Chancengleichheit in der Bildung: Die Klassenfrage im Schulzimmer

Nr. 11 –

In Schweizer Schulen haben Unterschichtkinder schlechte Karten. Die Fachleute streiten sich über die Ursachen.

Ohne grosse Empörung hat die Presse den Skandal zur Kenntnis genommen: Die Schweiz schneidet - zusammen mit Deutschland - in Sachen Chancengleichheit in der letzten Pisa-Studie besonders schlecht ab. Beiden Ländern ist es in den vergangenen vierzig Jahren nicht gelungen, an der ungleichen «Bildungsvererbung» zwischen den sozialen Schichten etwas zu ändern.

Neu ist diese Erkenntnis nicht. Die Soziologen Markus Lamprecht und Hanspeter Stamm haben schon in den neunziger Jahren belegt, dass zwar das durchschnittliche Ausbildungsniveau in den vergangenen dreissig Jahren gestiegen ist und sich auch die Chancen der Frauen auf eine weiterführende Bildung erhöht haben. Von dieser Bildungsexpansion haben aber Reiche und Arme gleichermassen profitiert. Die Chancenungleichheit zwischen Kindern unterschiedlicher Schichten ist also - auf höherem Niveau - gleich geblieben. Wie neue Studien von Lamprecht und Stamm, des Observatoire universitaire de l’emploi in Genf und der Caritas zeigen, war im Jahr 2000 die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Akademikerfamilien einen Maturaabschluss machen, immer noch viermal grösser als bei Kindern aus Arbeiterfamilien.

Frühe Selektion

Die Aufmerksamkeit für Schichtunterschiede erlebt deshalb in der Bildungsdiskussion eine Renaissance. Allerdings sind die Erklärungen für die anhaltende Ungerechtigkeit alles andere als einmütig: Ist das Schulsystem zu wenig leistungsorientiert oder zu selektiv? Zu verspielt, zu elitär oder beides zugleich? Zu offen für gesellschaftliche Entwicklungen oder zu verbunkert in den eigenen Strukturen?

Einfache Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Der von den Soziologen Rolf Becker (Universität Bern) und Wolfgang Lauterbach (Universität Münster) herausgegebene Band «Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit» weist zum Beispiel nach, dass frühe Selektion die Chancenungleichheit verschärft. Wenn Kinder mit zwölf Jahren auf verschiedene Schultypen aufgeteilt werden, spielt die Herkunft in dreifacher Weise eine Rolle. Erstens entscheiden sich Mittelschichtseltern öfter als Unterschichteltern dafür, ihre Kinder speziell zu fördern und zu fordern. Zweitens verstärken viele LehrerInnen diesen Effekt: Sowohl bei der Notengebung als auch bei den Empfehlungen für den Schulübertritt ist statistisch nachgewiesen, dass die Herkunft der Eltern die LehrerInnen in ihrer Einschätzung zu Ungunsten der Unterschichtkinder beeinflusst. Und drittens sind diese tendenziell schlechter auf den Schuleintritt vorbereitet und können diesen Rückstand im Unterricht nicht aufholen.

Sind die Kinder erst einmal auf die verschiedenen Schultypen aufgeteilt, werden sie unterschiedlich unterrichtet: Wenn sie fünfzehn Jahre alt sind, ist der «gewählte» Schultyp die aussagekräftigste Variable, um ihre Lese- oder Mathematikleistungen vorauszusagen. Modellrechnungen und der Pisa-Vergleich mit Kanada und Finnland lassen den Schluss zu, dass ein Unterricht in gemeinsamen Schulen bis nach dem neunten Schuljahr die Chancengleichheit verbessert, ohne die Leistungen der guten SchülerInnen zu verringern. Mit andern Worten: Jugendliche hätten also drei Jahre mehr Zeit, um den statistischen Wahrscheinlichkeiten ein Schnippchen zu schlagen. Die Weichen für ihre Zukunft würden nicht schon gestellt, bevor sie überhaupt beginnen, selber Perspektiven zu entwickeln.

Bildung als Fluch

Aber worauf sind die unterschiedlichen Startbedingungen zurückzuführen, und wie könnten sie ausgeglichen werden? Gängig ist die vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu inspirierte Argumentation, dass das kulturelle Kapital der Eltern die Einstellungen, Vorlieben und Fähigkeiten der Kinder prägt. Auch bürgerliche PolitikerInnen haben nach Pisa 2000 gefordert: Wenn Eltern nicht lesen und ihren Kindern kein Interesse an Kunst und Wissenschaft vermitteln, müssen öffentliche Instanzen einspringen. Becker und Lauterbach relativieren die Hoffnungen, die in vor- und ausserschulische Kinderbetreuung gesteckt werden. Sie vermuten, das die schlechte Qualität der deutschen «Kinderaufbewahrungsanstalten» dafür verantwortlich ist, dass sozial benachteiligte Kinder hier wenig für die Schule profitieren.

«Bildung als Privileg und Fluch» betiteln Matthias Grundmann, Uwe H. Bittlingmayer, Daniel Dravenau und Olaf Groh-Samberg ihren Artikel im selben Band. Sie bestreiten, dass es nur darum gehe, ein Manko an Bildungsinput auszugleichen, damit Unterschichtkinder in der Schule mithalten können.

Die Autoren vergleichen alltäglich-informelle Bildungsprozesse in Familien und Freundeskreisen mit formellen Bildungsprozessen in der Schule. Sie zeigen, dass die Schule bei den «Handlungsbefähigungen und Kompetenzen» von Mittelschichtskindern anschliesst, während Kinder aus unterprivilegierten Milieus die Erfahrung machen müssen, dass das, was sie in der Familie gelernt haben, nicht viel wert ist. Mittelschichtskinder hätten stark das Gefühl, dass ihre Handlungen eine Wirkung zeitigen und dass sie die Folgen des eigenen Handelns kontrollieren können. Bei Kindern aus bildungsfernen Milieus sei dies nicht der Fall. Deshalb reagierten sie auf die schulischen Anforderungen ängstlich und niedergeschlagen. Das aggressive Zurückweisen der Anforderungen könne zwar zum Erhalt des Selbstwerts beitragen. Doch mit beiden Verhaltensweisen schadeten sich Kinder in einer «Mittelschichtsschule», die sich am Ideal der «mündig-autonomen Lebensführung» orientiere. Diese mangelnde Anpassung an die Schule sei zugleich eine gelungene Anpassung an die unterschichttypischen Arbeitszusammenhänge, die sich in den Erziehungsstilen der Eltern fortsetzen: Ordnung, Unterordnung und Disziplin gelten hier mehr als selbständiges Handeln.

Zwang zur Selbstentfaltung

Diese Argumentation ist besonders brisant, wenn man sie auf die Hochkonjunktur nichttraditioneller Unterrichtsformen wie selbstgesteuertes Lernen, Werkstattunterricht und Problem-Based-Learning (PBL) bezieht. DozentInnen und LehrerInnen, die mit solchen Methoden arbeiten, bauen stark auf die Motivation und Eigenaktivität der SchülerInnen in einem klar abgesteckten Rahmen. Für Grundmann ist die Förderung von selbstgesteuertem Lernen eine Reaktion auf die «Wissensgesellschaft», das heisst auf eine ökonomische Realität, in der die Wissensbestände unüberschaubar geworden sind und sich ständig verändern. Das bildungsbürgerliche Ideal einer gefestigten Allgemeinbildung ist hinfällig geworden. Kinder aus bildungsfernen Milieus müssen nicht mehr zu einem verfeinerten Drang nach Wissen um des Wissens willen erzogen werden. Ein funktionales, an der Nützlichkeit orientiertes Verhältnis zu Wissen, das eher dem Alltagsverständnis unterprivilegierter Schichten zugerechnet wird, setzt sich durch. SchülerInnen lernen nun, situationsbezogen das jeweils relevante Wissen zu beschaffen und anzuwenden.

Doch der Zwang zur ständigen Aktualisierung des «flexiblen, erneuerbaren und arbeitsmarktfähigen» Wissens erfordert die alten mittel- und oberschichtspezifischen Handlungskompetenzen. Wer seinen eigenen Handlungen keine Wirkung zutraut, investiert nicht in die Weiterbildung. In Fortführung dieses Gedankens könnte man das Bildungsideal der aktuellen «Mittelschichtsschule» als Orientierung an der unternehmerisch-autonomen Lebensführung bezeichnen. Kinder und Jugendliche werden auf einen flexibilisierten Arbeitsmarkt vorbereitet, der die Selbstentfaltung im Dienste der Unternehmen fordert. Dieser Arbeitsmarkt wird allerdings immer knapper, und der prekäre Billiglohnbereich, in dem weder Selbstentfaltung noch selbständiges Denken gefragt sind, wächst.

Es kann einer Tochter von ArbeiterInnen also passieren, dass sie nach neun Jahren engagierter Entwicklung ihrer Selbststeuerung und Problemlösungskompetenz von einem Bildungsdirektor zu hören bekommt, sie solle bei der Lehrstellensuche nicht so wählerisch sein und einen Beruf lernen, der sie nicht interessiert. In diesem Moment könnte die Frage auftauchen, wie eine «mündig-autonome Lebensführung» von Frauen und Männern aussieht, die auf dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt keinen Platz haben.

Literatur:

Rolf Becker, Wolfgang Lauterbach (Hg.): «Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit». VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden 2004. 451 Seiten. Fr. 69.40.

Jeannine Silja Volken, Carlo Knöpfel: «Armutsrisiko Nummer eins: geringe Bildung. Was wir über Armutskarrieren in der Schweiz wissen». Caritas-Verlag. Luzern 2004. 123 Seiten. 18 Franken.

Hanspeter Stamm, Markus Lamprecht: «Die Entwicklung der Sozialstruktur. Analyseprogramm zur Volkszählung 2000 des Bundesamts für Statistik». Neuenburg 2004. (zu beziehen über www.lssfb.ch)