Opposition in Russland: Der Geist der Aufklärung zwischen Ost und West
Unbestechlich bleiben! Eric Bergkraut hat Filme über die russische Journalistin Anna Politkowskaja und den Oligarchen Michail Chodorkowski gedreht. Im Prozess gegen Alexei Nawalny erkennt er eine fatale Kontinuität.
Ein junger Schweizer schrieb mir unlängst: Wo und wie könne er gegen die Justizfarce rund um Alexei Nawalny protestieren, die diesen für Jahre in eine Strafkolonie zwingt? Am liebsten vor der russischen Botschaft … Ich hatte keine Antwort. Und erinnerte mich daran, wie mir der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow 2008 gesagt hatte, in Russland könne alles schnell gehen, das Regime Putin halte sich höchstens noch drei Jahre …
Durch verschiedene Umstände kam es, dass ich drei Filme zu Wladimir Putins Russland gemacht habe; alle wurden sie in vielen Ländern gezeigt. Im Rückblick scheint, sie spiegelten eine fatale Kontinuität, die dem Geschichtsoptimismus nicht gerade förderlich ist. Wie der junge Zürcher stand auch ich ungläubig vor einer Justiz, die sich so eindeutig in den Dienst der Macht stellt. Man kann, man muss von Schauprozessen sprechen. Ich erkannte für mich zugleich den Sinn einer wahrhaften Gewaltentrennung, ich erkannte den Wert demokratischer Ordnung. Wie gefährdet immer diese sein mag.
Vor achtzehn Jahren traf ich, zunächst mehr oder minder zufällig, junge Menschen aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Erst erschien mir unglaubwürdig, was sie über Folter, Morde und Entführungen in ihrer Heimat und im Rahmen zweier Kriege erzählten. Die Opfer waren oft genug zivile Personen, die Täter oft genug Männer in russischer Uniform, wenngleich die oft hemmungslose Gewalt, im Schatten des Weltgeschehens, allseitig war.
Ich begann zu forschen und drehte schliesslich «Coca: Die Taube aus Tschetschenien» (2005). Ich erfuhr, wie sehr sich Tschetschenien in der kurzen Zeit der Unabhängigkeit an europäischen Werten orientiert hatte. Dass das lateinische Alphabet, in diesem islamischen Volk ohnehin gegenwärtig, an Einfluss gewonnen hatte. Ich hörte erstmals die These, der Islamismus werde auch genährt durch die gewaltsame Herrschaft der zentralen Macht, und das seit Jahrhunderten.
Die Frauen und der Krieg
Ich lernte furchtlose Frauen kennen, die gegen die Verletzungen der Menschenrechte mobilmachten, allen voran Sainap Gaschajewa, von FreundInnen «die Taube» genannt (heute lebt sie im Exil in der Schweiz). Sie filmten und schrieben auf, das war lebensgefährlich. Die Helden dieser Zeiten waren weiblich. Ihre Männer waren stumm und solidarisch oder hielten Bienen in jenen inguschischen Wäldern, in denen wir Schaschlikfeste feierten, trotz allem: Immer wieder verschwanden Oppositionelle spurlos, und man hörte nie mehr von ihnen.
Ich wollte nicht ausschliesslich Tschetscheninnen zeigen, die versuchten, Mord und Totschlag an ZivilistInnen zu dokumentieren, und dabei (vergeblich) auf internationale Gerichte hofften. Ich suchte auch Russinnen. So landete ich im Moskauer Büro von Anna Politkowskaja, zugleich kriegserprobte Freundin von Sainap. Ich filmte, wie sie in den Räumen der «Nowaja Gaseta» aufgeregt auf das Feedback des Chefredaktors wartete: War der Text zu kritisch, riskierte das Blatt mit diesem womöglich seine Schliessung? Oder war die Zeitung, wie andere meinten, gar nicht gefährdet, weil ohnehin vom Geheimdienst kontrolliert und weil es doch besser war, ein Oppositionsblatt zu haben und auch zu führen, als gar keines zu dulden oder eines, das wirklich unabhängig wäre?
Anna erzählte mir in allen ihr bekannten Details, wie man versucht hatte, sie im Flugzeug, auf dem Rückweg von einer Vermittlungsaktion, mit Tee zu vergiften. Lange vor Alexei Nawalny. Und doch verblüffend ähnlich. Auch ihr Leben wurde im Krankenhaus durch russische ÄrztInnen gerettet, die den hippokratischen Eid ernster nahmen als anderes. Später musste ich dokumentieren, wie sie doch ermordet wurde; daraus wurde ein nächster Film. Ich hatte Bilder aus Überwachungskameras, die zeigten, wie ein zweiter Ring von Beschattern jenen ersten kontrollierte, aus dessen Reihe schliesslich der Mörder treten sollte: vom Einkauf im Supermarkt Ramstor bis vor die Haustür. Vom zweiten Ring hörte man später nichts mehr.
Guter Westen, schlechter Osten?
Und wir, stolze VertreterInnen der «freien Welt»? An der Berlinale lief im Jahr 2008 kein anderer Schweizer Film als eben unserer, «Letter to Anna», montiert aus alten und neuen Aufnahmen. Im letzten Moment hatte Swiss Films, die Promotionsagentur des Schweizer Films, seine Unterstützung der Premiere zurückgezogen, «pour des raisons politiques», wie die damalige Leiterin in aller Offenheit schrieb. Doppelt motiviert, lud ich anlässlich eines Aperitifs den Kulturminister Pascal Couchepin zum bevorstehenden Screening ein; er wich aus. Meine Irritation verstärkte sich, als der Leiter eines Schweizer Festivals, der den Film sofort eingeladen hatte, mir sagte, der Bundesrat habe ihm gesagt: «Comment, vous invitez ça?!»
Bei meinem zweitletzten Austausch mit Politkowskaja, rund um die Premiere von «Coca» in Frankreich, hatte ich eine unangenehme Nachricht für sie: Soeben hatte mir der Kulturattaché der Schweizer Botschaft in Paris eröffnet, wir müssten die schon ausgesprochene Einladung an Politkowskaja leider zurücknehmen. Auf dem Podium sei ja schon eine Tschetschenin … Anna nahm es gelassen, sie kannte die Mechanismen der westeuropäischen Diplomatie. In einem Punkt irrte sie: Ihre Bekanntheit im Westen war für sie kein Schutz. Heute wirken ihre diesbezüglichen Überlegungen wie aus einer anderen Zeit; längst wird den RussInnen erklärt, die dekadente liberale Demokratie sei an ihrem Individualismus gescheitert. An uns, das Gegenteil zu beweisen.
So viel zur Unteilbarkeit der Menschenrechte, die für Linke wie für Rechte gleichermassen Massstab sein müsste, auch für Schweizer Minister. Und so viel vielleicht auch dazu, weshalb junge Menschen uns fünfzehn Jahre später ratlos fragen, wie das mit Nawalny heute möglich sei. Junge Menschen, die zweifeln müssen, ob Ethik und Moral in der grossen Politik irgendeinen Platz haben. Beide Begriffe – in der konkreten Anwendung gewiss komplex und leicht zu missbrauchen – werden in der Debatte heute öfter benutzt, als handle es sich um Schimpfwörter. Oder es wird, wenn es um ethische Fragen geht, gegen eine angebliche Moralisierung der Politik moralisiert …
Anna war nicht die Einzige in Russland, die sich kompromisslos für Menschenrechte einsetzte und das System Putin analysierte. Und nicht die Einzige, die dafür mit dem Leben bezahlt hat. Besonders vielleicht: Sie war sanft und radikal zugleich, sie war kompromisslos, niemals aber fanatisch; unser letzter Händedruck in Genf wurde mir zur mahnenden Erinnerung.
Ein paar Jahre später sass ich in Paris in einem Café. Der Vertreter einer mächtigen PR-Agentur hatte mich treffen wollen. Er fragte, wie teuer es sei, über seinen Klienten Michail Chodorkowski einen Film zu machen. Durch seine Vermittlung tauschte ich mit Putins ewigem Häftling bald Briefe und verstand: Wer sich im Gefängnis nicht brechen lässt, entwickelt eine eigene Kraft. Bald glitt ich im Zug wie in Zeitlupe zwanzig Stunden durch die endlose karelische Birkenlandschaft; drei Mal nur stoppten wir und holten Räucherfisch an Bord. Ich reiste mal mit Chodorkowskis Anwältin, die wie eine Löwin für ihre Klienten kämpfte, mal mit seinen traurig-lakonischen Eltern, die uns auf die Spuren des sowjetischen Gulag aufmerksam machten, die den Weg säumten.
Einen Bahnhof bot Segescha nicht, ein schlichter Bau bildete den Haltepunkt, es war ja auch kein Touristenort, der Zug zog seine Bahn weiter bis Murmansk.
In der Stadt lebten überwiegend entlassene, dem Alltagsleben entwöhnte Exhäftlinge, oft mit neuen Familien. Die Wintertage waren zum Greifen kurz, jene im Sommer ohne Ende, dennoch verschwand das Eis auf den Strassen nur für kurze Wochen. In jeder Lichtstimmung filmten wir aus dem Auto die Umrisse der lang gezogenen Kolonie Nr. 7, leicht ausserhalb der Stadt; für die Travellings nutzten wir die Stunden des Schichtwechsels der Aufpasser und fanden einen neuen Fahrer, als es dem ersten zu gefährlich wurde. Reingehen und Chodorkowski treffen, das war nicht möglich. Aber ich drehte tatsächlich einen Film, ganz ohne die Gelder einer Agentur natürlich.
Kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi wurde Chodorkowski freigelassen (heute lebt er im Exil in London). Putin hoffte wohl, zusätzlich zum weissrussischen Präsidenten etwas mehr internationale Gäste an die Eröffnungsfeier zu bekommen. Kurz darauf wurde die Ostukraine besetzt. Und noch etwas später besuchte mich Chodorkowski in meinem Atelier in Zürich. Ein intensiver Nachmittag, ganz ohne Aufpasser, aber mit drei Kameras. Wir dachten, das Eis sei gebrochen, aber dann ging es nicht recht weiter.
Ich traf auch seine Berater, die sich wunderten, weshalb damals eine einfache Gerichtsschreiberin das erste, viel mildere Urteil öffentlich gemacht und damit ihre Existenz riskiert hatte; sie hatte es ausgedruckt im Papierkorb gefunden. Später war das Urteil auf Weisung umgeschrieben worden. «Rechtschaffenheit», um ein altmodisches Wort zu benutzen, schien als Motiv der Frau nicht in Betracht zu fallen.
Chodorkowski war freundlich, aber er liess sich nicht in die Karten schauen; nichts hatte ich unversucht gelassen. Ich glaube, der ehemalige Wirtschaftspionier (als Oligarch mochte er nicht bezeichnet werden) hätte den enormen Respekt, den er sich durch die unbeugsamen Jahre in der Strafkolonie in der russischen Gesellschaft erarbeitet hatte, besser verwalten können: durch mehr Zugänglichkeit, allenfalls auch Selbstkritik. Vielleicht hätte er so seinen Einfluss in Russland höher gehalten.
Sport und Politik
Wohl war ich etwas enttäuscht darüber, dass Chodorkowski nicht mehr preisgegeben hatte; schwieriger konnte es mit Putin selber kaum sein. Ich meldete mich bei einem Zürcher Nachbarn an, einem guten, engen (Sport-)Freund des Wladimir Putin: Wer, wenn nicht er, konnte mir das Tor zum Kreml öffnen? Es verbindet die Männer das Eishockey. Unbekannt bleibt, ob die Männer auch in jenem unterirdischen Eispalast ihre Spiele treiben, den Nawalny jüngst als Putins versteckten Besitz bezeichnete, der aber tatsächlich einem Oligarchen gehören könnte, weil ein Präsident, der quasi ein ganzes Land besitzt, gewiss keines Grundbucheintrags bedarf.
Später sass ich in der russischen Botschaft in Bern, mit offenem Visier, ein distinguierter Austausch. Meine Idee: Ich filme Putin während 24 Stunden, montiere daraus einen Film einschliesslich meiner Kommentare, zeige die Arbeit dem Präsidenten, wir filmen zeitgleich seine eigenen Anmerkungen dazu. Aus diesen beiden Bewegungen, zusammengeschnitten, entsteht letztlich der Film, transparent in Standpunkt und Machart. «Hmm», sagte man mir, «sehr interessant, wir halten Rücksprache und melden uns bei Ihnen.»
Wohl war mein Vorschlag naiv. Aber ich musste ihn einbringen, es gehörte zur Geschichte. Wie heisst es doch: Wer einen Menschen rettet, rettet die Menschheit, wer einen Menschen tötet, tötet die Menschheit. Wenn ein Filmemacher glaubt, er greife ins Weltgeschehen ein, überschätzt er sich. Bis an die Grenze zur Lächerlichkeit. Aber genau dies nicht zu tun, würde den Zauber des Möglichen schmälern. Was ein Filmemacher darf, wie jede Bürgerin und jeder Bürger, und was keine Anmassung ist: eine Haltung einnehmen.
Eine propagandisierte Welt
Viel wird heute über Identitätspolitik gesprochen. Über eine linke, die etwa dazu führt, dass in mitunter dogmatischer Strenge diskutiert wird, ob das Gedicht einer Schwarzen Autorin auch von einer weissen Frau übersetzt werden dürfe. Oder eine rechte, die davon ausgeht, dass sich SchweizerInnen à priori besser mit SchweizerInnen verstehen als mit «Fremden» (wogegen allein schon die Ehestatistik spricht). Prägen denn, um den nächsten Modeausdruck zu benutzen, nicht immer mehr hybride Identitäten die Welt? Und zeigt uns die Geschichte nicht drastisch, wohin Konzepte der Reinheit führen?
Ich glaube nicht, dass es zu den Werten der Aufklärung eine Alternative gibt, wenn unsere Spezies überleben soll. Ein Bundesrat schrieb neulich, eine liberale Demokratie könne nur bestehen, wenn man sich offen auf die Argumente der Andersdenkenden einlasse. Die Aufklärung habe gelehrt, Fragen ergebnisoffen zu stellen. Statt weniger Tabus gebe es heute aber immer mehr. Der freisinnige Politiker befindet sich damit in überraschender argumentativer Übereinstimmung mit US-DenkerInnen um Anne Applebaum oder Noam Chomsky, die schon letztes Jahr anmahnten, neue emanzipatorische Bewegungen müssten das aufkommende dogmatische Klima der Intoleranz in den eigenen Reihen bekämpfen. Das passt zu Erfahrungsberichten junger Menschen aus meinem erweiterten Umfeld, etwa aus verschiedenen Hochschulen: Ein neuer, ideologisierter Konformismus mache sich breit.
Mir scheint, die Welt propagandisiere sich, nicht nur in Russland. Als zerfalle die Öffentlichkeit in lauter Sekten. Und ich denke an einen anderen Film, den ich vor Jahren gedreht habe, über die Sonnentempler. Sekte und Orden in einem. Esoterischer Tümpel und historienschwangerer Männerbund. Vor allem aber, zumindest in der letzten Phase, eine betrügerische und mörderische Bande, die mit den überforderten Schweizer Behörden Katz und Maus spielte; vermutlich müssen Sekten so enden, weil sie hermetisch sind.
Die Wahrheit ist zumutbar
«Ja, die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist», lässt der in Zürich jung verstorbene Georg Büchner in «Dantons Tod» einen unbestimmten «Zweiten Mann» sagen. Der Dichter und Mediziner beschreibt, als wie dünn sich der Boden erweisen kann, auf dem wir scheinbar sicher wandeln. Dabei fahren wir vielleicht besser, wenn wir manche Unsicherheit einkalkulieren und aushalten. Je brüchiger sich die zivilisatorische Ordnung zeigt, je stärker es ans Eingemachte geht, und sei es durch eine Pandemie, desto stärker erscheint der Drang nach Zugehörigkeit und steter Bestätigung darin: recht haben wollen vor Erkenntnis.
Am 6. Oktober werden es fünfzehn Jahre sein, seit Anna Politkowskaja im Eingang ihres Moskauer Wohnhauses erschossen wurde. Wer würde sich nicht gelegentlich an eine Ikone der Unbestechlichkeit lehnen, in Zeiten, in denen tatsächliche oder zu erwartende Börsenkurse als der zuverlässigste gesellschaftliche Kompass erscheinen? Politkowskaja ist ein kraftvolles Beispiel in Sachen Haltung. Und der so berechenbar ablaufende «Fall Nawalny» ein zwingender Grund, eine solche zu entwickeln, auch für die Schweiz: Wenn Nawalny aus den internationalen Schlagzeilen verschwindet, beginnt sein Alltag in der Strafkolonie erst.
Die Mailfrage des jungen Mannes, der wissen möchte, wie er über die russische Botschaft in Bern das Schicksal Nawalnys beeinflussen könnte, ist damit nicht beantwortet. Ich möchte ihm sagen: Danke, dass Sie mich zu einer Selbstreflexion angeregt haben. Schon dass Sie Ihre Frage aufwerfen, ist ein Signal der Zukunft. Aber Sie werden Geduld brauchen, auch eine Prise Überlebenssarkasmus. Aufgeben ist keine Alternative.
Eric Bergkraut
Geboren 1957 in Paris, ist Eric Bergkraut seit 1991 hauptsächlich als Dokumentarfilmer tätig.
Zuletzt feierte sein Film «Wir Eltern» (2019) in Locarno Premiere, entstanden in Koregie mit seiner Partnerin, der Schriftstellerin Ruth Schweikert. Im gleichen Jahr ist im Limmat-Verlag sein Buch «Paradies möcht ich nicht. Roman einer Familie» erschienen.