsvermessung oder der Fingerabdruck werden quasi erkennungsdienstlich in den Einsatz gebracht, es entstehen grosse Datenspeicher, und der globale Informationsaustausch wurde forciert. Das führt dazu, dass Smart Borders entstehen, in denen Daten mit Biometrie zusammenkommen. Durch Algorithmen lassen sich dann individualisierte Risiko-Scores berechnen.

Die Risikoklassifizierung betrifft aber nicht nur die unerwünschten anderen, sondern prinzipiell alle, die Grenzen überschreiten wollen?
Wenn wir heute freiwillig immer mehr sensible Daten abgeben, kann daraus auf einen Trusted Traveller, eine vertrauenswürdige Person, geschlossen werden, und der Staat kann seine Kontrollaktivitäten auf diejenigen konzentrieren, die nicht willkommen sind. «Gute» Daten sind letztlich der Reputationsnachweis eines internationalisierten Mobilitätsscreenings, und aus der pauschalen Grenze, an der alle gleichbehandelt werden, wird eine individualisierte Grenze. Momentan befinden wir uns in einer Zwischenphase, aber in den USA gibt es Unternehmen, die sich in Flughäfen einkaufen und bei denen Reisende sich für einen bestimmten Betrag vorregistrieren lassen, ihre Daten abgeben und dann die Schleusen relativ flüssig passieren können. Das könnte die Zukunft des Reisens sein, angereichert noch durch bestimmte Gesundheitsinformationen.

Die Ausweitung der Verdachtszone haben wir während Corona erlebt, als plötzlich offene Grenzen dichtgemacht und wir unvorstellbar in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden. Könnte unter der Ägide der Sicherheit das gesundheitliche Risikoprofil einmal Staatszugehörigkeit als Zugangsmerkmal ersetzen?
Daran wird bereits gearbeitet. Die Problematik der Herstellung von Sicherheit an der Grenze hat seit 9/11 eine enorme Ausweitung erfahren und eine Intensivierung von Kontrolle mit sich gebracht. Dieser Prozess verstärkt sich durch die Pandemie, gleichzeitig gibt es eine Diffusion der Kontrolle in den öffentlichen Raum. Der Nachweis der gesundheitlichen Unbedenklichkeit bezieht sich ja nicht nur auf den Grenzübertritt, ähnliche Kontrollregimes gibt es für öffentliche Einrichtungen und Ähnliches.

Der Soziologe Ulrich Beck hat darüber nachgedacht, dass die Kosmopolitisierung mit einer Renationalisierung von Gesellschaft einhergehen könnte. Gilt dies auch für Ihr Thema?
Ich beziehe mich auf eine Beobachtung von Saskia Sassen, die vom Paradox des Nationalen spricht und sagt, dass Globalisierung und Nationalstaat nicht notwendig in eine solche Spannung geraten, wie wir häufig annehmen. Globalisierung bedeutet nicht in jedem Fall Denationalisierung. Die Grenze ist zum Beispiel keine nationale Angelegenheit mehr, sondern ist selbst globalisiert. Aber Ausgangspunkt ist das nationale Interesse an der globalisierten Grenze, und sie führt wieder zum Nationalen zurück in Form ausdifferenzierter Kontrollräume. Da die meisten Territorialgrenzen heutzutage fix sind, hat die Filterfunktion an Bedeutung gewonnen: Wer darf die Grenzen passieren und wer nicht?

Steffen Mau

Steffen Mau: «Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert». C. H. Beck Verlag. München 2021. 189 Seiten. 25 Franken.

Erforschte Transformation

Steffen Mau (52) ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich in seiner Forschung insbesondere mit Fragen der sozialen Ungleichheit. Zu einem Bestseller wurde sein Buch «Lütten Klein». Darin schreibt Mau ausgehend vom Rostocker Neubauviertel, in dem er selbst aufgewachsen ist, über die Transformation von Ostdeutschland. In seinem neuen Buch «Sortiermaschinen» untersucht er die Funktion der Grenzen in der Globalisierung des 21. Jahrhunderts.