Gewalt in Palästina: «Er war genau so wie wir»
Ein palästinensischer Anwalt kämpft dafür, dass er seinen Sohn bestatten kann. Der war Grafiker und Pfadfinder. Bis er mit einer Waffe in diesen Bus stieg.
Muhammad Allyan sitzt im selben Bürostuhl wie damals, als sich sein Leben für immer veränderte. Er war früh aufgestanden. Doch etwas stimmte nicht an diesem 13. Oktober. Allyan fühlte sich unruhig, angespannt, die Gedanken schweiften immer wieder weit weg von den Aktenstapeln auf dem Büropult. «Ich kann heute irgendwie nicht arbeiten», sagte Allyan zu einem Bekannten, der ihn mittags im Büro besuchte. Der Freund drückte den Knopf der Kaffeemaschine. Lud zwei Tassen auf das Tablett, mit dem der Anwalt für gewöhnlich seine Gäste bedient.
Fünf Minuten später klingelte das Telefon. Am Apparat war Muhammad Allyans Tochter: Es habe eine Attacke gegeben. Tote. Verletzte. Wieder war es ein Angriff auf einen Bus. In unmittelbarer Nähe von Muhammad Allyans Nachbarschaft diesmal: im palästinensischen Vorort Dschabel Mukaber im Südosten Jerusalems. Armon Hanatziv nennen die Israelis die jüdische Siedlung, die gegenüber dem palästinensischen Quartier liegt. Die Attentäter brauchten bloss die Strasse zu überqueren, um den Bus der Linie 78 zu besteigen, der die Siedlung mit dem Jerusalemer Stadtzentrum verbindet. Auch Muhammad Allyans Kinder benutzten den Bus manchmal.
Der Sechzigjährige tat, «was alle Jerusalemer tun, wenn es in der Stadt eine Attacke gibt»: Er rief seine beiden anderen Kinder an, zuerst Husam, den älteren, dann Bahaa, seinen jüngeren Sohn. Bahaa reagierte nicht. Mehr noch als das Leerzeichen aber beunruhigte Allyan, dass Bahaa noch nichts auf Facebook gepostet hatte. Er war sonst immer der Erste, der nach einem Anschlag einen Kommentar absetzte, Videos postete, News verlinkte. Diesmal schwieg er. «Da war mir eigentlich schon klar, dass mein Sohn tot ist», sagt Allyan. Das Video, das die verstörende Wahrheit ans Tageslicht brachte, war nur fünfzehn Minuten lang im Internet zu finden. Es zeigte Bilder aus dem Inneren des attackierten Busses, zersplittertes Glas, Blutspuren, die Leiche eines Attentäters. Muhammad Allyan erkannte sie sofort: die Socken seines Sohnes Bahaa.
Tiefgefrorene Angreifer
Ein halbes Jahr später befindet sich der Anwalt auf einem Feldzug, sein kleines Ostjerusalemer Büro ist die Schaltzentrale. Hier empfängt er JournalistInnen. Von hier aus will Allyan die Weltöffentlichkeit auf seinen Fall aufmerksam machen. Doch der Mann mit sanften Augen und einer Nase, die sich in abenteuerlichem Winkel Richtung Mund beugt, führt einen unattraktiven Kampf: Muhammad Allyan will seinen Sohn bestatten. Vor Gericht vertritt er zudem vierzehn weitere Familien, Familien von Attentätern wie Bahaa – die nicht nur in den Augen der israelischen Öffentlichkeit all ihre Rechte verwirkt haben.
Einen Tag ist die Verhandlung an Israels Oberstem Gerichtshof her. Muhammad Allyan trug seinen schwarzen Talar. Mikrofone wurde ihm entgegengestreckt, in die Allyan in würdevoller Haltung sprach, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Es war der Gestus eines Mannes, der beschlossen hatte, dass sein Stolz unantastbar sei. Die Gefasstheit eines Vaters mit einer Mission.
Geblieben ist nach dem Gerichtstermin Enttäuschung. Nicht über die Justiz: Dass die obersten RichterInnen den Prozess am Ende vertagten, war mehr, als der Anwalt gehofft hatte. «Doch ich erwartete mir viel mehr Interesse an dem Fall. Es ist das erste Mal, dass Palästinenser gerichtlich für die Rückgabe ihrer Leichen kämpfen.» Es kamen nur die üblichen Verdächtigen: palästinensische VideojournalistInnen und die immer gleichen MenschenrechtsaktivistInnen. Die palästinensischen Abgeordneten der Knesset blieben der Verhandlung hingegen fern.
Dreizehn Jahre alt ist der jüngste Attentäter, dessen Familie Allyan vertritt. Er soll einen Polizisten mit einem Messer bedroht haben und blieb das einzige Opfer, niedergestreckt von israelischen Sicherheitskräften. 30 israelische ZivilistInnen sind seit Oktober bei palästinensischen Angriffen umgekommen, 200 PalästinenserInnen getötet worden. Wer als Terrorist eingestuft wird, dessen Familie wird kollektiv bestraft. Nicht nur im annektierten Ostjerusalem, neuerdings auch im besetzten Westjordanland behält der israelische Staat immer wieder Leichen von erschossenen Angreifern zurück, eingefroren bei minus siebzig Grad.
Einzige Chance auf eine Beerdigung ist ein schikanöser Vertrag, umgerechnet fast 20 000 Franken muss eine Familie aufbringen, um die Einhaltung aller Bedingungen zu garantieren. Muhammad Allyan kramt einen solchen Vertrag aus seinen Akten, platziert ihn umgekehrt auf seinem Pult. «So legen sie ihn dir hin», sagt der Anwalt. «Die Ermittlungsabteilung der Polizei hat die Bedingungen zuvor dem Anwalt diktiert. Die Familien dürfen den Vertrag nicht lesen. Sie unterschreiben blind.»
Die israelischen Forderungen füllen mehrere Seiten: Wie einen Tatort wird die Polizei vor der Beerdigung den Friedhof durchkämmen. Erlaubt sind höchstens dreissig TeilnehmerInnen. Ihre Namen und die Nummern ihrer Ausweise werden registriert, die Leiche direkt auf den Friedhof geliefert. Wann die Beerdigung stattfindet, erfahren die Angehörigen eine Stunde vorher. Israel will mit den Bedingungen verhindern, dass die Beerdigungen von Angreifern zu Märtyrerprotesten werden. Die Leichen sind aber auch ein Mittel der Kontrolle: Brechen Unruhen aus, setzen die Behörden die Rückgabe von Leichen ganz aus.
Oder sie brechen ihre Versprechen. Auf einen Deal mit der Polizei hat sich bislang nur einer von Allyans Klienten eingelassen. Bekommen hat er eine noch immer tiefgefrorene Leiche; die Behörden hatten sie nicht wie angekündigt aufgetaut. «Wie willst du einen Eisklotz ehren?», fragt Allyan. «Ihn küssen, mit Blumen schmücken, aufbahren?» Der Vater weigerte sich, die Leiche anzunehmen, sein Sohn wurde wieder abtransportiert.
«Ruhig, nachdenklich, intelligent»
Auch Bahaas Leiche liegt noch immer tiefgefroren in einem Fach. Ein Jahr bevor der 22-Jährige seine blutige Tat beging, postete er auf Facebook eine Liste, die er die «Zehn Gebote eines Märtyrers» nannte. Nummer eins: «Ich rufe die politischen Parteien auf, sich nicht für meine Attacke verantwortlich zu erklären. Mein Tod war für meine Nation, nicht für sie.» Nach dem Anschlag druckte die «New York Times» Bahaas Ankündigung. Davor habe sie keiner als solche verstanden, sagt Muhammad Allyan. Keiner jedenfalls, der Bahaa so kannte wie er selbst: «Ruhig, nachdenklich, intelligent. Ein Leser.» Bahaa leitete in seinem Quartier eine Pfadfindergruppe, er engagierte sich im Kulturverein, machte mit den Kindern seiner Nachbarschaft Musik. Sein Sohn habe Ideale gehabt, sagt Muhammad Allyan. 2014 organisierte der Grafiker eine Lesekette um die Jerusalemer Altstadt: Bücher gegen die Barbarei. «Er wollte demonstrieren, dass wir nicht die sind, für die uns die Israelis halten», sagt Allyan. «Dass wir kultivierte Menschen sind. Belesene Menschen. Niemand hätte ihm die Attacke zugetraut. Nicht Bahaa.»
Bahaa Allyans Attentat war eine der ersten Attacken der Angriffswelle – die inzwischen manche als dritte palästinensische Intifada bezeichnen, als einen Aufstand der Messer. Mit Messern und Schusswaffen sollen Bahaa und einer seiner Freunde die BusinsassInnen angegriffen haben. Drei Zivilisten starben bei dem Attentat, zwanzig weitere ZivilistInnen wurden verletzt. «Die Situation war deprimierend», sagt Muhammad Allyan. Nach den Tempelberg-Unruhen des vergangenen Jahres und dem erneuten Rechtsrutsch bei den Parlamentswahlen hatte sich Israels Kriegsrhetorik verschärft. In Jerusalem häuften sich Proteste jüdischer Ultranationalisten, im Westjordanland die Attacken jüdischer Siedler auf ihre palästinensischen Nachbarn. Die wütenden palästinensischen Proteste in den besetzten Gebieten eskalierten zusehends. Nach der Invasion jüdischer Extremisten in die Al-Aksa-Moschee und einem darauffolgenden Messerattentat auf zwei jüdische Altstadtbewohner sperrten die Sicherheitskräfte die Jerusalemer Altstadt erstmals für alle PalästinenserInnen aus dem Westjordanland.
Das war nur wenige Tage vor Bahaas Tat. Sein Sohn habe die News sehr genau verfolgt, sagt Muhammad Allyan. Auf palästinensischen Internetportalen kursierten Videos niedergestreckter junger Araber: Messerangreifer, die bereits am Boden lagen, unbewaffnete Demonstranten und Journalisten. Einmal mehr. Es sind Geschichten wie die von Iyad Sadschadiyya, aufgewachsen im Kalandia-Flüchtlingslager direkt hinter einem der grössten Checkpoints der israelischen Sperranlage, getötet am 29. Februar.
«Ich habe keine Angst vor dem Tod»
Zweimal kracht die Stossstange unsanft auf den Asphalt. Das Haus von Iyad Sadschadiyyas Familie liegt am Ende einer löchrigen Schotterstrasse. Ein kleiner Vorhof, das Wohnzimmer ist von einem süsslich-stickigen Geruch erfüllt. Sofas stehen an den farbig bemalten Wänden des ansonsten kahlen Raums. Iyad Sadschadiyyas Mutter hat Tee aufgesetzt, wie immer, wenn sie Gäste empfängt. Sie mag keine vierzig sein, doch ihr Gesicht ist gezeichnet von einem Leben aus Pflichtbewusstsein und Arbeit. Nun ist die Trauer dazugekommen. Acht Kinder hat Sabah Sadschadiyya bekommen, Iyad war ihr Ältester. Beginnt seine Mutter von ihm zu sprechen, findet sie keinen Anfang und kein Ende. Wie könnte sie auch: Der Tod ihres Sohnes hat Sabah überwältigt. Wie ein beklemmendes Mantra wiederholt sie die immer gleichen Formeln: «Gott ist gross. Er hat meinen Sohn zum Märtyrer gemacht. Gott sei Dank. Alhamdulillah. Alhamdulillah.» Dann wieder ungefilterter Schmerz. «Das Lächeln meines Sohnes», sagt Sadschadiyya. «Seine Hilfsbereitschaft. Wie er mich immer umarmt hat.»
Sabah Sadschadiyya hat ihren ältesten Sohn oft eingesperrt. Leise schlich sie sich zu seinem Zimmer, vorsichtig drehte sie den Schlüssel im Schloss um – immer dann, wenn sie fürchtete, die Nacht würde wieder neue Unruhen bringen. «Ich lebte mit der ständigen Angst, Iyad zu verlieren», sagt sie. Das Kalandia-Flüchtlingscamp gehört zu den Hochburgen palästinensischen Widerstands. Seit dem Ausbruch der Messer-Intifada kommt es fast täglich zu Zusammenstössen zwischen der israelischen Armee und steinewerfenden Jugendlichen. Nachts dringen Spezialeinheiten der Armee ins Flüchtlingscamp ein – oder Fahnder des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. Meist kommen sie, um jemanden zu verhaften. Dauert eine Aktion länger als ein paar Minuten, stürmen die Soldaten auch die Nachbarhäuser des Gesuchten, postieren Scharfschützen auf ihren Dächern. Dann dauert es nicht lange, bis sich die Jugendlichen von Kalandia mobilisiert haben und die Situation eskaliert.
Die Nacht, in der Iyad Sadschadiyya stirbt, beginnt gewöhnlich. Wie immer montagabends jobbt Iyad im Kleiderladen eines Bekannten. Keiner ahnt, dass es einer der blutigsten Abende der jüngeren Geschichte des Flüchtlingscamps werden wird. Wie es genau passierte, ist bis heute ungeklärt. Die beiden israelischen Soldaten, die sich an diesem 29. Februar mit ihrem Jeep nach Kalandia verirrten, gaben später an, die Navigationsapp des Militärs habe sie in die Irre geführt. Brandcocktails fliegen auf das Auto, Strassenschlachten entbrennen, die Soldaten fliehen, einer verläuft sich.
Eine halbe Stunde nach seinem Verschwinden fährt die israelische Armee mit Luft- und Bodentruppen in Kalandia ein, sie folgten der sogenannten Hannibal-Direktive. Seine SoldatInnen weiss Israel lieber tot als in den Händen der Feinde. Droht ein Soldat oder eine Soldatin entführt zu werden, heisst das massive Feuerkraft, ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Der Kleiderladen befindet sich direkt am Eingang zum Flüchtlingslager. Seine Videokamera hat Iyad Sadschadiyya immer dabei. Die tödliche Kugel trifft ihn auf einem Dach, auf das er geklettert ist, um die besten Bilder aufnehmen zu können.
Iyad Sadschadiyya studierte Journalismus, eine Prüfung fehlte noch bis zum Masterabschluss. Zwei Jahre vor seinem Tod hatte er mit Freunden das Kalandia-Medienzentrum gegründet. 22 junge Studenten und Journalisten arbeiten inzwischen für die Organisation. So etwa Iyads 24-jähriger Freund Madschid Lafi. «Passierte etwas in Kalandia, gab es darüber immer tausend verschiedene Informationen», sagt er. «Wir wollten die Nachrichten professionalisieren, eine echte Newssite werden.» 65 000 Follower hat die Facebook-Seite des Medienzentrums inzwischen.
Iyad habe in der Nacht seines Todes keine Angst gehabt, sagt sein Freund. Vom bestiegenen Dach aus habe er die Lichter Jaffas sehen können, die arabische Hafenstadt bei Tel Aviv. «Was für eine schöne Nacht», habe Iyad gesagt. «Stell dir vor, wir würden da unten am Strand liegen.» Oft hing Iyad abends mit seinem Freund ab. Es gab nicht viel zu tun im Camp, man traf sich in den schmalen Strassen, trank Kaffee auf Treppenabsätzen, rauchte Shisha auf Plastikstühlen. Iyad habe sich nach solchen Treffen nie nach Hause fahren lassen wollen, sagt Madschid Lafi. Diese Viertelstunde alleine mit sich und der Welt. Die Zigarette auf dem Heimweg: «Das war für ihn die schönste Zeit des Tages.»
Drei Mitarbeiter des Kalandia-Medienzentrums sind seit der Gründung getötet worden. Fragt man Madschid Lafi, ob er den Tod fürchte, erntet man ein spöttisches Lächeln. Das Leben hier sei eben so, sagt Lafi: Steinewerfen oder Zugrundegehen. Wer in einem Flüchtlingslager aufwachse, das längst zu einer permanenten Stadt geworden sei, fürchte nichts mehr als den Stillstand, den inneren Tod. «Ich kann nicht nach Jaffa fahren, um zu baden, ich lebe hinter einer Mauer, ich habe keine Angst vor dem Tod.» Die israelischen Soldaten dagegen seien Waschlappen. «Wir sehen die Angst in ihren Augen. Wir hören sie wimmern. Darum schiessen sie auch. Weil sie eine Scheisspanik haben.»
«Sie wollen also über die Opfer reden?»
Plötzlich kippt die Stimmung. Muhammad Allyan, der Anwalt, fällt in seinen Bürostuhl zurück. Verschränkt die Arme vor der Brust, seine eben noch freundliche Miene verdüstert sich. Die Übersetzerin hat sich die Hand vors Gesicht geschlagen, schüttelt immer wieder den Kopf. Zwischen den beiden herrscht die Einigkeit der Empörten. Eben noch hat Muhammad Allyan von seinem Sohn gesprochen. Von Bahaa, der bei seinem Tod ebenso alt war wie der getötete Journalist Iyad Sadschadiyya. Von Bahaa, der wie Iyad Sadschadiyya für eine bessere Zukunft gekämpft hatte. Von Bahaa, der sich entschied zu töten. «Bahaa hatte auch mein Profil», sagt die Übersetzerin. Dreissig Jahre alt ist sie, Sozialarbeiterin, tätig für eine palästinensische NGO. «Bahaa war wie wir alle. Dass ausgerechnet er zu einem solchen Schluss gekommen ist, war erschütternd. Jeder hat sich plötzlich gefragt, was das denn bringen soll, dieses hübsche bisschen Community Work. Ob wir nicht alle viel radikaler sein müssten, wenn die Lage selbst einen wie Bahaa zum Messer greifen lässt.»
Eilig rafft sie ihre Sachen zusammen. Muhammad Allyan hat sich aus seinem Bürostuhl erhoben, streckt mir kühl die Hand zum Abschied entgegen. «Sie wollen also über die Opfer reden?», fragt er. «Darüber, ob ich meinen Sohn nun anders sehe? Dann sage ich Ihnen: Das sind komplett irrelevante Fragen. Bahaa hat seine Antwort auf die Besatzung gegeben, er hat seinen Weg gewählt, darüber werde ich nicht urteilen.»
Auch Budur Hassan kannte ihn, den jungen Aktivisten. Jeder, der irgendwie politisch aktiv sei, habe ihn gekannt, sagt die junge Journalistin in einem Café neben dem arabischen Busbahnhof in Jerusalem. «Niemanden liess seine Tat kalt.» Es ist heiss, Budur Hassans Locken kleben an der feuchten Stirn, sie kommt gerade von einem Tag an der Universität. Spricht man mit ihr, dauert es keine fünf Minuten, bis man vergessen hat, dass Hassan nichts sieht. Ihre Augen verdrehen sich beim Reden, verschwinden in den Augenhöhlen, doch es ist ihre Klarheit, die einen sofort in den Bann zieht. Hassan studiert Recht an der Hebräischen Universität Jerusalem. Zu schreiben begann sie, als er sie nicht mehr losliess: der Tod. «Ich war einmal mehr an einer Beerdigung gewesen», sagt sie. «Hatte mit den Eltern gesprochen, die ihren Sohn zu Grabe trugen. Abends setzte ich mich hin und schrieb ihre Geschichte auf.»
Kürzlich hat Hassan ihren ersten Artikel auf dem Onlineportal des katarischen Nachrichtensenders al-Dschasira veröffentlicht. Regelmässig schreibt sie für die palästinensische Onlinezeitung «The Electronic Intifada». Sie ist zu einer Stimme des Aufstands geworden, einer kritischen Stimme. Die Besatzung mache etwas Gefährliches mit den Menschen, sagt Hassan. «Sie verführt uns dazu, unser eigenes Handeln nicht mehr zu reflektieren. Doch hört eine Gesellschaft auf, sich selbst zu hinterfragen, führt das immer in die Militanz. Auch wenn du der Unterdrückte bist.»
Eine BBC-Reporterin legte Budur Hassan kürzlich den Satz in den Mund, sie verurteile die Anschläge junger Palästinenser auf israelische Zivilisten. «Das war wohl das, was sie von mir hören wollte», sagt die Journalistin. Doch so einfach sei die Sache nicht. «Ich masse mir nicht an, diese Jugendlichen zu verurteilen. Die meisten der Attentäter wurden nach dem Scheitern der Oslo-Verträge geboren. Seit ihrer Kindheit gab es keinerlei Fortschritt, nur immer mehr Besatzung, Landnahme, Gewalt.» Ihre Taten verstehe sie als einen Akt, um diese Ohnmacht zu überwinden. «Doch», sagt Budur, «ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Wie Bahaa diesen Bus betritt, mit dem Messer in der Hand. Wie er auf andere Menschen losgeht, auf sie einsticht.» Bahaa, sagt Budur Hassan, sei ein Menschenfreund gewesen. «Das macht es für mich unbegreiflich. Er war genau so wie wir alle.»
Budur Hassan macht kaum Pausen zwischen den Sätzen, redet ohne Unterlass. Es sei schwierig geworden, sagt sie, in Palästina über Menschlichkeit zu sprechen. Darüber, wie verstörend der Akt des Tötens sei. Zu tief steckt die Opferlogik in den Köpfen der Menschen. David gegen Goliath, die Schwachen gegen die Starken: Das gelte auch dann, wenn sich Widerstand in einen willkürlichen Angriff verkehre. «Ich fürchte, dass wir abgestumpft sind», sagt Hassan. «Doch ich will keine Gesellschaft, die das Messer zu ihrem Symbol macht – die Gewalt verherrlicht, die nur Märtyrer als Helden feiert.» Palästina, sagt Hassan, sei eine Gesellschaft geworden voller Paradigmen. Das zeige sich etwa bei den Eltern von «Märtyrern». «Sie müssen stark sein und glücklich. Schwäche ist nicht erlaubt – dabei sind sie meist voller konfuser Trauer, wenn ich sie treffe.» Iyad Sadschadiyyas Mutter habe nach dem Tod ihres Sohnes verzweifelt nach Antworten gesucht, sagt Hassan. «Oft wissen die Eltern wenig über ihre heranwachsenden Kinder. Wenn sie dann sterben, trifft sie das wie ein Schlag. Doch darüber zu reden, ist schwierig.»
«All you need is love»
Es ist das Haus ganz unten. Die Szenerie bedrückend schön: Eine grüngraue Weite erstreckt sich hinter den runden Maueröffnungen. Nach Bahaa Allyans Attentat dauerte es nur wenige Wochen, bis das Abrisskommando in Dschabel Mukaber einfuhr. Fünfzehn Jahre hatten Muhammad Allyan und seine Familie in dem Haus gelebt, nichts haben sie daraus mitgenommen. Alle Möbel sind noch da, inmitten von Schutt und Asche. «All you need is love» steht noch immer in grossen Lettern über Bahaas ehemaliger Zimmertür.
Es ist der Morgen nach der Eskalation in Allyans Büro. Der Anwalt, der mit seiner Familie bei Verwandten untergekommen ist, tischt mit freundlicher Nachsicht Kaffee auf. Noch einmal landet das Gespräch bei diesem 13. Oktober. Dem Tag, als Bahaa das Haus verliess, um nicht mehr zurückzukehren. Bis das Militär den Bus nach der Attacke umstellt hatte, dauerte es nur einige Minuten. Ein Video kurz nach der Tat zeigte, wie der militärische Kugelhagel den Bus durchlöchert. Untersuchungen zum Fall haben die israelischen Behörden nie öffentlich gemacht. «Ich weiss bis heute nicht, wie viele Menschen mein Sohn tatsächlich getötet hat», sagt Allyan. «Und wer von den Kugeln der Armee getroffen wurde.» Allyan hat deshalb gerichtlich eine Autopsie der Leichen angefordert.
Es wird ein weiterer unbeachteter Kampf.
Kollektive Bestrafung
Israels oberste Richter haben inzwischen ihr Urteil gesprochen: Die Behörden wurden angehalten, die eingefrorenen Leichen bis zu Beginn des Ramadans am 6. Juni zurückzugeben. Die Bedingungen stellt das Gericht nicht infrage. Zwei Leichen wurden seit dem Urteil an Familien in Dschabel Mukaber zurückgegeben. Weil mehr Personen als erlaubt an den Beerdigungen teilnahmen, kündigten die Behörden an, die Rückgabe der Körper wieder zu sistieren.
Israels Verteidigungsminister Mosche Jaalon bestreitet, dass es sich beim Einbehalten der Leichen um eine Kollektivstrafe handelt. Derweil wird die Repression in den besetzten Gebieten ständig verschärft. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden von Januar bis Mai 2016 über 600 palästinensische Häuser zerstört, mehr als im gesamten Jahr 2015. Dies als Bestrafung von Angehörigen mutmasslicher Angreifer oder weil die Häuser als illegal taxiert worden waren. Immer mehr minderjährige Palästinenser werden zudem verhaftet oder unter Hausarrest gestellt. Von 900 Fällen im Jahr 2015 berichten NGOs – und von 250 Fällen in den ersten drei Monaten dieses Jahres.