60 Jahre Befreiung: Das verschlossene Archiv der NS-Zeit

Nr. 21 –

Vielen Angehörigen von Opfern des Nationalsozialismus - und vielen überlebenden Opfern selber - ist der Name des hessischen Städtchens Bad Arolsen seit Jahrzehnten ein Begriff: Sie verbinden ihn mit Hoffnungen, mit unendlichen Wartezeiten und mit einer bürokratischen Abfertigungspraxis, die sich in pedantischen Antragsformularen äussert, in uneleganten Normschreiben oder auch in der barschen Anweisung, von Mahnungen sei bitte abzusehen.

In Arolsen steht eine bedeutende Institution des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde hier von den Alliierten ein internationaler Suchdienst angesiedelt, welcher das Schicksal der aus ganz Europa verschleppten, versklavten und ermordeten Menschen dokumentieren sollte. Der International Tracing Service (ITS) erhielt den Auftrag, den aus der Nazigewalt befreiten Leuten - «displaced persons» nannte man sie - einerseits ihre Leidenszeit zu beglaubigen. Andererseits sollte der Suchdienst den Opfern helfen, Spuren ihrer Verwandten zu finden, die in den Lagern verschwunden waren. Die Unterlagen, welche dem ITS dazu von alliierten Stellen geliefert wurden - etwa Akten der Nürnberger Prozesse, Verzeichnisse von Deportationszügen oder auch Dokumente der Rettung wie das Original von Schindlers Liste -, sollten in Arolsen gesammelt, geordnet und ausgewertet werden. Bald kam auf diese Weise der weltweit grösste Quellenbestand über das nationalsozialistische Lager- und Vernichtungssystem zusammen, ein Archiv, das es in gleicher Qualität heute nirgendwo anders gibt. Und ein Archiv, zu dem bis heute - man kann es kaum fassen - kein Historiker und keine Historikerin Zugang erhält: aus Datenschutzgründen.

47 Millionen Hinweise auf 17 Millionen Personen liegen in Arolsen: 17 Millionen Verfolgte des NS-Regimes. Die Zwangsarbeiter sind darunter, die Jüdinnen und Juden, die Schwulen, die Zeugen Jehovas, die Zigeuner. Von den Nazis sind sie vollständig entrechtet worden. Vom ITS und damit vom IKRK werden sie streng geschützt, aber so, dass dieser Schutz einer neuen Entrechtung gleichkommt.

Nehmen wir als Beispiel die bei ihrem Tod 47-jährige Elfriede Neuwirth-Pollak und ihren Mann Paul Neuwirth, die 1938 in Wien gelebt hatten, aus Böhmen stammten und von dort deportiert worden sind. Als ihre in die Schweiz geflohene Tochter 1948 nach Akten über die Familie suchte, fand sie nicht einmal mehr einen Beweis, dass sie selber geboren worden war. Ihre Eltern hatten standesamtlich nie existiert, alle Akten waren vernichtet worden. Aus den in Arolsen liegenden Dokumenten geht jedoch hervor, dass die Neuwirths am 28. Juli 1942 mit Transport AAy von Theresienstadt weggefahren wurden: direkt zur Ermordung. In keinem anderen Archiv fand sich diese Spur. Nur in Arolsen liegt der Beweis dafür, dass es Elfriede und Paul überhaupt jemals gab. Aber nachdem ihre Tochter gestorben ist, steht dieses Dokument heute der Forschung nicht mehr zur Verfügung - eine freie Einsicht in die Akten von Arolsen würde angeblich den Datenschutz der dort verzeichneten Opfer verletzen. Zum Beispiel die Rechte von Elfriede und Paul.

Das Archiv in Arolsen wird ausser vom IKRK von elf Vertragsländern mitverwaltet. Die Delegierten dieser Länder treffen sich am 30. Mai zu einer Sitzung. Die Chance, dass sie beschliessen, das Archiv für HistorikerInnen zu öffnen, ist klein. Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» hat einen Appell zur Öffnung des Archivs publiziert. Nötig wäre allerdings auch ein Appell für einen besseren Umgang mit den noch lebenden, hochbetagten Opfern selber: Sie warten heute im Durchschnitt drei Jahre auf eine Auskunft aus Arolsen. 470 000 Anfragen sind hängig.