Bildungspolitik: «Viele bräuchten nur mehr Zeit»
Die Pisa-Studie hat ergeben, dass die Chancengleichheit im Bildungswesen dramatisch abgenommen hat. Jürg Schoch von der «Allianz Chance+» über die Gründe und mögliche Gegenmassnahmen.
WOZ: Herr Schoch, Anfang Monat sind die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie veröffentlicht worden. In Bezug auf die Schweiz fällt insbesondere ein Punkt auf: Unser Bildungssystem schafft es nicht, soziale Ungleichheit abzubauen. Im Gegenteil, die Bildungsungerechtigkeit ist so gross wie noch nie. Überrascht Sie dieser Befund?
Jürg Schoch: Ja und Nein. Er überrascht insofern, als die Chancengerechtigkeit in sämtlichen bildungspolitischen Deklarationen und behördlichen Papieren zum wichtigen Ziel erklärt wird. Bereits 1972 hat die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektor:innen (EDK) den Grundsatz deklariert, dass die Bildungslaufbahn von «Gastarbeiterkindern» «nicht zu stark von Leistungen in der Unterrichtssprache abhängig» gemacht werden dürfe. In die Praxis umgesetzt wird dieses Ziel seither aber nicht, beziehungsweise wird zu wenig dafür getan. Und schon gar nicht wird darauf geachtet, wie gut und von wem bestehende Förderangebote genutzt werden – und mit welcher Wirkung. Von daher muss ich sagen: Nein, es überrascht nicht.
Weshalb ist die Ungerechtigkeit im Bereich Bildung in jüngster Zeit noch grösser geworden?
Es gibt sicher einen Coronaeffekt. Die Schulen waren während der Hochphase der Pandemie teilweise geschlossen, der Unterricht musste zu Hause über digitale Geräte stattfinden. Und da gibt es grosse Lücken. Eine Familie, die an der Armutsgrenze lebt, ist ganz anders ausgestattet als eine Akademikerfamilie. Mir hat ein befreundeter Gymnasiallehrer, der drei Kinder daheim hat, während der Pandemie gesagt, bei ihm sehe es aus wie in einer Interdiscount-Filiale: Jedes Kind habe ein Handy, ein Tablet und ein Notebook. In armutsbetroffenen Familien haben die Kinder vielleicht ein Smartphone, aber das war es dann auch. Dazu eine schlechte Internetverbindung. Unter solchen Bedingungen dem Unterricht zu folgen und Schulaufgaben zu lösen, ist fast nicht machbar. Von daher kann ich nachvollziehen, dass die Ungleichheit in jüngster Vergangenheit grösser geworden ist. Das krasse Ausmass kann ich mir aber nicht erklären.
Allianz Chance+
Der vor zwei Jahren gegründete Verein «Allianz Chance+» bietet einerseits verschiedene Förderprogramme zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit im Jugendalter an, etwa «ChagALL Zürich» oder «ChaBâle». Auf der anderen Seite versteht sich der hauptsächlich stiftungsfinanzierte Verein auch als bildungspolitische Lobbyorganisation, die sich für den Abbau der aktuell hohen sozialen Ungerechtigkeit im Schweizer Bildungssystem einsetzt.
Jürg Schoch (68) hat als Sekundarlehrer und Jugendarbeiter gearbeitet und war ab 1990 dreissig Jahre lang Direktor am Gymnasium Unterstrass in Zürich. Seit 2021 ist er Präsident von «Allianz Chance+».
In der Pisa-Studie heisst es dazu beispielsweise: «Der durchschnittliche Leistungsunterschied zwischen den 15-jährigen Schüler:innen aus dem untersten und dem obersten Viertel der sozialen Herkunft beträgt in Mathematik knapp 120 Punkte.»
Genau. Dabei entsprechen 40 Punkte dem Lernzuwachs von ungefähr einem Jahr. Übersetzt heisst das: Die Schüler:innen des untersten Viertels sind am Ende der Oberstufe auf dem Niveau von Sechstklässler:innen. Das ist absolut gravierend, und es müsste eigentlich zu einem gesellschaftlichen und politischen Aufschrei kommen. Der Befund besagt ja, dass wir ein Viertel der Jugendlichen, die wir eigentlich dringend als Fachkräfte bräuchten, gar nicht vernünftig ausbilden, um sie etwa auf eine Lehre vorzubereiten.
Was für Massnahmen empfehlen Sie denn, um diese grosse Ungleichheit zu verkleinern?
Ein Problem ist, dass wir in den meisten Kantonen schon nach der sechsten Klasse sortieren. Ab dann sind die Schüler:innen in drei verschiedene Niveaukategorien eingeteilt. Das unterste Niveau ist dabei vergleichbar mit einem Bummelzug: Die Erwartungen der Lehrpersonen sind nicht so hoch, und die Lernatmosphäre ist weniger anregend. Zwischen den verschiedenen Anforderungsniveaus ist die Durchlässigkeit extrem klein. Dabei zeigen Studien, dass die notenbasierte Einteilung in die drei Kategorien nicht von der tatsächlichen Leistungsfähigkeit und noch weniger vom Potenzial der einzelnen Schüler:innen ausgeht. Die Besten des untersten Niveaus haben das Rüstzeug, um im obersten Niveau bestehen zu können. Aber sie erhalten die Chance dazu gar nicht. Viele Jugendliche, gerade wenn Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, bräuchten mehr Zeit, um ihr Bildungspotenzial auszuschöpfen, und man würde dieses so auch besser erkennen.
Der Kanton Tessin verfolgt ja ein ganz anderes Modell als die Deutschschweizer Kantone. Dort bleiben die Schüler:innen bis zum Alter von vierzehn Jahren zusammen, dann folgt das Gymnasium oder eine Ausbildung. Was halten Sie von dem Modell?
Viel. 2018 konnte eine Studie aufzeigen, dass die Leistung von fünfzehnjährigen Tessiner Schüler:innen im Durchschnitt höher lag als bei Gleichaltrigen in der Deutschschweiz. Offenbar gelingt es mit dem Tessiner Modell, wo die Kinder aus sozial benachteiligten Strukturen viel länger mit Jugendlichen aus bildungsaffinen Milieus im selben Klassenzimmer sitzen, besser, die soziale Ungleichheit einzuebnen.
Was halten Sie von Tagesschulen als Massnahme gegen die Ungleichheit?
Tagesschulen sind für viele eine Chance. Sie können Kindern und Jugendlichen mehr Zeit in einem pädagogisch anregenden Umfeld geben, besonders wenn die Struktur auch genutzt wird, um Kinder zu fördern. Dafür müssen solche Schulen natürlich gut geführt werden. Das Wichtigste ist ganz grundsätzlich, dass wir gerade bei Kindern aus sozial benachteiligten Strukturen möglichst früh mit der Förderung anfangen. Ich weiss nicht, wie Sie aufgewachsen sind, aber wahrscheinlich hat man mit Ihnen gesungen und Ihnen Geschichten erzählt, man ist in den Zoo oder in ein Museum gegangen und hat beim Backen das Wägen und Abmessen geübt. Das erleben viele Kinder nicht, für ihre Entwicklung wäre es aber wichtig. Jedes Jahr erhalten 14 000 Jugendliche aus bescheidenen Verhältnissen nicht die Ausbildung, die ihrem Potenzial entspricht. Dabei ist jeder Franken, der in die frühkindliche Förderung fliesst, gut investiert.
Ihr Verein «Allianz Chance+», der sich für mehr Chancengerechtigkeit im Bildungswesen einsetzt, hat in diesem Sommer eine Studie präsentiert. Sie zeigt, dass der Schweizer Volkswirtschaft durch die mangelnde Bildungsgerechtigkeit jährlich rund dreissig Milliarden Franken entgehen.
Wir wollten einfach mal eine Zahl haben, mit der wir argumentieren können. Ich hätte aber nie damit gerechnet, dass es um so viel Geld geht. In dieser enormen Summe ist übrigens noch nicht einmal einberechnet, was der Staat auch an Sozialausgaben sparen würde. Man muss es wirklich so sagen: Wir können uns Bildungsungerechtigkeit eigentlich gar nicht leisten.
Die Studie ist mit dem Beratungsunternehmen Oliver Wyman entstanden. Wie kam es dazu?
Die Leute von Oliver Wyman sind auf uns zugekommen. Die machen regelmässig «pro bono» Studien für gemeinnützige Unternehmen. Sie haben uns kontaktiert und gesagt, dass sie sich für Bildungsgerechtigkeit interessierten, weil sie erkannt hätten, dass da ein Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel bestehe.
Haben Sie aus der Politik Reaktionen auf die Studie erhalten?
Eher aus der Wirtschaft als aus der Politik. Und ich verstehe das nicht. Es ist, als hätten wir vier Pferde im Stall und spannten dann nur drei vor den Wagen. Wir brauchen dringend Fachkräfte, aber nehmen dann die jungen Menschen nicht für voll und geben ihnen keine faire Chance auf Entwicklung ihrer Potenziale.
Silvia Steiner, die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Präsidentin der EDK, hat in einem Interview mit SRF gesagt, dass man schon sehr viel tue und man nie eine absolute Gerechtigkeit erreichen werde.
Es gibt kein System, das absolute Bildungsgerechtigkeit herstellen kann, da bin ich mit Regierungsrätin Steiner noch einverstanden. Aber nachdem man die Resultate der aktuellen Pisa-Studie gesehen hat, kann man nicht einfach so tun, als brauche es nicht trotzdem mehr Anstrengungen. Wenn die Bildungsdirektionen behaupten, sie würden schon viel tun, dann muss man sagen: Sie tun viel, aber es hilft wenig. Wissen Sie, wie viele Sek-B-Schüler:innen, also des mittleren Niveaus, am Ende einen höheren Bildungsabschluss machen? Zwei Prozent.
Wirklich nur zwei Prozent?
Ja. So viel zur Durchlässigkeit unseres Systems. Theoretisch ist es zwar gut, praktisch funktioniert die Durchlässigkeit nach oben aber fast nicht. Wir teilen die Kinder zu früh ein, und dann ist es enorm schwierig, später noch etwas daran zu ändern. Dabei ist die Chancengerechtigkeit sogar an mehreren Stellen in unserer Bundesverfassung festgeschrieben.
Silvia Steiners Aussagen klingen trotzdem nicht so, als wäre sie alarmiert.
Das verstehe ich eben nicht. Es müssten doch alle zivilgesellschaftlichen und demokratischen Kräfte ein Interesse daran haben, dass sich die Lage verbessert. Ich komme nochmals auf die EDK-eigenen Grundlagenpapiere zurück. Dort ist bereits 1972 von der «Integration im Vorschulalter» die Rede. Und 1995 findet man bei der EDK die Empfehlung, den «Sinn traditioneller Schultypen» auf der Sekundarstufe I zu «hinterfragen», oder die Forderung, «die Ausrichtung auf differenzierende und stark strukturierte Bildungsprofile» solle so spät wie möglich erfolgen. Die Lösungsansätze, um die soziale Ungerechtigkeit unseres Bildungssystems abzubauen, sind also schon lange bekannt.
Worauf hoffen Sie?
Ich hoffe auf einen Schulterschluss zwischen Zivilgesellschaft, Bildung, Wirtschaft und Politik. Wir können es uns auch als Demokratie nicht leisten, dass so viele junge Menschen abgehängt werden, die dann unzufrieden sind und das Gefühl haben, sie würden nicht dazugehören. Das ist schlecht für die Gesellschaft. Ungerechtigkeit führt zu Unfrieden.