Schweizer Bildungspolitik: «Wer hat, dem wird gegeben»

Nr. 43 –

Höhere Bildung ist der Schlüssel zu beruflichem Erfolg. In der Schweiz entscheiden allerdings nicht Begabung und Leistung über den Zugang zu diesem Honigtopf, sondern in erster Linie die soziale Herkunft. Chancengleichheit gibt es nicht.

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Mitra kam vor zwei Jahren mit ihren Eltern aus Afghanistan in die Schweiz. Sie hat rasch Deutsch gelernt, ist eine sehr gute Schülerin und will Zahnärztin werden. Saad verbrachte die ersten Lebensjahre in Pakistan, er will Chirurg werden. Victoria ist Spanierin und lebt seit 2009 in der Schweiz, ihr Berufsziel: Kinderärztin.

Auch die anderen zehn Jugendlichen, die an einem Samstagmorgen im September gemeinsam mit Mitra, Saad und Victoria die Schulbank drücken und in den nächsten Monaten für die Aufnahmeprüfung für eine Mittelschule trainieren, trauen sich etwas zu und verfolgen ehrgeizige Berufsziele. Und ihnen wird das auch zugetraut. Im Schulzimmer herrscht eine konzentrierte Atmosphäre. Alle sind ausnahmslos bei der Sache.

Die acht Mädchen und fünf Burschen pendeln aus unterschiedlichen Sekundarschulen im Kanton Zürich jeweils am Mittwochnachmittag und Samstagmorgen ins Stadtzürcher Gymnasium Unterstrass in den Kreis 6 zum Training. Was die jungen Leute verbindet: Sie sind lernbegierig, leistungswillig und aufgeweckt; und ihre Eltern sind MigrantInnen mit tiefem Einkommen und hohen Erwartungen an ihren Nachwuchs. Das vom Gymnasium initiierte und zunächst durch Stiftungen finanzierte Programm mit dem umständlichen Namen «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn» und der malerischen Abkürzung Chagall gibt es seit 2008 und ist für die TeilnehmerInnen kostenlos.

In den Genuss dieser Förderung kommen pro Jahr nur rund ein Dutzend Kinder aus reinen Migrantenfamilien. Die von ihren Schulen empfohlenen Jugendlichen durchlaufen ein ausgeklügeltes Aufnahmeverfahren (vgl. «Gemeinsam und ohne Prüfungsangst ans Ziel» im Anschluss an diesen Text). Das Programm verlangt – zusätzlich zum Unterricht an der Sekundarschule – von den Jugendlichen enormen Einsatz. Neben dem Lernen bleibt kaum Freizeit. Ihre Trainerin Janja Maric sagt: «Es ist eine Freude, mit ihnen zu arbeiten. Natürlich haben sie auch Motivationsschwankungen, es sind Jugendliche. Aber sie motivieren sich gegenseitig und werden von ihren Eltern gestützt. Sie spüren, dass dieses Programm für sie eine grosse Chance ist.» Maric kann sich gut in die Lage der SchülerInnen einfühlen. Auch sie wuchs in einer Migrantenfamilie auf. Ihre Eltern legten zwar Wert auf eine gute Ausbildung. Aber bis ihr Lehrbetrieb sie ohne ihr Wissen an der Berufsmittelschule anmeldete, «wussten meine Eltern und ich nicht einmal von dieser Möglichkeit».

Ohne die Berufsmatura hätte Janja Maric wahrscheinlich nicht den Bildungsweg eingeschlagen, den sie nach der KV-Lehre wählte: Sie holte danach über die sogenannte Passerelle in zwei Semestern die Matura nach und studierte dann Germanistik und Geschichte. Mitra, Saad, Victoria und ihre KollegInnen haben gute Aussichten, dass ihr Bildungsweg so erfolgreich verläuft wie der ihrer Trainerin. Wie eine Evaluation der Universität Zürich ergeben hat, schafft ein Grossteil dieser Jugendlichen den Sprung an eine Mittelschule.

Schlusslicht Schweiz

Die Regel ist das in der Schweiz nicht. Denn hier bestimmt in erster Linie die soziale Herkunft, nicht das Potenzial eines Menschen über seinen Bildungsweg. Das belegen laut der Erziehungswissenschaftlerin und Freiburger Professorin Margrit Stamm alle relevanten Studien. Nur 8 von 100 Arbeiterkindern beginnen ein Hochschulstudium, während 56 von 100 GymnasiastInnen aus einkommensstarken Familien eine Universität besuchen. Eine andere Zahl verdeutlicht dies ebenfalls: 75 Prozent der SchülerInnen an Realschulen kommen aus den unteren sozialen Schichten. Der Migrationshintergrund spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Die Schweiz bildet zusammen mit Deutschland und Belgien das Schlusslicht in Sachen Chancengleichheit. Nirgendwo sonst, wo internationale Schulleistungsvergleiche (Pisa) gemacht wurden, tragen Bildungsinstitutionen weniger dazu bei, Kindern mit ungünstigen familiären und sozioökonomischen Bedingungen zu guten Leistungen zu verhelfen und den Ausbildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln.

Anders als in den sechziger und siebziger Jahren sprechen Fachleute heute nicht mehr von Chancengleichheit, also davon, dass alle Kinder am gleichen Ort starten und sich ihrem Potenzial gemäss entfalten. Chancengerechtigkeit heisst der neue Begriff. Bei diesem Konzept geht man davon aus, dass ohnehin nicht alle die gleichen (sozialen) Voraussetzungen für eine gute Bildung mitbringen und diese sich nicht wirklich ausgleichen, sondern allenfalls annähern lassen.

Margrit Stamm verweist in ihrer kürzlich publizierten Studie «Migranten mit Potenzial» auf die sogenannte Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre: Ihr Ziel war es gewesen, bestehende Benachteiligungen aufzuheben, indem Arbeiterkinder, solche vom Land und auch Mädchen besser gefördert werden sollten. In der Folge wurden Sekundarstufen ausgeweitet, die höhere Berufsbildung eingeführt und auch neue Gymnasien geschaffen. Ländliche Regionen profitierten davon, und «Bildungsdefizite von Mädchen konnten erfreulicherweise überwunden werden», sagt Stamm. Der Abbau der schichtenspezifischen Ungleichheiten war dagegen nicht besonders erfolgreich.

Der liberale Denker Ralf Dahrendorf postulierte damals in seinem Buch «Bildung ist Bürgerrecht» (1965) Bildung als soziales Grundrecht, mit anderen Worten: Chancengleichheit. Die soziale Herkunft sollte nicht als Barriere wirken. Aber auch der Kalte Krieg wirkte als Treiber. Die westliche Welt war geschockt, als die Sowjetunion vor den USA einen Satelliten – namens Sputnik – ins Weltall schossen. Das Konzept der Chancengleichheit und der Ausbau des Bildungswesens waren die Antwort. Man machte sich daran, das bei weitem nicht ausgeschöpfte Begabungsreservoir besser zu nutzen.

Auch in der Schweiz. Es entstanden Landgymnasien; Arbeiterkinder und Kinder aus dem ländlichen und katholischen Milieu sollten Zugang zu höherer Bildung erhalten und das Land wettbewerbsfähiger machen. Margrit Stamm ist zu jener Zeit in einer Arbeiterfamilie in Aarau aufgewachsen. «Wäre ich fünf Jahre früher geboren, hätte ich kaum eine Mittelschule besucht. Mein Lebensweg wäre wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Ich habe von dieser Bewegung profitiert.»

Bis in die neunziger Jahre ging man stillschweigend davon aus, dass tatsächlich Chancengleichheit bestehe. «Erst die Pisa-Studie deckte auf, dass die Erfolge relativ bescheiden sind», sagt Stamm. Zwar studieren heute deutlich mehr Jugendliche. Doch der Anteil der Kinder aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Familien an Universitäten und Fachhochschulen ist kaum angestiegen. Dafür schafft ein Grossteil der Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern den Eintritt in Hochschulen. «Das Projekt der Chancengleichheit, an das auch ich lange geglaubt habe, ist leider nicht so erfolgreich, wie man gemeint hat», sagt die Bildungsexpertin.

Inzwischen spricht Margrit Stamm lieber von Chancengerechtigkeit. Nicht weil sie Chancengleichheit nicht für wünschenswert hielte. Aber aufgrund ihrer wissenschaftlichen Befunde zieht sie ein desillusioniertes Fazit: «Ich glaube, Chancengleichheit ist nicht zu erreichen. Denn die Mittelschicht und die Oberschicht schlafen nicht. Sie wissen genau, wie sie sich Vorteile verschaffen. Verbieten lässt sich das nicht. Diese Startvorteile sind von sozial benachteiligten Familien kaum aufzuholen. Wer hat, dem wird gegeben», sagt Stamm und zitiert einen als Matthäusprinzip bekannten Bibelspruch.

Milliarden für die Nachhilfe

Die Aussicht auf die Vorteile höherer Bildung lassen sich gut situierte Eltern etwas kosten. Frühkindliche Förderung, Lernprogramme, private Nachhilfestunden und Lernstudios gehören heute zum Alltag vieler SchülerInnen. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat herausgefunden, dass in Deutschland rund 1,1 Millionen SchülerInnen Nachhilfe in Anspruch nehmen. Jährlich geben Eltern im Nachbarland dafür zwischen 950 Millionen und 1,5 Milliarden Euro aus. Nachhilfe habe sich zu einem etablierten, privat finanzierten Unterstützungssystem neben dem öffentlichen Schulsystem entwickelt.

In der Schweiz gibt es dazu kein statistisches Material, aber auch hier lassen sich Eltern den Schulerfolg ihrer Kinder viel kosten: Im Kanton Zürich finde vor den Aufnahmeprüfungen ins Gymnasium «ein enormes Wettrüsten» statt, sagt der grüne Kantonsrat Res Marti, der deswegen die Aufnahmeprüfung abschaffen möchte. Er hat dazu gemeinsam mit Moritz Spillmann (SP) und Johannes Zollinger (EVP) eine parlamentarische Initiative im Zürcher Kantonsrat durchgebracht.

Eine im vergangenen Jahr publizierte Studie der BildungsökonomInnen Stefan C. Wolter und Stefanie Hof kommt zum Schluss, dass bezahlte Nachhilfe hauptsächlich von SchülerInnen aus bildungsnahen Familien und aus Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status besucht wird. Und: Nicht fremdsprachige Migrantenkinder – wie die Deutschen in der Deutschschweiz oder die Franzosen in der französischsprachigen Schweiz – nehmen deutlich mehr Nachhilfe in Anspruch als einheimische SchülerInnen. Denn für diese Gruppe ist der Weg über das Gymnasium der «Königsweg». Auch Res Martis Befund mit dem «Wettrüsten» wird von der Studie gestützt, zumal in Kantonen mit einer tiefen Maturitätsquote: Hier greifen selbst sehr gute SchülerInnen zu diesem Mittel, wenn sie sich davon einen Konkurrenzvorteil beim Übertritt ins Gymnasium versprechen. Das trifft unter anderem auf den Kanton Zürich zu, während im Kanton Genf mit der höchsten Maturitätsquote in der Schweiz sehr gute SchülerInnen praktisch nie bezahlte Nachhilfe beanspruchen.

Lernstudios und Lernzentren rangieren bei der bezahlten Nachhilfe nicht an vorderster, sondern erst an vierter Stelle. Am häufigsten geben ältere SchülerInnen Nachhilfe, an zweiter Stelle folgen aktive und pensionierte Lehrpersonen. Allerdings sagt die Studie auch, dass teure Lernstudios praktisch ausschliesslich von SchülerInnen aus sehr gut situiertem Elternhaus in Anspruch genommen werden. Ob die Abschaffung der Aufnahmeprüfung daran etwas ändert, ist fraglich: Auch der Notendurchschnitt, der dann ausschlaggebend wäre, lässt sich mit bezahlter Nachhilfe beeinflussen.

«Verhinderungsanstalten»

Gymnasien und Universitäten bezeichnet Margrit Stamm in Bezug auf die soziale Durchlässigkeit als «Verhinderungsanstalten», Fachhochschulen schnitten etwas besser ab. Die grosse integrative Kraft sei das Berufsbildungssystem. Bloss neun Prozent der Schweizer Jugendlichen verfügen über keinen Berufsabschluss. Das ist im Vergleich mit allen anderen Ländern ein traumhafter Wert. Und das Schweizer Bildungssystem sei strukturell sehr gut aufgestellt und auf Durchlässigkeit angelegt. Bis zur Berufsmaturität schaffen es inzwischen auch manche begabte Kinder aus den unteren sozialen Schichten und aus Migrantenfamilien. Doch am Übergang zu den Fachhochschulen verpufft diese Wirkung. «Auch hier ergreifen vor allem junge Leute aus gut situiertem Haus ein Fachhochschulstudium», sagt die Professorin.

Selbst bei der Chancengerechtigkeit sei die Schweiz ein Entwicklungsland. Das müsste den BildungspolitikerInnen zu denken geben. «Ich verstehe nicht, weshalb keine breite öffentliche Debatte stattfindet», so Stamm. Dabei werde vor allem das Potenzial der Migrantenkinder kaum erkannt und genutzt. Die Schweizer Politik nehme diesen Missstand nicht zur Kenntnis; die Wirtschaft beklage zwar gerne die schlechten Kenntnisse der SchulabgängerInnen und den Fachkräftemangel, investiere aber kaum in die Entwicklung dieses brachliegenden Potenzials. Statt Lehrlinge und Fachleute im Ausland zu rekrutieren, könnte dieses Potenzial im eigenen Land gefördert werden. Der Blick auf die MigrantInnen sei in der Schweiz fast durchwegs negativ. «Sie und ihre Familien werden in der Öffentlichkeit vor allem als Träger von Defiziten stigmatisiert.»

Für diese Haltung steht stellvertretend eine E-Mail eines Berufsschullehrers, die Margrit Stamm nach der Publikation der Studie erreichte. Sinngemäss stand dort: «Sehr geehrte Frau Stamm, Sie haben keine Ahnung, wie es an den Berufsschulen aussieht. Ich kenne keinen einzigen Migranten mit Potenzial in meinen Klassen. Ich lade Sie gerne ein, sich selber ein Bild zu machen.» Die Haltung der Lehrkräfte beeinflusst ihr Urteil über ein Kind, positiv wie negativ: «Es ist erwiesen, dass Kinder aus Akademikerfamilien für dieselbe Leistung eine bessere Note erhalten als Kinder aus unteren sozialen Schichten», sagt Stamm. Die Erwartungshaltung der Lehrkräfte beeinflusse dabei das Resultat ebenso wie die Einbindung der Familien. Stamm fordert, hier müsse mehr unternommen werden. Also zum Beispiel die MigrantInnen über das hiesige Bildungssystem aufklären, ihre Kinder bewusst fördern, Erwartungen formulieren und Leistung fordern. «Nehmen wir das Postulat der Chancengerechtigkeit ernst, müssen wir das Stipendienwesen anpassen und eigens auf Migranten zugeschnittene Stipendien schaffen. Leistungsorientierte Förderung, wie sie Chagall anbietet, ist sinnvoll. Dass wir dieses Potenzial vernachlässigen, ist ökonomisch und sozialpolitisch ein Unsinn», sagt Stamm. Bildung und Berufsbildung seien keine reine Privatangelegenheit.

Frühe Förderung zahlt sich aus

Andere Staaten haben das längst erkannt. Beispielsweise das Einwanderungsland Kanada. Dort werden die Unterschiede nicht als Bedrohung, sondern als Ressource betrachtet – etwa die Mehrsprachigkeit der MigrantInnen. Und in Kanada nimmt man sich der Kinder früh an, die Beherrschung der Unterrichtssprache ist einer der Schlüssel zum Erfolg, deren mangelnde Beherrschung eine Ursache für misslungene Schul- und Berufskarrieren. «Wir sollten Kinder aus fremdsprachigen Migrantenfamilien bereits deutlich vor der Einschulung in den Kindergarten systematisch in Sprachspielgruppen schicken», empfiehlt Stamm. «Das gleicht die Startchancen an.»

Genau das macht der Kanton Basel-Stadt seit Beginn des Schuljahrs im vergangenen August und übernimmt damit in der Schweiz eine Vorreiterrolle. Für Kinder, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, sind zwei halbe Nachmittage während der anderthalb Jahre vor dem Eintritt in den Kindergarten obligatorisch – und kostenfrei. Der Grosse Rat hat dafür Mittel von jährlich 1,9 Millionen Franken bewilligt. Zur Einschätzung der Sprachfertigkeit ihrer Kinder schickte der Kanton an 1800 Eltern einen von der Universität Basel entwickelten Fragebogen. Der Rücklauf lag bei über 99 Prozent. Für 450 Kinder ist die Sprachspielgruppe nun obligatorisch. Aber auch alle anderen Eltern können ihre Kinder schicken, müssen dafür allerdings einkommensabhängige Ansätze bezahlen.

«Wir hoffen, dass Kinder dank dieser Massnahme ohne nennenswerte sprachliche Defizite an den Schulstart gehen», sagt Pierre Felder, Leiter der Abteilung Volksschulen. Denn: «Je später man hier etwas unternimmt, desto teurer wird es im Lauf der Schullaufbahn.»

Förderprogramm für Migrantenkinder : Gemeinsam und ohne Prüfungsangst ans Ziel

Bloss knapp zehn Prozent der Migrantenkinder besuchen in der Schweiz das Gymnasium – privilegierte Ausländerkinder aus akademischem Elternhaus eingeschlossen. Migrantenkinder sind auf ihrem Bildungsweg in der Regel stark benachteiligt. Daher startete die private Mittelschule Unterstrass 2008 das Programm «Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn» (Chagall). Die jährlich anfallenden Kosten von rund 100 000 Franken finanzierten zunächst Stiftungen, mittlerweile beteiligt sich auch der Kanton Zürich.

Chagall bereitet rund ein Dutzend Migrantenkinder auf Mittelschulprüfungen vor. Auf Einladung des Gymnasiums Unterstrass evaluieren Sekundarlehrpersonen aus dem Kanton Zürich in ihren Klassen mögliche KandidatInnen und stellen ihnen eine Empfehlung aus. Das Programm umfasst neben Motivationsschreiben und Tests auch ein ausführliches Aufnahmegespräch. Grundlegende Aufnahmekriterien sind Migrationshintergrund und bescheidene finanzielle Verhältnisse. Nach der Aufnahme unterzeichnen die Jugendlichen, die Eltern und die ProgrammleiterInnen einen Vertrag, der die Rechte und Pflichten verbindlich festhält. Der Vorbereitungskurs dauert jeweils ein halbes Jahr.

Programmleiter Stefan Marcec sagt, das Programm sei sehr erfolgreich. Nicht bloss die schulische Vorbereitung spielt dabei eine Rolle. «Viele Kinder haben ein wackliges Selbstkonzept. Denn ihnen fehlt in der Regel ein bildungsbürgerlicher Hintergrund. Im stark individualisierten Unterricht versuchen die Trainerinnen und Trainer, den Kindern ein gutes Selbstwertgefühl zu vermitteln und die Prüfungsangst zu nehmen.» Das Gymnasium Unterstrass sieht das Programm als Projekt, das sich überall anwenden liesse, es könnte als Blaupause für alle Schulen in der Schweiz dienen. Das Institut plant, TrainerInnen für andere Kantonsschulen auszubilden. Das Ziel ist hochgesteckt: Künftig soll in jedem Kanton an zwei Mittelschulen das Programm angeboten werden.

Das Programm evaluiert hat die Universität Zürich. Der Bericht beurteilt das Programm positiv. Denn zwei Drittel der Migrantenkinder bestehen die Aufnahmeprüfung für eine Mittelschule (Gymnasium, Fachmittelschule, Berufsmatura). Die VerfasserInnen der Uni Zürich schreiben dazu: «Chagall ist weit mehr als ein Prüfungsvorbereitungskurs, wie wir ihn von privaten Anbietern kennen. Obwohl Chagall ein Förderprogramm mit stark individualisierter Ausrichtung ist, gehören der Klassenkontext und das leistungsfreundliche Klima der Gruppe zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren. Die Jugendlichen wollen gemeinsam ein Ziel erreichen, und sie sind bereit, sich dafür anzustrengen. Diese Lernbereitschaft fehlt vielen Gleichaltrigen in der Regelschule, wo Lernen häufig als uncool beurteilt wird. Zu den zentralen Erfolgskriterien gehören aber auch die hohen Erwartungshaltungen der Trainerinnen und Trainer sowie die Optimierung des familiären und schulischen Umfelds.» Ein Know-how-Transfer von Chagall an Regelschulen sei dann möglich, wenn das Programm in gleicher Qualität und Quantität angeboten werde.

Übrigens: Das private Gymnasium Unterstrass ist von einem idealistischen Geist geprägt. Dort geben die Lehrkräfte zwanzig Prozent ihres Lohns in einen Stipendienfonds, der benachteiligte Kinder unterstützt.