Flughafenstädte: Bahnhof, Business, Billigjobs

Das Verhältnis von Kernstadt und Flughafen verändert sich massiv. Als Verkehrsknotenpunkte expandieren die Flughafenstädte immer mehr in die Region hinaus und werden zu Stützpunkten der Globalisierung.

Wo genau ist London, wenn zwischen den fünf nach der Metropole benannten Flughäfen 85 Kilometer liegen? Die wachsende Transportinfrastruktur, gekoppelt mit den Transformationsprozessen von Metropolen, lässt die Airport-Citys in die Region hinaus expandieren. Dank der Verknüpfung mit Hochgeschwindigkeitszügen konkurriert etwa der Kölner Flughafen direkt mit dem kaum eine Stunde entfernten Frankfurter Flughafen und erschliesst so die dicht besiedelten Metropolenregionen Rhein-Main, Rheinland, Ruhrgebiet sowie die Aachener Grenzregion zu Belgien und Niederlande. Flughäfen werden zu Knotenpunkten des Transports von Menschen und Gütern in expandierenden Metropolenregionen, während sie selbst zu neuen Städten mit Hotels, Shopping und Konferenzen heranwachsen. Als Warenumschlagplatz und Kontrollzone des Migrationsregimes bilden Airports wie Frankfurt, London oder Amsterdam Stützpunkte der Globalisierung.

Kalkulierte Wartezeit

Jedes Jahr reist umgerechnet ein Sechstel der Erdbevölkerung einmal mit dem Flugzeug, und ein Viertel der weltweit produzierten Exportgüter zirkuliert zwischen den insgesamt wohl 30 000 Flughäfen, sie funktionieren als Transitorte und lokale Anker zugleich. Diese täglich von zehntausenden aufgesuchten «parasitären Business-Minimetropolen», so der britische Architekturkritiker Marc Cousins, entwickeln auch ohne Wohnbevölkerung und produzierendes Gewerbe ein eigenes Leben: Zu Hochzeiten passieren rund 110 000 BesucherInnen täglich den Amsterdamer Flughafen Schiphol, vierzig Prozent steigen nur um. Allein der Flughafen von Los Angeles verursacht täglich 150 000 Autofahrten, was dem Verkehrsaufkommen einer Halbmillionenstadt entspricht.

«Flughäfen sind nicht mehr nur Flughäfen», schreiben die Architektenbrüder Michael und Mathis Güller (Zürich/Rotterdam) in ihrem Buch «From Airport to Airport City», sondern «Hauptbahnhöfe des 21. Jahrhunderts», an deren Typologie sie sich häufig orientieren.

Flughäfen werden nicht mehr direkt staatlich subventioniert, sondern erwirtschaften ihre Erträge zunehmend aus Vermietungen. Sie werden permanent umgebaut und bewegen sich eng an Konjunkturzyklen. Doch manchmal kommt in einer Boomphase ein Crash wie derjenige der Swissair völlig überraschend. Entsprechend überdimensioniert sind deshalb die Ausbaupläne des Flughafens Zürich ausgefallen. Umsatzoptimierung bestimmt das Layout: So gelten Entfernungen zwischen Eingangsbereich und den Flugsteigen nicht mehr als Problem, sondern als profitabel, lassen sich doch auf dem Weg unzählige Geschäfte ansiedeln. London Heathrow gilt als der grösste Markt für Havanna-Zigarren – einschliesslich Havanna selbst. In Schiphol werden die höchsten Büromieten der Niederlande erzielt. Der Weg durch den Zürcher Flughafen – vorbei an Shopping (Landside), Check-in, Security-Check, Shopping (Airside) und Transport zu den Gates in der einzigen U-Bahn der Stadt – braucht inklusive der Wartezeit vor Betreten des Flugzeugs oftmals mehr als die reine Flugzeit.

Das Gepäck hingegen soll möglichst rasch auf dem Transportband landen, damit die Gäste die Hände frei haben für die Shopping-Angebote entlang der Wegstrecken bis hin zum Einstieg. Darüber freuen sich die FlughafenbetreiberInnen, nicht aber die Luftfahrtgesellschaften: So hat KLM unlängst den Flughafen Schiphol auf dreissig Millionen Euro Schadenersatz verklagt, weil der Shopping-Port zu unbequem und ineffizient geworden sei. Mehr und mehr privatwirtschaftlich betriebene Flughäfen wandeln sich zu Unternehmen. So arbeiten in der 600 000 BewohnerInnen zählenden Stadt Frankfurt am Main schon 60 000 Menschen im Flughafen, der zu den grössten Unternehmen der Republik gehört. Zum Vergleich: Weltweit beschäftigt Microsoft 40 000 Angestellte. Allerdings ist oft weniger als die Hälfte der am Flughafen Beschäftigten direkt mit dem Flugverkehr beschäftigt.

Kontrollraum Flughafen

Tunnels, Werkstätten und Maschinenräume, Abschiebegefängnisse, Einwanderungsbehörden oder automatisierte Röntgenanlagen prägen die Unterseite des Flughafens. Ad van Denderens grobe Schwarzweissaufnahmen von Abschottungs- und Kontrollräumen entstanden 1994 im Zuge einer Fotoreportage für die Wochenzeitung «Vrij Nederland» und zeigen exterritoriale, dem Grenzschutz gewidmete Flughafen-Areale. Die Bilder von Fahndungscomputern und gesonderten Wartelagern für Zuwanderer erinnern an den befestigten Verlauf der EU-Aussengrenze. In den versteckten Abschiebetrakten werden rechtlicher Beistand, psychosoziale Hilfe sowie auch alltägliche Zeugenschaft von rassistischen Polizeipraktiken auf Abstand gehalten.

Der Architekt und Fotograf Peter Tolkin erkundete bei seinen Fotorecherchen zur Serviceindustrie rund um den Los Angeles International Airport insbesondere die Menüproduktion. Die vor allem durch ihre (Flughafen-)Hotels bekannte Marriott Corporation führt mit Produktionsstätten in 78 US-Städten und 63 anderen Ländern auch international den Markt der Flugmahlzeiten an. Tolkin fasste in seinen analytischen Bildfeldern die verschiedenen Menüklassen innerhalb einer Fluglinie, aber auch die deutlichen Abstufungen zwischen diesen zusammen. Er wirft einen Blick in Fabrikationsanlagen mit ihren vorrangig hispanischen ArbeiterInnen und zeigt die mit Wachschutz gesicherten Subfirmen.

Verkehrsmässig optimal angebundene Airport-Citys bilden mit ihren angelagerten Infrastrukur-, Dienstleistungs- und Freizeitindustrie-Zentren ein eigenes Stadtmuster bis weit in ihre Umgebung heraus: Flughafen als Stadt, Stadt mit Luftanschluss, Umland als flughafenbedingte Wirtschaftszone. Unweit des Zürcher Flughafens in Opfikon-Glattbrugg entscheiden dreihundert MitarbeiterInnen von General Motors Europe über die Geschicke der breit gestreuten Opel-, Vauxhall- und Saab-Werke. Von hier aus werden gerade die Standortwettbewerbe zwischen den Fabriken angeheizt. Als Zentrale im unscheinbaren Gebäude hat man sich schon vor dreissig Jahren die Nähe des Flughafens wie auch des Finanzplatzes Zürich gesichert, ohne dass nur ein Auto in der Schweiz produziert würde. Gleich nebenan entsteht mit dem Glattpark das grösste Stadtentwicklungsgebiet des Landes, welches bald schon durch die Glatttalbahn auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln optimal angeschlossen sein werden. Flughäfen sind also nicht nur eine Stadt in sich selbst, sondern bilden städtische Siedlungsmuster heraus, die sich an ihr Umfeld anlagern.

Die Wertschöpfung von Städten verschiebt sich hin zu ihren vormals peripher gelegenen Flughäfen. Das stadtteilgrosse Hauptquartier von Daimler-Chrysler, ein Musical-Wellness-Hotel-Komplex und wohl bald auch die Messe richten sich am ausgebauten Stuttgarter Flughafen aus – ausserhalb des Talkessels der Kernstadt. Autobahnen, öffentlicher Nahverkehr und Schnellzugsverbindungen bündeln sich – einem zweiten Stadtzentrum gleich – in direkter Nähe zu den Flugsteigen, während alte Sackbahnhöfe wie Zürich, Stuttgart, Frankfurt am Main, Leipzig oder München – vormals Eintrittstore zur Kernstadt – schleunigst per Tunnel durchlässig werden wollen. Der Amsterdamer Bahnhof wird geradezu abgehängt durch eine Südbahn Richtung Schiphol, welche bereits als «Cash-Korridor» bezeichnet wird.

Einbinden und kleinkauen

Barry Whites discolauter Hustler-Song, dazu ein mit Ultrateleobjektiv herangezoomter Jumbo im Landeanflug: Majestätisch schwebte der Blechvogel herab, schwarzes Gas vernebelt die Sicht, die Düsen übertönen im letzten Schwenk Richtung Landebahn krachend den Soundtrack. Das Video von Gerard Holhuis diente Rem Koolhaas als Einführung zu einem Vortrag über Flughafenprojekte von Seoul-Kimpo bis Amsterdam-Schiphol. Den Rotterdamer Architekten versteht man sogar auf Holländisch, wenn er im Stakkato seiner Dias von Crashzones, Lärmstreifen, Höhenbeschränkungen oder Radarschneisen spricht. Für Schiphol lud er alle Parameter in einen Rechner, um so das Optimum an nutzbarer «parasitärer Business-Minimetropole» herauszuschlagen. Und wenn alles zugebaut sei, könne man ja den Flughafen in die Nordsee setzen.

Einst als einsame Standorte weit vor der Stadt geplant, wächst eine neue Stadt um die Flughäfen herum. Die vormals öffentliche Flughafenverwaltung, welche sich mit der Flächenplanung rund um das Einzugsgebiet abzustimmen hatte, ist durch ihre Privatisierung nicht einfacher geworden. Die lokalen Planungsinstanzen hinken der überregionalen Dynamik von Flughafenprojekten oftmals hinterher – was die GegnerInnen weiterer Ausbauten durchaus zu schätzen wissen. Bei Grossprojekten wie der Expansion des Flughafens Frankfurt-Rhein-Main wird der Protest durch langwierige Mediationsverfahren und «Einbindung» kritischer Kräfte kleingekaut und entpolitisiert. Insofern ist das jüngste Scheitern des runden Tischs im Feuerwehrhof Glattbrugg bemerkenswert. Während in Zürich fünf Gemeinden zu konsultieren sind und auch die Kantone sowie die süddeutschen NachbarInnen sich einmischen können – mein Lieblingswort ist der «gekröpfte Nordanflug» –, steht in Amsterdam dem Flughafen nur die «Schiphol-Zone» genannte Grossgemeide Haarlemmermeer gegenüber, deren gemeinsame Flughafenbelange von der Schiphol Area Development Company (SADC) gemanagt wird. Die Airport-Kernstadt – also das Flughafenareal – wiederum unterliegt der Schiphol Real Estate (SRE).

Schiphol war einmal Amsterdams Schlaf-Vorstadt; nun bekommt man dort unter dem ständigen Lärmteppich kaum ein Auge zu. Vergessen scheint der ebenso mysteriöse wie katastrophale Absturz einer EL-AL-Frachtmachine in die Amsterdamer Grosssiedlung Bijlermeer. 1993 starben dort über hundert Menschen – zumeist MigrantInnen aus ehemals niederländischen Kolonialgebieten. Auch im Grossraum Zürich sind es vor allem ärmere, im Osten gelegene Gebiete, die den wachsenden Flugbewegungen ausgesetzt sind, während sich die reicheren Gemeinden gegen den Südanflug zu wehren wissen.

Nicht überall allerdings wird ein Flughafen bekämpft, manche sehnen ihn auch herbei: Nach zwei Stunden Überlandfahrt von Berlin ins brandenburgische Neuhardenberg hängt in zentraler Lage ein Willkommenstransparent für Ryan-Air-Chef Michael O’Leary aus. Was um Himmels willen hat hier ein Flughafen zu suchen – nahe der polnischen Grenze, wo die Bevölkerung spärlich und arm ist? Die Ära der Billigflieger, die wie Langstreckenbusse funktionieren, mischt die Karten des Fluggeschäfts neu auf und lässt Provinzpisten wie Hahn, Weeze oder Altenburg erblühen. Noch ist nicht absehbar, welche neuartigen Airport-Citys hierbei entstehen werden.

Jochen Becker ist Kritiker und Kurator in Berlin. Herausgeber von «bignes? - Kritik der unternehmerischen Stadt»(b-books verlag, Berlin 2001).

Literatur:
Michael und Mathis Güller: «From Airport to Airport City». Editorial Gustavo Gili. Barcelona 2003.
Alexander von Vegesack/Jochen Eisenbrand (Hg.): «Airworld». Vitra Design Museum. Weil am Rhein 2004. «Airport». The Photographer’s Gallery. London 2001.