Krieg in der Ukraine: Die doppelten Wahrheiten eines Verbrechers

Nr. 10 –

Lügen haben Wladimir Putins Weg zur ukrainischen Invasion vorbereitet. Hätte man vor zwanzig Jahren auf Menschen wie die russische Journalistin Anna Politkowskaja gehört, wäre es vielleicht nicht zu diesem Krieg gekommen.

Anna Politkowskaja, Genf, März 2004:

«Unser Präsident ist eine Figur des Fernsehens. Er wird in siegreichen Reportagen über seine Erfolge gezeigt. Die angeblichen Erfolge sieht man zwar nicht, aber alle stellen sich so, als gäbe es sie. Es verbreitet sich eine Haltung wie ‹Na, sollen sie doch tun, was sie wollen, von uns hängt es eh nicht ab›. Ich nenne das soziale Apathie. 

Der Krieg in Tschetschenien, Putins Krieg, ist eine Katastrophe für Russland. Unsere Gesellschaft militarisiert sich. Die Kraft wird mehr geschätzt als der Verstand. Innerhalb von sechs Monaten ist die Duma zu einem Ort geworden, wo bloss noch die Entscheidungen Putins und seines oligarchischen Clans abgesegnet werden. Ein Mensch entscheidet, was aus der Regierung, dem Parlament und aus dem Volk wird.

Wenn sich westliche Politiker lächelnd mit Putin zeigen, ist das ein Verrat an den Prinzipien der Menschenrechte und am Volk der Russischen Föderation. Weil die westlichen Regierungen damit absegnen, dass Putin uns als Hohlköpfe darstellt.

Ich persönlich und die Gefahr, getötet zu werden? Ich habe keinen Schutz als die westliche Anerkennung und den lieben Gott. Ich reise nach Moskau mit der Frage, was isolierte Oppositionelle in Russland Putins Macht entgegensetzen können. Diese Macht nimmt zaristische Ausmasse an. Sie ist eine Katastrophe für Russland. Bald auch für unsere Nachbarn.»

Diese Betrachtungen und Analysen fand ich so in meinem Archiv, sie stammen aus einem Dreh mit der russischen Journalistin Anna Politkowskaja. Zweieinhalb Jahre später wurde sie im Entrée ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Der professionelle Killer wurde seinerseits von einer Gruppe beschattet, man darf annehmen von staatlicher oder staatsnaher Seite. Es wurde kontrolliert, ob der Töter dem Opfer auch gründlich folgte und den Auftrag ordnungsgemäss abschloss. Es war ein delegierter Staatsmord, es handelt sich um Staatsterrorismus.

Neutralität und Opportunismus, persönliche Erfahrung I

Mein Film «Letter to Anna» wurde 2008 in Berlin uraufgeführt. Darin erzähle ich auch die Geschichte von Annas Ermordung. Im letzten Moment zog Swissfilms, die Agentur des Schweizer Films, ihre Unterstützung für Promotion und Premierenfeier zurück. Und Kulturminister Pascal Couchepin, wiewohl in Berlin, kam nicht ins Kino. Beides aus «politischen Gründen», wie man mir in einem Mail freimütig mitteilte. Später erfuhr ich, Bern erwarte bald hohen Besuch aus Moskau.

Neutralität und Opportunismus, persönliche Erfahrung II

Ein paar Jahre später drehte ich einen Film mit Michail Chodorkowski. Der ehemalige russische Oligarch hatte zehn Jahre in der Strafkolonie verbracht und war für viele zum Sinnbild eines neuen, demokratischen Russland geworden. Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Sotschi 2014 liess Wladimir Putin ihn überraschend frei. Chodorkowski war es vor seiner Verhaftung gelungen, bedeutende Mittel ausser Landes zu schaffen, auch in die Schweiz.

Aus dem Umfeld des nunmehrigen Politaktivisten Chodorkowski wurde mir folgende Geschichte erzählt, die ich allerdings nicht überprüfen konnte: Der Exoligarch hatte Geld bei einer Schweizer Privatbank platziert. Als diese von einer grossen, staatstragenden Schweizer Bank übernommen wurde, habe man ihm mitgeteilt, er möge das Geldinstitut wechseln. Weg von der Privatbank, weg aber auch von der Grossbank, zu welcher die kleinere jetzt gehöre. Weshalb? Weil auf dieser Grossbank schon länger beträchtliche kremlnahe Vermögen ruhten. Man könne es sich als Bank, was ja wohl verständlich sei, nicht leisten, die einflussreichen Besitzer in Moskau zu verärgern, die weit grössere Assets in Zürich liegen hätten, jetzt, wo Chodorkowski ein vehementer Kremlgegner sei. So viel zur These, wonach Geld nicht stinke.

Opportunismus und Lügen, persönliche Erfahrung

Es heisst, Russland könne man nicht verstehen, wenn man nicht wisse, wie sehr die doppelte Wahrheit ein Teil des öffentlichen Lebens sei. In Tschetschenien empfing mich 2004 der despotische Herrscher Ramsan Kadyrow jovial vor einer Märchenkulisse aus Springbrunnen und lachenden Kindern, vor seinem übergrossen Konterfei trainierten Ringkämpfer. Sein Vertreter fuhr uns durch die Gegend und erzählte frohgemut, nur einen Monat sei es her, da habe er auch Politkowskaja das Land gezeigt. Sie sei begeistert gewesen über die Aufbauarbeit und die greifbaren Verbesserungen. Ich war kurz geneigt, dem Mann zu glauben, er wirkte ehrlich, arglos beinahe …

Politkowskaja war entsetzt, als ich sie abends vom Militärstützpunkt aus anrief. Nichts von dem, was der Pressesprecher erzählt hatte, stimmte.

Lügen, jetzt aber richtig

Lügen in ganz anderer Grössenordnung haben Putins Weg zur ukrainischen Invasion vorbereitet. Und begleiten weiter den Krieg, in dem junge Menschen aufeinander schiessen, die unter anderen Umständen vielleicht Freunde wären. Westliche Diplomat:innen gaben sich zunächst erstaunt, entrüstet. Ich wunderte mich darüber, dass sie sich erstaunt zeigten.

Dabei ist nicht wichtig, ob es so ist, wie Michel Houellebecq in seinem jüngsten Roman schreibt, dass die besten Lügen jene sind, die der Lügner selbst zu glauben beginnt. Putin zu dämonisieren, ist zu einfach. Ich sehe in ihm keinen kleinen Teufel. Alle, die es wollen, wissen längst, dass er lügt und töten lässt, wenn es dem Interesse dient, das er für übergeordnet erklärt: die russische Sache. Die womöglich nur seine eigene ist. Und jene eines Clans, der sein Geld in der Schweiz und anderswo parkiert und «arbeiten» lässt.

Kriegsverbrechen oder: Man gewöhnt sich an fast alles, persönliche Erfahrung

Mein Film «Coca, die Taube aus Tschetschenien» (2005) erzählt von einem Krieg auf europäischem Boden, von Folter, Mord und Tausenden «spurlos Verschwundenen». Der damalige Justizminister und spätere Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, dessen Söhne gemäss Alexei Nawalny hohe Summen Korruptionsgeld auf Schweizer Konten platzierten, bestätigte vollmundig, Putin habe vollständige Kontrolle über alles, was in Tschetschenien passiere. Ich dachte damals, wenn ich Gerhard Schröder und Jacques Chirac lachend mit dem Kremlchef zeigte, fänden das Zuschauer:innen so empörend wie ich selber – was durchaus der Fall war.

Dann aber setzte eine Art Gewöhnung ein, eine Abnutzung vielleicht, eine internationale Gewöhnung an Putin-Methoden. Man nannte es «Realpolitik» und behauptete, diese sei friedenssichernd. Umgekehrt sei es naiv, idealistisch und also weltfremd, konsequent auf Rechtsstaatlichkeit zu beharren. Gab es Sanktionen gegen russische Personen, etwa nach der Annexion der Krim, traf es mindere Vertreter der Macht. Als herrsche eine Art Gentlemen’s Agreement, wonach der Chef geschont werde. Obwohl alle jederzeit wussten, wer in Russland die wichtigen Entscheidungen fällt.

Insofern hat die koordinierte aktuelle Reaktion der westeuropäischen Regierungen auch die Dimension einer Heuchelei. Sie erfolgt jetzt, wo die Gefahr direkt vor der Tür steht.

Emigration, innere und äussere

Weitere Opponenten der russischen Macht wurden in Westeuropa ermordet. Darauf gab es kaum diplomatische Reaktionen. Angst machte sich breit in der Diaspora, russische Menschenrechtler:innen wurden kleinlaut und zogen aus Furcht in die innere Emigration, sei es in Westeuropa oder zu Hause in Russland. Andere russische Oppositionelle wie Alexei Nawalny landeten unter fadenscheinig legalistischer Inszenierung, ganz im Sowjetstil, in der Strafkolonie. Nicht nur die Schweizer Aussenpolitik verschloss die Augen vor dem, was offensichtlich war. Bis, neulich, ein deutscher Bundeskanzler und kurz darauf ein britischer Premierminister Wladimir Putin als das bezeichneten, was er schon lange ist: ein Kriegsverbrecher.

Recht haben und recht bekommen

Man könnte befinden, Politkowskaja habe mit dem Krieg in der Ukraine quasi recht bekommen. Sie fand die Dinge damals offensichtlich und verzweifelte daran, dass so wenige ihr folgten. Der Krieg um die Ukraine und die westeuropäische Erkenntnis, von diesem direkt betroffen zu sein, führen uns vor, dass Menschenrechte überall und für alle gelten müssen. Duckmäusertum und Opportunismus sind schlechte Ratgeber auf dem Weg zum Frieden. Politik ist mehr als eine Verlängerung des Geschäftemachens. Auch in der Schweiz.

Nachtrag: Fake News und Reality Check

In den letzten Jahren haben Zeitungen begonnen, die galoppierenden Fake News, wie man eine bestimmte Kategorie von Lügen nennt, einem Reality Check zu unterziehen. Aus der Ukraine kommt jetzt der realstmögliche, traurige, blutgeeichte Realitätscheck: Russische Soldaten, gefüttert mit Putins Propaganda von Nazitum und Nationalismus und ausländischen Agenten, stehen vor ukrainischen Frauen und Männern, die ihnen in ihrer Muttersprache klarmachen, dass davon bei ihnen nichts zu finden ist. Dass sie Eroberer sind, keine Befreier.

Putin wird die Dosis der Repression erhöhen – und jene der Fake News. Das könnte irgendwann zu seinem «game over» führen. Uns wird es so oder so auf unser eigenes Verhalten verweisen. Es darf nicht sein, dass für dieses nur die ukrainische (und russische) Bevölkerung den Preis bezahlt.

Der 1957 geborene Autor und Regisseur Eric Bergkraut lebt in Zürich und Paris. Sein Film «Letter to Anna» wurde 2008 mit dem Vaclav Havel Award ausgezeichnet.