Jerusalem: Kein Picknick bei der Knesset

Nr. 16 –

Die arabische Altstadt droht zu verslumen. Durch die Mauer abgeschnitten von der Westbank, schlagen sich die BewohnerInnen Ostjerusalems durch - sie leben weder in Palästina noch in Israel.

Einer der letzten Wintertage in Jerusalem. Graue Wolken brausen über die Kirchen, Moscheen und Synagogen. Vor dem Damaskustor zur Altstadt wirbelt ein eisiger Wind Kartonreste über die Treppenstufen und zerzaust den von improvisierten Garküchen aufsteigenden Rauch. Regen prasselt auf Plastikplanen, die die spärlichen Verkaufsstände überdachen. Es ist Freitag, der muslimische Ruhetag. Die wenigen palästinensischen Familien, die sich in der Jerusalemer Altstadt nach Kuchen und Süssigkeiten umgesehen haben, hasten die Strasse hoch zum Bus- und Taxiterminal. Israelische Soldaten stehen vor einem Falafelstand herum, ein Kleintraktor der Kehrichtabfuhr rattert durch die schmalen Gässchen. Noch während meines Besuches vor zwei Jahren war die Gegend um das Damaskustor ein lebendiger Mikrokosmos, an diesem Freitag wirkt sie teilweise verslumt.

Dreihundert Schritte weiter oben, ausserhalb der Altstadt, steht das altehrwürdige Hotel Jerusalem, die bevorzugte Herberge der MitarbeiterInnen von Hilfswerken und der JournalistInnen. Es war selbst während der Intifada, als gar keine TouristInnen mehr kamen, schwierig, eines der komfortablen Zimmer zu bekommen. Die überdachte Terrasse hingegen ist für alle offen. Gasstrahler verbreiten eine angenehme Wärme, Plastikwände schützen vor Wind und Regen. Es riecht nach süsslichem Wasserpfeifentabak mit Apfelaroma und nach frisch gebrautem Kaffee. Der Blick fällt auf den grossen Vorplatz, der früher Marktstände beherbergte. Der Platz ist nun frisch geteert und umzäunt, Parkstreifen wurden hingemalt.

«Die israelischen Gemeindebehörden haben diesen Taxi- und Busterminal errichten lassen», berichtet Abu Hassan und nimmt einen Schluck von seinem dampfenden Salbeitee. «Die Transportunternehmer müssen nun jährlich 1,5 Millionen Dollar Pacht bezahlen. Kürzlich schlossen die Behörden den Terminal für ein paar Tage, weil die fälligen Raten noch nicht bezahlt worden waren. Es gab ein tagelanges Verkehrschaos auf der Salah-ed-Diin-Strasse. Nun haben die Israelis angekündigt, die Salah ed-Diin für jeglichen Verkehr zu sperren.»

Abu Hassan studierte einst Politikwissenschaften an der Universität Bir Seit, brach sein Studium aber ab, um Geld zu verdienen. Er ersuchte die israelischen Behörden erfolglos um die Bewilligung, ein Reisebüro zu eröffnen. Dennoch gründete er die Firma Alternative Tours und arbeitet seitdem mit dem Hotel Jerusalem zusammen. Er bietet nebst Ausflügen in Palästina auch politische Führungen zur Mauer oder zu den jüdischen Siedlungen um Jerusalem an.

Ist es nicht eine gute Idee, die chaotische Salah ed-Diin für den Autoverkehr zu sperren? Fussgängerzonen haben sich in Europa doch bewährt. «Europa ...», entgegnet Abu Hassan lächelnd, «wir sind in Ostjerusalem! Die Salah ed-Diin ist unsere Lebensader, die Schliessung der Strasse für den Zulieferverkehr der Altstadt wäre eine Katastrophe. Die Grundversorgung der muslimischen Altstadtbewohner würde leiden. Viele Geschäfte in der Salah ed-Diin und in der Altstadt würden aufgegeben, Häuser und Läden an die Israelis verkauft werden. Die warten nur darauf.»

Der junge Kellner setzt sich hinzu, will aber seinen Namen nicht preisgeben. «Ich bin ein Cousin von Marwan Barghuti, dem von den Israelis inhaftierten Fatah-Chef. Ich darf ja gar nicht hier sein!», verkündet er strahlend. «Mir würden die Israelis wegen meiner Verwandtschaft nie eine dieser schönen, blauen Jerusalemer Identitätskarten geben, ich darf die Westbank nicht verlassen.» Wie er denn die zahlreichen Sperren umgehe, um hierher zu gelangen? «Kein Problem», meint der Kellner im Weggehen, «ich habe so meine Pfade.» Abu Hassan kommentiert: «Der kann das vielleicht. Wenn du eine Familie hast, ist das unmöglich. Du musst irgendwo wohnen, die Kinder müssen zur Schule. Du wirst kontrollierbar.»

Der Cousin Barghutis kommt mit der bestellten Wasserpfeife zurück und richtet mit einer kleinen Blechzange die Glutstückchen auf dem Tabak aus. Abu Hassan saugt am Mundstück, der Rauch zieht durch das blubbernde Wasser. Er nickt dem Kellner zu und fährt fort: «Viele, die im Umkreis Jerusalems wohnen, ziehen hierher oder sogar in die Altstadt. Ganze Sippen leben nun auf engstem Raum, nur um die Jerusalemer Aufenthaltsbewilligung nicht zu verlieren. Deswegen haben im Augenblick die arabischen Einwohner in der Altstadt zahlenmässig sogar zugelegt.»

Abendessen im «Askeddunja», einem der wenigen geöffneten Restaurants in Ostjerusalem. Vorwiegend AusländerInnen scheinen sich das Essen hier noch leisten zu können, die wenigen arabischen Gäste meint man von früheren Aufenthalten zu kennen. «Ostjerusalem ist tot», sagt Abu Hassan. «Die arabischen Jerusalemer können sich das Ausgehen nicht mehr leisten. Man geht lieber in den Supermarkt, deckt sich für eine Woche ein, pflegt das Familienleben und kapselt sich in den eigenen vier Wänden ein.» Grünflächen gebe es kaum mehr. «Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Wenn ich mit den Kindern in die Natur, an die frische Luft will, muss ich in die weit entfernte Umgebung der Knesset, des israelischen Parlaments. Wir können das tun, aber man stelle sich dort eine traditionelle palästinensische Familie beim Picknicken vor, die Frauen mit Kopftuch.»

Die arabischen JerusalemerInnen hätten keine Lobby, ist Abu Hassans Fazit. Allein und der Willkür der israelischen Behörden ausgeliefert, seien sie so sehr mit sich selber - das heisst mit

Bewilligungen, Arbeitswegen, Absperrungen, Familie, Kindererziehung und den horrenden Lebenshaltungskosten - beschäftigt, dass sie weitreichende Änderungen der Lebensbedingungen nicht richtig wahrnähmen oder schlicht verdrängen würden.

Abu Hassan steht auf und entschuldigt sich. «Die Familie. Ich muss wohl.» Man verabschiedet sich und einigt sich auf eine Führung mit Alternative Tours zwei Tage später, «falls sich noch andere Leute anmelden». Abu Hassan legt ein paar Schekel auf den Tisch und verabschiedet sich.

Ar-Ram ist ein Vorort Ostjerusalems. Der alte Teil besteht aus niedrigen Bauten, engen Gässchen und vielen Läden. Weiter Richtung Ramallah stehen zahlreiche, meist unfertige Neubauten.

Die Strasse Richtung Norden, Richtung Westbank, wird von der Mauer längsseitig entzweigeschnitten. Es ist dadurch schwieriger geworden, sich zu orientieren, besonders nachts, auf dem Rücksitz eines Sammeltaxis. Dort vorne, beim blauen Schild des Möbelgeschäfts Sbeitani möge er doch anhalten, bittet man den Fahrer. Glück gehabt. Die gesuchte Strasse führt rechts hoch und schlängelt sich durch gespenstisch leere Neubauten, Stein- und Erdhügel, Bauschutt und Autowracks. Vorsichtig umgeht man schlammige Pfützen, es könnten tiefe Schlaglöcher sein.

Das gesuchte Gebäude hat acht Stockwerke, doch nur drei Wohnungen sind bewohnt. In den andern sieht man im Abendlicht vom kahlen Treppenhaus aus Schutt, feuchtes Holz, Papier und Zementreste herumliegen, durch die nicht fertig gestellten Fenster erblickt man die Lichter Westjerusalems. Mitten im Dreck liegt eine Fussmatte mit der Aufschrift Welcome.

Im fünften Stock lebt Chaled Daromar zusammen mit seiner schwangeren Ehefrau und der kleinen Laura in einer vor vier Jahren erworbenen Wohnung. Daromar ist Übersetzer in einem von Britannien gesponserten Reformprojekt der Autonomiebehörde. Er führte einst eine Sprachschule in Ramallah, doch während der Intifada verliessen die meisten AusländerInnen die Westbank, und er stand plötzlich ohne SchülerInnen da. Er fand Arbeit bei der Law-Society, die Menschenrechtsverletzungen auf israelischer und auf palästinensischer Seite dokumentierte. Nachdem in der Chefetage der Law-Society Spendengelder veruntreut wurden, sah sich Daromar mit allen andern MitarbeiterInnen auf die Strasse gestellt.

Als Lehrer zitierte Daromar oft das arabische Sprichwort: «Willst du Trauben essen oder dich mit dem Wärter anlegen?» Er lacht. «Genau. Wir gehen Trauben essen nach Ramallah. Wir ziehen hier weg», meint er. «Die Mauer hat alles verändert. Niemand will hier länger wohnen. Ar-Ram war ruhig, ein idealer Ort zwischen Jerusalem und Ramallah. Doch jetzt? Du hast die Umgebung gesehen. Soll ein Kind hier aufwachsen müssen? Vierhundert Meter weiter ist der Checkpoint Kalandia. Soll ich praktisch jeden Tag meiner Tochter den Anblick von Mauern, Wachtürmen, Maschinengewehren, Stacheldraht und Soldaten zumuten?» Daromar hat nach langer Suche in Ramallah eine Wohnung gefunden. Und er freut sich, dass seine Tochter unweit von Ramallah, im Dorf Dschifna, sogar wilde Blumen pflücken und in einem kleinen Swimmingpool baden könne.

«Es fragt sich nur noch, wie wir die Wohnung hier loswerden», sagt Nida, Chaleds Ehefrau, und will ein Taxi zum Checkpoint Kalandia ordern. Tagelang hat sie den Besuch bei ihrer kranken Mutter in der Westbank hinausgeschoben. Chaled protestiert. «Schau hinaus. Willst du, dass wir in diesem Wetter am Checkpoint Schlange stehen mit dem Kind? Es holt sich den Tod. Deine Mutter muss warten.» Nida nickt, schweigt und setzt sich wieder. Die kleine Laura quietscht vergnügt vor dem permanent laufenden Fernsehgerät. Bugs Bunny näselt in Arabisch und hat wieder einmal die blöde Bulldogge hereingelegt.

Zurück in Jerusalem. Der Termin mit Alternative Tours fällt aus. Abu Hassan hat wie so oft in der letzten Zeit keine KundInnen. Und nur für eine Person scheut er den Aufwand verständlicherweise. Er entschuldigt sich.

Als Ersatz für die verpasste Tour entschliesst man sich etwas ratlos für einen Spaziergang in der Altstadt Jerusalems. Blutjunge Talmud-Schüler hasten in grossen Gruppen durch die Gassen, kleine Buben spielen Fussball auf den rutschigen Steinquadern. Viele arabische Geschäfte sind geschlossen und durch schwere Ketten und Schlösser gesichert. An einem der überdachten Eingänge zum Haram asch-Scharif, dem heiligen Bezirk, wo Felsendom und Al-Aksa-Moschee stehen, sitzen israelische Polizisten auf Plastikstühlen, ihre Gewehre lässig über die Oberschenkel gelegt. Einer sagt, dass das Gelände für TouristInnen geschlossen sei. Ab und zu lasse man welche rein, wirft ein anderer Polizist ein. «Ich glaube, von zwölf Uhr dreissig bis dreizehn Uhr dreissig. Sie müssen zur Klagemauer gehen und dort fragen.»

Bei der Klagemauer erfährt man, dass ein Besuch möglich ist. Eine kümmerliche TouristInnenschar wartet, bis ein israelischer Unteroffizier die Schranke zum muslimischen Heiligtum öffnet.

Taschen und Gepäckstücke werden geöffnet, die Dokumente kontrolliert, dann darf man eintreten. Das Gelände wirkt verwaist. Der Besuch der Moscheen sei verboten, meint ein älterer, sehr kleiner und sehr korrekt gekleideter Führer. Er bietet so eindringlich seine Dienste an, dass man sie nicht ausschlagen kann und sich durch den heiligen Bezirk führen lässt. Eine Palästinenserin mit Kopftuch und Stöckelschuhen hastet über den leeren Platz und stakst die Stufen hinauf zum Felsendom. Ein Wärter öffnet die schwere Holztür, lässt die Frau eintreten und schliesst. Der Führer nimmt sein Entgelt, verbeugt sich und geht. Es ist auf einmal sehr still. Auf dem riesigen Platz schlendert eine bewaffnete israelische Patrouille vorbei. Die Wolken hüllen die goldene Kuppelspitze des Felsendoms beinahe ein. Ganz kurz schafft es die Sonne, den grossen Platz aufzuhellen. Der Regen hat aufgehört.

Ein entschiedener Streit

Der Status von Jerusalem: Das ist eine der zentralen ungelösten Fragen im israelisch-palästinensischen Konflikt. Der Uno-Teilungsplan von 1947 sah in Palästina einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. Jerusalem sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden. Doch im israelisch-arabischen Krieg von 1948 wurde Jerusalem geteilt. Im Verlauf des «Sechstagekrieges» von 1967 besetzten israelische Truppen ganz Palästina, einschliesslich des Ostteils von Jerusalem. 1980 annektierte Israel Ostjerusalem und machte Jerusalem zu seiner - international nicht anerkannten - Hauptstadt. In allen Verhandlungen sagen israelische Regierungen kategorisch Nein zu einer Teilung Jerusalems oder irgendeiner Beteiligung der Palästinenser an der Verwaltung der Stadt. Die PalästinenserInnen hingegen sehen Ostjerusalem als Hauptstadt des Staates Palästina.

Der Streit um Jerusalem ist längst entschieden. Mehr als Symbole können die PalästinenserInnen nicht mehr erringen. Denn seit dem ersten Oslo-Abkommen 1993 wurden von israelischer Seite fleissig - und entgegen den Bestimmungen des Abkommens - Tatsachen geschaffen. Mit Geld, Gewalt und Gesetzen verdrängt Israel immer mehr PalästinenserInnen aus Ostjerusalem. Die Stadt ist heute eingeschlossen von israelischen Siedlungen und vom Rest Palästinas abgetrennt durch die Mauer.

Armin Köhli

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