Corona: Kein Gehör für Risikopatient:innen

Nr. 16 –

Drei Wochen nach der Aufhebung der «besonderen Lage»: Mit dem Ende der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und der Isolationspflicht für Infizierte hat sich die Situation für besonders gefährdete Personen noch einmal verschlechtert.

Endlich wieder ohne Maske reisen! Doch nicht alle freuen sich über das Ende aller Massnahmen. FOTO: VALENTIN FLAURAUD, KEYSTONE

Mitte dieser Woche befanden sich nur noch rund achtzig Personen wegen Corona auf Intensivstationen, und auch die Zahl der Todesfälle ist markant zurückgegangen (etwa fünf pro Tag in der letzten Woche). Für viele gesunde Menschen mag das beruhigend sein. Wie aber fühlt sich diese Phase, in der sich täglich immer noch Tausende von Menschen mit dem Virus infizieren, für Hochrisikopersonen wie etwa speziell immungeschwächte Menschen mit Krebs, Multipler Sklerose oder Autoimmunerkrankungen an?

Markus Schley zum Beispiel leidet unter fortgeschrittener Multipler Sklerose, er ist rollstuhlabhängig und kann wegen einer Sehbehinderung auch nicht selber Auto fahren. Wie viele Hochrisikopatient:innen läuft er trotz mehrfacher Impfung Gefahr, durch eine Infektion mit dem Coronavirus schwer zu erkranken oder gar zu sterben.

Minimalforderungen

Schley, der sich an seinem Wohnort Basel-Stadt in der selbstorganisierten IG Risikogruppe engagiert, ist ein freundlicher Mensch und kann die Erleichterung vieler Menschen über das Ende der Massnahmen nach zwei Jahren Pandemie verstehen. Nur: «Der Zeitpunkt der vollständigen Aufhebung aller Massnahmen Anfang April war viel zu früh. Mit einer derart hohen Ansteckungsrate ist das Risiko für besonders vulnerable Menschen extrem hoch.»

Auf Kinobesuche oder so lasse sich ja noch mehr oder weniger schmerzlos verzichten. «Was aber für Betroffene wie mich, die regelmässig auf medizinische Behandlungen angewiesen sind, unverzichtbar ist, ist das Benutzen des ÖV. Abgesehen davon, dass auch wir ein Recht auf ein wenig Freizeit haben: Dass der Bundesrat die Maskenpflicht auch in diesem Bereich sowie in Einkaufsläden aufgehoben hat, ist eine Ohrfeige für alle Risikogruppen.»

Schley muss aufgrund seiner Multiplen Sklerose ein Medikament nehmen, das Abwehrzellen vernichtet – sodass die Immunitätswirkung einer Impfung stark verringert wird. Noch bedrohlicher ist die Situation für Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen gar nicht impfen lassen können.

«Es braucht flankierende Massnahmen zum Schutz der Vulnerablen», sagt Eveline Siegenthaler. Die Medizinjournalistin, selbst eine Risikopatientin, ist bei der IG Risikogruppe ehrenamtlich für die Leitung zuständig. Siegenthaler nennt Massnahmen, die mit wenig Aufwand verbunden wären und die Freiheit der weniger verletzlichen Menschen kaum einschränken würden: etwa eine Maskenpflicht in speziellen SBB-Wagen oder zu Randzeiten in Läden und anderen öffentlichen Gebäuden.

Doch selbst solche Minimalforderungen stossen in Politik und Wirtschaft auf wenig Anklang. Am ehesten noch gebe es Aktionen aus der Zivilgesellschaft oder von einzelnen Betrieben, sagt Siegenthaler. Sie erwähnt die diesjährige Soliaktion der Basler Fasnachtscliquen, die auf einer stark erweiterten Route zirkulierten, sodass es kein zu grosses Gedränge gab.

Was für ein kleines bisschen an Freiheit soll ein Nichtvulnerabler dafür opfern, dass die Freiheit von Vulnerablen nicht allzu sehr eingeschränkt ist? Von der wissenschaftlichen Task Force Swiss National Covid-19 gibt es dazu keine Antworten – sie wurde Ende März aufgelöst. Isabella Eckerle, leitende Virologin an den Universitätskliniken in Genf, die sich immer wieder kritisch in die Debatte einbringt, hat eine klare Meinung: Die Abschaffung der Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen und die Aufhebung der Isolation seien «falsch und kurzfristig gedacht», schrieb sie am 1. April auf Twitter. «Der Schaden durch Ausfall, unbekannte Langzeitfolgen & Risiko für Vulnerable steht in keinem Verhältnis dazu.» Zur verbreiteten Meinung, gute Behandlungsmöglichkeiten würden die Prävention von Covid-Erkrankungen obsolet machen, meint sie: «Das ist das Gegenteil von dem, was Public Health ausmacht. Prävention sollte immer die Priorität sein.»

Warten auf Medikamente

Nun ist es ja nicht so, dass der Bundesrat die Pandemie für beendet erklärt hätte, hielt er doch anlässlich der Aufhebung der letzten Massnahmen – Isolationspflicht für Infizierte und Maskenpflicht im ÖV – fest: «Das Coronavirus wird höchstwahrscheinlich nicht verschwinden, sondern endemisch werden. Es ist damit zu rechnen, dass es auch in Zukunft zu saisonalen Erkrankungswellen kommt.» Bis im Frühling 2023 sei daher eine «Übergangsphase mit erhöhter Wachsamkeit und Reaktionsfähigkeit» angezeigt (das Papier dazu geht bis Ende dieser Woche in Konsultation). Grundsätzlich geht es dabei darum, Strukturen so weit zu erhalten, dass die Kantone und der Bund rasch auf neue Entwicklungen reagieren können.

Was aber heisst das für die bis zu 200 000 Menschen, bei denen eine Covid-Impfung kaum wirkt? Zwar hat der Bundesrat in der Covid-19-Verordnung Massnahmen wie etwa die Erleichterung des Bezugs von Arzneimitteln für schwer Immungeschwächte beschlossen. Stand jetzt allerdings ist die Schweiz, verglichen mit den Nachbarländern, diesbezüglich schlecht aufgestellt. Von zwölf Medikamenten, die Swissmedic auf seiner Liste führt, ist über die Hälfte noch nicht zugelassen. Die vier Medikamente, für deren Entwicklung der Bundesrat im Mai 2021 ein Förderprogramm verabschiedete, sollen laut dem Bund «mit grosser Wahrscheinlichkeit bis Ende 2022» verfügbar sein.

Derweil hierzulande zugängliche Medikamente nur ungenügend gegen die derzeit dominante Variante Omikron BA.2 wirksam sind, können Risikopatient:innen in den Nachbarländern schon seit Ende Februar von Paxlovid-Tabletten profitieren. Laut aktuellen Statistiken könnten damit neun von zehn schweren Verläufen verhindert werden – auch bei Ungeimpften. Hierzulande dürfen sie laut Swissmedic und auf Empfehlung des Bundesamts für Gesundheit zwar verschrieben werden, sind aber noch nicht definitiv zugelassen und müssen damit mühsam aus dem Ausland besorgt werden.

Heisst also: weitere Monate erhebliche Freiheitseinschränkungen für Tausende von Menschen, die Tag für Tag von neuem überlegen müssen, wie sie ihren zusätzlich erschwerten Alltag meistern. So auch Markus Schley. Doch will er nicht anklagen. Vielmehr hätte er einen Vorschlag für eine weitere Massnahme, für die es keinen allzu grossen Aufwand benötigte – und die keinerlei Freiheitseinschränkungen für nichtvulnerable Personen nach sich ziehen würde: «Nur schon, wenn die Allgemeinheit im ÖV und an weiteren neuralgischen Orten mit Infotafeln, Durchsagen oder auf Bildschirmen freundlich darauf hingewiesen würde, dass es Menschen gibt, die zwingend auf das Tragen einer Maske angewiesen sind, würde dies das Bewusstsein für unsere Situation steigern – und es wäre vielleicht auch eine Einladung an die eine oder andere selbst nicht besonders gefährdete Person, an gewissen Orten für ein paar Minuten freiwillig eine Maske zu tragen.»