Das gemeine Hausschwein: Schinken mit Geschichte

Nr. 13 –

Seit Jahrtausenden züchtet, mästet und isst der Mensch eines der ältesten Nutztiere. Wie glücklich ist das Leben der Schweine, bis sie zur Schlachtbank geführt werden?

21 junge Schweine geniessen den Frühling. Einige stehen schmatzend an der Futterstation, andere wühlen in ihrem Strohnest herum, der Rest liegt auf der faulen Haut. Wache Augen blicken den BesucherInnen entgegen. Familie Oppikofers Bio- und Kagfreiland-Betrieb liegt in einem ganzen Wald von Hochstamm-Obstbäumen bei Steinebrunn im Oberthurgau. Neben Mastschweinen leben hier auch Weiderinder und Freilandhühner, 400 Hochstammbäume liefern Mostobst; Tafelbirnen, eine Obstbaumschule und eine Hofbeiz gehören ebenfalls dazu. Oppikofers Schweine haben ein schönes Leben: Im Alter von acht bis zwölf Wochen kommen sie auf den Hof, zusammen mit ihren Geschwistern. In diesen Geschwistergruppen bleiben sie, das erspart ihnen Streit um die Rangordnung. Im Winter leben sie im Auslaufstall mit viel Material zum Wühlen. Den Sommer verbringen sie auf einer Wiese mit einfachen Unterständen. Es fällt auf, wie ruhig und friedlich die Atmosphäre im Auslaufstall ist. «Das liegt daran, dass sie fressen können, wann sie wollen», sagt der junge Bauer Hans Oppikofer. «Bei festen Fütterungszeiten drängen die stärksten Schweine die schwächeren vom Trog. Mit der Fütterungsstation bekommen alle genug.»

Schweine sind unglaublich gute Futterverwerter: In vier Monaten wächst ihr Gewicht von 30 auf 110 bis 120 Kilo. Dann kommen sie zum Dorfmetzger von Neukirch-Egnach, nur drei Kilometer vom Hof entfernt. Oppikofers lassen ihre Mastschweine etwas schwerer werden als üblich: «Das Fleisch ist einfach besser, wenn es durchzogen ist. Der Geschmack kommt aus dem Fett.» Das hat auch das Restaurant Frohsinn in Arbon (17 Gault-Millau-Punkte) überzeugt: Es kauft die Hälfte des Fleisches, jede Woche ein halbes Schwein. Die andere Hälfte verkauft eine befreundete Familie in ihrem Hofladen im Nachbarweiler.

«In dieser Grösse macht die Schweinehaltung Freude», sagt Hans Oppikofer und krault eines der Tiere hinter den Ohren. Er hat früher auch in konventionellen Betrieben geholfen, in riesigen Mastställen, wo den Schweinen die Schwänze kupiert und die Eckzähne ausgebrochen wurden. Beides ist bei Kagfreiland verboten. «Das hat mir gar nicht gefallen. Aber die hier haben es gut.»

Die heilige Sau

Im östlichen Mittelmeerraum und in China sind Schweine vor rund 10 000 Jahren domestiziert worden - lange vor den Kühen. Das Schwein war für die frühen Bauernkulturen ein Segen: Es frisst fast alles, es ist robust, extrem fruchtbar (mehr als zwei Würfe im Jahr), wächst schnell, und alle seine Körperteile können verwertet werden. Kein Wunder, verehrten viele Kulturen das Schwein, vor allem die säugende Muttersau, als heilig. Hunderte von Tonfiguren, Reliefs und Münzen aus dem Mittelmeerraum bildeten sie ab. Auf Neuguinea und anderen südasiatischen Inseln war und ist das Schwein das wichtigste Nutztier und zentraler Bestandteil der Religion. Schon vor 6000 Jahren gab es in China intensive Schweinezucht, später auch im alten Rom. Sardinien war den Römern bekannt für seine würzigen Schinken.

In der ägyptischen und der jüdischen Kultur galten die Tiere hingegen als unrein. Auch im Neuen Testament wird das deutlich: etwa wenn Jesus einem Besessenen die Teufel austreibt und in eine Schweineherde fahren lässt oder im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der Schweinehirt werden muss, als er pleite ist. Das Unbehagen am Schwein hatte wohl mit seinen Ernährungsgewohnheiten zu tun: Es ist das einzige landwirtschaftliche Nutztier, das auch Fleisch und Aas - auch Menschenleichen - verspeist. Das zwiespältige Verhältnis zum heilig-unreinen Schwein zeigt sich heute noch in der Sprache: Der eine hat Schwein, der andere ist eins.

Das Hausschwein stammt vom Wildschwein ab - und es lebt heute noch wie ein Wildschwein, wenn es darf. Der Verhaltensforscher Alex Stolba hat in den siebziger Jahren in Schottland Schweine in riesigen Freilandgehegen leben lassen und beobachtet. Die Schweine schliessen sich nach Möglichkeit zu Gruppen aus zwei oder mehr Muttersauen mit Ferkeln, älteren Jungtieren und einem Eber zusammen. Sie pflegen ein intensives Sozialleben, fressen und trinken zusammen, gehen auf Erkundung und halten gemeinsam Siesta. Dabei haben erwachsene Tiere einer Gruppe gern etwa vier Meter Abstand zueinander. Während des grössten Teils der Wachzeit erkunden sie die Gegend, dabei wühlen sie nach Nahrung, schnüffeln und nagen an allem Möglichen; das Entdecken ist ebenso wichtig wie das Fressen. Kurz vor der Geburt der Ferkel sondert sich die Sau ab und baut ein Nest aus Zweigen, Laub und Erde, in dem die Neugeborenen ihre ersten Tage verbringen. Noch während der Saugzeit deckt der Eber die Sau von neuem.

Das arme Schwein

Jahrhundertelang trieben Hirten die Schweine in den Wald, wo sie sich an Eicheln und Bucheckern fett fressen konnten. Das Waldleben entsprach den Tieren sehr. Später, als das Hinterhofschwein den ProletarierInnen Fleisch lieferte, wurde es enger. Und noch einmal enger, als sich die moderne Schweinemast entwickelte.

Die Landwirtschaft wurde zur Industrie, nach dem Zweiten Weltkrieg immer schneller. Das Resultat zeigte sich in den sechziger und siebziger Jahren: hochgezüchtete Schweine, die vor dem Schlachten zusammenbrechen, weil das Fleisch schneller wächst als die Knochen. Die ihr ganzes Leben kein Sonnenlicht sehen, viel zu eng aufeinander hocken und sich nie richtig bewegen können. Die intelligenten Tiere langweilen sich in reizarmen Ställen fast zu Tode - und reagieren wie Menschen aggressiv oder depressiv. Sie beissen ihren Artgenossen die Schwänze ab, attackieren sie plötzlich, demolieren ihre Tränken oder werden apathisch und entwickeln Automatismen. Alte Zuchtsauen, die ihr ganzes Leben eingesperrt waren, verbringen oft den ganzen Tag mit einer einzigen stereotypen Bewegung.

«Das aggressive Verhalten der Schweine enthält ein schwer wiegendes Risiko wegen des wirtschaftlichen Verlustes infolge von Kämpfen, Überfällen usw. Tödlicher Ausgang bedeutet Totalverlust, aber hierzu kommt in der Regel ein grösserer oder kleinerer Verlust in Form von leichten Verletzungen (...), welche Einflüsse auf die Verkaufs- und Abrechnungspreise haben können.» Das Zitat von einem tiermedizinischen Symposium 1970 zeigt, was aus der Schwein-Mensch-Beziehung geworden war. Als «Heilmittel» gegen Transportstress, Kämpfe und fast alle anderen Probleme wurde Stresnil propagiert, das Valium für Schweine.

Das geschützte Ferkel

Bis 1981 die Tierschutzverordnung in Kraft trat, war die Schweinehaltung in der Schweiz nicht gesetzlich geregelt. Ein Bauer konnte so viele Schweine in einen Stall quetschen, wie er wollte. «Praktisch gab es doch eine Grenze: Wenn es zu eng wird, sinkt die Leistung», sagt Roland Weber. Der Ingenieuragronom arbeitet im Zentrum für tiergerechte Haltung des Bundesamtes für Veterinärwesen auf dem Gelände der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Agrarwirtschaft und Landtechnik Tänikon (FAT) bei Aadorf im Thurgau und ist spezialisiert auf Schweinehaltung. Alle neuen Stallsysteme und -einrichtungen werden vor der Zulassung in Tänikon geprüft. «Der alte Versuchsstall entspricht den heutigen Anforderungen nicht mehr», erklärt Roland Weber beim Rundgang durch das Areal. «Deshalb wird er diesen Sommer abgerissen. Im neuen Stall werden wir auch mit Auslaufhaltung und grossen Gruppen experimentieren können.» Zurzeit laufen deshalb nur wenige Versuche. Einer betrifft Stallböden: Die Schweine werden auf drei verschiedenen Stallböden - aus Beton, aus Kunststoff oder mit Stroh eingestreut - gehalten. Videoaufnahmen sollen Aufschluss darüber geben, auf welchem Boden sich die Schweine am wohlsten fühlen und wo die Gefahr von Gelenkentzündungen am höchsten ist.

Zur Forschungsanstalt gehört auch eine eigene Schweinezucht. Roland Weber zeigt eine moderne Abferkelbucht: Die Muttersau hat hier genügend Platz, um aufzustehen, sich zu drehen und einige Schritte zu machen. Die Ferkel können sich unter ein niedriges Gestell, das «Ferkelnest», zurückziehen und sind so weniger in Gefahr, von der Mutter erdrückt zu werden. Eine Holzwand trennt die Liegefläche vom Kotplatz. Kastenstände, in denen sich die Tiere kaum bewegen können, dürfen seit 1997 nicht mehr gebaut werden. In zwei Jahren müssen alle SchweinehalterInnen Abferkelbuchten eingebaut haben, in denen sich die Sau frei drehen kann. Roland Weber erwähnt weitere Verbesserungen, die heute vorgeschrieben sind: Ställe mit unangenehmen Vollspaltenböden werden nicht mehr gebaut, die Mindestfläche pro Schwein ist geregelt, ebenso die Gruppengrösse pro Fütterungsstation, und die Tiere müssen Stroh oder anderes Naturmaterial erhalten, mit dem sie sich beschäftigen können. «Natürlich könnte man noch viel mehr machen. Die Gesetze sind ein Kompromiss zwischen Wirtschaftlichkeit und Tierschutz. Aber es ist der richtige Weg. Im Vergleich zu Europa und dem Rest der Welt hat die Schweiz eine der strengsten Gesetzgebungen.»

Für Hans-Ulrich Huber vom Schweizer Tierschutz STS sind die vorgeschriebenen Minimalstandards «ganz klar nicht tiergerecht». «Die Minimalfläche für ein Mastschwein ab sechzig Kilo ist 0,65 Quadratmeter - das ist gerade so viel, wie es zum Liegen braucht, mehr nicht. Der Kot fliesst durch den Spaltenboden ab, das Schwein mit seiner empfindlichen Nase liegt also dauernd über dem eigenen Mist.» Dringende Verbesserungen wären nötig, findet Huber. Erstens sollten alle Schweine, vom Ferkel bis zur alten Sau, eine weiche, eingestreute Liegefläche bekommen. Zweitens sollte jedes Schwein täglich Auslauf haben - wenn es im Freiland nicht möglich ist, zumindest auf einem Betonplatz mit geeignetem Wühlmaterial. Drittens sollten das Futter und das Beschäftigungsmaterial so beschaffen sein, dass die Tiere ausführlich kauen und nagen können und sich nicht langweilen.

«Die Konsumenten wollen, dass die Tiere natürlich gehalten werden, aber mehr zahlen wollen sie nicht.» Ein Teilnehmer der Tagung Alpschwein am 19. März in Sargans brachte das Problem auf den Punkt. Viele Leute finden Schweine sympathisch - aber davon können SchweinehalterInnen nicht leben. Für Hans Oppikofer lohnt sich die kleine Schweinemast nur, weil er dank Kagfreiland-Label bis zu einem Franken mehr pro Kilo Fleisch erhält. Wer tierfreundlich produziert, hat mehr Arbeit und braucht dafür auch eine angemessene Entschädigung. Es gibt nur eine Lösung: Wer Wert darauf legt, dass Schweine ein schweinewürdiges Leben haben, muss Schweinefleisch mit Bio- oder Kagfreiland-Label kaufen.

Schweinezahlen

In der Schweiz leben rund 1,4 Millionen Schweine. Etwa die Hälfte kann täglich ins Freie. Rund eine halbe Million Schweine wird nur unter den vorgeschriebenen Minimalbedingungen gehalten: kein Auslauf, Betonboden ohne Streu, 0,65 Quadratmeter pro Mastschwein. Jedes Jahr werden rund 2,6 Millionen Schweine geschlachtet. Ein Mastschwein lebt vier bis fünf Monate. In der Schweiz isst jedeR im Durchschnitt 25 Kilo Schweinefleisch im Jahr. Davon sind 92 Prozent Schweizer Fleisch, der Rest stammt vor allem aus Österreich und Dänemark.

Quelle: Schweizer Tierschutz STS



Tierfreundliche Schweinehaltung

Bio Suisse: 6420 Schweizer Landwirtschaftsbetriebe wirtschaften biologisch (Label: Knospe). Bioschweine werden nach den folgenden Richtlinien gehalten:

• täglicher Auslauf ab der dritten Lebenswoche

• Gruppenhaltung

• Weide oder Wühlareal für Zuchtsauen

• mehrflächige Buchten mit Liegefläche und Aktivitätsbereich

• Liegeflächen sind eingestreut

• Ferkel müssen mindestens sechs Wochen gesäugt werden

• täglich Raufutter, kein Fleischmehl

www.biosuisse.ch

Kagfreiland: Kagfreiland ist das tierfreundlichste Label in der Schweiz. Die Richtlinien sind ähnlich wie diejenigen von Bio Suisse, in einigen Punkten strenger: Alle Schweine müssen jederzeit in den Auslauf können. 213 Biobetriebe haben zusätzlich das Kagfreiland-Label. Kagfreiland engagiert sich dafür, dass die Ferkelkastration nur noch mit Betäubung zugelassen wird, und propagiert als Alternative zur Kastration die Ebermast: «Eber statt Kastraten!» Die ersten Eberprodukte von Kagfreiland-Bauernhöfen (Salsiz, Schinkenspeck, Coppa et cetera) sind zurzeit in Bioläden erhältlich. Die WOZ-Testesserin ist begeistert vom würzigen Geschmack.

www.kagfreiland.ch

IGN: In der Internationalen Gesellschaft für Nutztierhaltung (IGN) haben sich Fachleute zusammengeschlossen, die über tiergerechte Nutztierhaltung forschen. Die Forschungsergebnisse werden auf der Website publiziert. Bei der IGN sind die Filme von Alex Stolba auf DVD erhältlich.

www.ign-nutztierhaltung.ch