«Die Kinder von Auschwitz»: Der Blick aus dem Inneren des Lagers

Nr. 8 –

In Gesprächen mit Menschen, die Auschwitz als Kinder überlebten, rekonstruiert der Autor Alwin Meyer die Realität des Grauens.

Schon die erste Sequenz von Claude Lanzmanns Dokumentarfilm «Shoah» (1985) ist eine Zumutung: Ein Mann steht auf einem Holzkahn, der Wald und die Wiesen bei Chelmno sind satt und grün. Der Mann singt ein tumbes, fröhliches deutsches Soldatenlied. Er heisst Simon Srebnik und ist einer von zwei Überlebenden der Vernichtungsphasen (Dezember 1941 bis März 1943 und Sommer 1944) im Lager Chelmno im besetzten Polen.

Das Lied musste er als Dreizehnjähriger für die Deutschen singen, während sie ihn täglich durchs Dorf trieben oder auf dem Kahn zur Zwangsarbeit brachten: «Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren / öffnen die Mädchen / Fenster und Türen / Ei warum, ei warum / Ei nur wegen dem Tschingderassabum …»

Unter der friedlichen Oberfläche dieser Szene zeigt sich der Zivilisationsbruch: Das harmlos klingende Lied ist das verbindende Glied zwischen Nationalismus und Herrenrasse, Spiessigkeit und Militarismus, Kultur und Sadismus. Die Gestalt des Kindes, als das wir uns Srebnik vorstellen müssen, übersteigert das Grauen ins Masslose. Theodor W. Adornos These, nach der die blinde und selbstgenügsame Kultur und Kunst seit Auschwitz «Barbarei» seien, bekommt eine Singstimme. Das war zu viel für den Bayerischen Rundfunk – mit aller Kraft stemmte er sich 1985 gegen die Ausstrahlung.

Bestialische Experimente

Der Blick von Kindern aus dem Inneren der Konzentrations- und Vernichtungslager ist selten ein Thema. In der Regel wurden Kinder, vor allem wenn sie jünger als zwölf Jahre waren, sofort getötet: «Nicht arbeitsfähig».

Durch das «Jugendverwahrlager» Litzmannstadt/Lodz wurden etwa 20 000 Jugendliche geschleust, nach Auschwitz kamen über 200 000. Manche wurden nicht sofort ermordet, weil Josef Mengele und sein Team sie noch für Experimente benutzten: Nina und Guido zum Beispiel, vier Jahre alt, öffneten sie Rücken und Blutgefässe – und nähten sie aneinander.

Alwin Meyer hörte 1971 bei seinem ersten Besuch in Auschwitz vom Überlebenden Tadeusz Szymanski, dass hier auch Kinder bestialisch malträtiert wurden – und begann, weltweit nach Überlebenden zu suchen. Gespräche mit über drei Dutzend Deportierten, die Auschwitz als Kinder überlebten, bilden den Grundstock für den Band «Vergiss Deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz». Die Ausstellung dazu ist nun in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu sehen.

Meyers Zugriff ist nicht der eines Historikers. Allerdings ordnet er Erzählungen und Erfahrungsberichte mit allgemeinen Einführungen und schaut auch auf die Lebensumstände der Kinder. Er erzählt dabei in den ersten Kapiteln nicht nur von vormaligem Kinderglück und dem Zerfall des friedlichen Zusammenlebens, sondern auch, wie viele Jüdinnen und Juden selbst noch in Deportationszügen nicht recht glauben konnten, wie ihnen geschah. Indem Meyer zunächst durch Sprachen und Alltag von Jüdinnen und Nichtjuden in deutschen, polnischen, griechischen oder tschechoslowakischen Städten schweift, blickt er auf die weit gefächerten Nuancen einer europäischen Kultur. Heute, wo Politikerinnen vor «Parallelgesellschaften» erschrockene Gesichter ziehen und Pegida-Organisatoren mit dem Begriff «Volk» durch Talkshows flanieren, ein bemerkenswertes Detail.

Kinder aus ganz Europa

Ab 1940 wurden Menschen aus allen von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten in Konzentrationslager verschleppt. Meyer folgt der Innenperspektive des Grauens: dem Überfall auf Nachbarländer, Enteignung, Flucht, den Deportationen nach Theresienstadt. Noch immer wussten viele nicht, was ihnen bevorstand: Als Yehuda Bacon in Theresienstadt ankam, hatte er «alles Neue an, und das doppelt und dreifach. Drei Paar Strümpfe, zwei Hemden, Sweater, Röcke, Wintermantel, und überall besondere Taschen, in denen ich alles Mögliche hatte. In einer eine Taschenapotheke, Vitamine, in einer anderen Nähzeug, Bleistifte, Papier, Zucker, Trockenspiritus, ein Adressenverzeichnis, eine ganze Menge Taschentücher, eine Wasserflasche. Ich glaube, es hat nichts gefehlt. Und genauso sahen alle rings um mich herum aus.» Es sollte Minuten dauern, bis all dies verloren war.

«Während der Junitage 1942», schreibt Saul Friedländer in seinem Band «Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945» (2006), «erreichte der deutsche Überfall auf die Juden Europas sein volles Ausmass.» Meyer überblickt Pogrome – Kinder aus Thessaloniki, Berlin, Hronov, Odolice, Prag, Witebsk oder Topolcany werden nach Auschwitz deportiert. Manche müssen noch aus dem Auskleideraum des Krematoriums vorgefertigte Grusspostkarten schicken – neben den schlicht unfasslichen Berichten von Willkür und vom gewaltsam aufs Nackte reduzierten Leben sind es solche Details, die einem den Atem nehmen: Die PR musste stimmen. Genozide sind Phänomene der Moderne.

Zur Buchvorstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand reisten Dagmar Lieblova und Jack Mandelbaum an, beide haben Auschwitz als Kinder überlebt. Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, sagte, auch mit Blick auf sie: Wir hätten es zu einem nicht geringen Teil der Vermittlungsarbeit von Überlebenden der Konzentrationslager zu danken, dass die Bundesrepublik heute ein geachtetes Mitglied der Weltgemeinschaft sei.

Die Ausstellung «Vergiss Deinen 
Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz» in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin läuft bis zum 29. März 2015.

Alwin Meyer: Vergiss Deinen 
Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz. Steidl Verlag. Göttingen 2015. 757 Seiten. 51 Franken