Wagendorf im Buechholz: Glücklich, trotzdem

Nr. 24 –

Bei Wohlen BE hat sich eine Gruppe junger Leute ein Zuhause eingerichtet. Ein juristisch unmögliches Projekt, das auf die Beisshemmung der Politik vertraut.

Eine Feuerstelle aus grossen Flusssteinen. Barfuss kniet ein junger Mann in zerschlissenen Army-Hosen davor, bläst unter zerknülltes Zeitungspapier, das er sanft auf die Asche vom Vorabend drückt. Der Waldboden ist hier ein federnder Nadelteppich. Neben Tannen stehen auch einige Buchen, weit oben in den Kronen lärmen die Vögel im Vormittagslicht.

«Hier leben wir zu neunt mit etwa zehn Hunden», sagt der Mann in einem Ostschweizer Dialekt und bläst auf die Glut. Hier, das ist ein leicht ansteigendes Waldstück im Buechholz zwischen Wohlen bei Bern und Uettligen, hundert Meter abseits eines Fahrwegs. Als eine erste Flamme emporschiesst, schichtet der Mann Reisig auf die brennende Zeitung. Das Areal mit den acht Wohn- und dem Werkstattwagen ist von einem Zaun begrenzt. «Damit die Hunde nicht den Waldtieren nachstellen», sagt der Mann und füllt Kaffeepulver und - aus einem Plastikkanister - Wasser in die russgeschwärzte Espressomaschine, schraubt sie zusammen und schiebt sie an den Rand des Feuers.

Nach und nach stolpern aus den Wohnwagen die Bewohnerinnen und Bewohner des Wagendorfs, junge Frauen und Männer, setzen sich gähnend auf herumstehende Stühle und in den miefigen Fauteuil unter der grünen Plastikblache, die vor Regen nur notdürftig schützen wird. Einer hebt den Deckel der Pfanne auf der Holzbank: «Da hats ja noch Chüngel», sagt er, angelt sich einen Happen, schiebt ihn in den Mund und stellt fest: «Der böse Chüngel ist wirklich fein und zart geworden.» Warum Kaninchen böse seien? Der Chüngel habe der Tochter vom Bauer Bürki gehört, und weil der Chüngel sie immer gebissen habe, habe sie ihn hierher gebracht. Und wer der Bauer Bürki sei? Dem gehöre der Wald hier. Der Gast kriegt seinen Kaffee in der grössten vorhandenen Tasse und dazu eine Coop-Süssigkeit mit rosarotem Zuckerguss und einem «50% billiger»-Kleber auf der Verpackung.

Der Weg ins Buechholz

«Es ist doch alles einfach ein blödes Theater», sagt Martin. «Immer nur krüppeln, damit du eine Wohnung bezahlen kannst, in der du nichts anrühren darfst, weil sonst gleich der Besitzer angerannt kommt.» Martin ist 23. Bis 18 hat er in der Nähe von Basel gewohnt. Dann ist er weg von zuhause, weil ihn anödete, was er lernen sollte: «Eine Lehre musst du machen, einen Job musst du haben und eine Wohnung, sonst kannst du dich gleich umbringen.» Lieber lebt er in besetzten Häusern oder unter einer Blache im Wald oder «irgendwo halt».

Die Gruppe hier traf sich in einem besetzten Haus im Berner Sulgenauquartier. Im Hinblick auf die bevorstehende Räumung besetzten die einen Anfang Jahr ein anderes Haus, die anderen begannen sich nach Wohnwagen umzusehen. Im Februar tauchten dann acht Leute mit vier Bauwagen auf dem Parkplatz der Kläranlage Worblaufen auf. Die ARA-Leute seien kulant gewesen, keine Lämpen, Brennholz sei ihnen zur Verfügung gestellt worden. Aber klar, man musste bald weiter. Auch im Bremgartenwald und in Riedbach hätten sie nicht bleiben können: «Noch bevor unsere Wagen richtig stillstanden, war die Polizei da.» Für knapp anderthalb Wochen zogen sie dann in die Wohlei unten am Wohlensee, dann kurz in das Dorfzentrum von Hinterkappelen, danach auf den Parkplatz des alten Schützenhauses von Uettligen. Dort drohte nach anderthalb Monaten die polizeiliche Räumung.

«Damals lernte ich den Bauer Bürki kennen», erzählt jetzt Sascha, «als ich mit dem Traktor stehen blieb, weil der Most ausgegangen war.» Bürki habe ihm mit einer Kanne Diesel ausgeholfen. Als er ihm später eine Kanne Diesel zurückgebracht und von der angedrohten Räumung erzählt habe, bot Alfred Bürki das Waldstück hier an. «Das war Nachbarschaftshilfe. Die Bürkis, das sind Menschen.»

Am 6. Mai schloss man einen «Nutzungsvertrag» ab, wonach Bürki das Wagendorf vom 15. Mai bis zum 15. September gegen ein symbolisches Entgelt in seinem Wald duldet. Wasser stellt der Bauer zur Verfügung, das Abwasser soll gesammelt und bei ihm in die Jauchegrube gekippt werden. Die NutzerInnen verpflichten sich, das Waldstück sauber aufgeräumt zu hinterlassen.

Mit dem Nutzungsvertrag war privatrechtlich gesehen die Sache in Ordnung. Aber daneben gibt es noch ein öffentliches Recht und die Politik. Als er von den Wagen im Wald Kenntnis erhalten habe, sagt der Wohlener Bauinspektor Ueli Zimmermann, habe er am 24. Mai einen so genannten «Augenschein mit Einräumung des rechtlichen Gehörs» organisiert. Teilgenommen hätten vonseiten des Kantons der Oberförster und der Wildhüter. Der Vertreter des Wagendorfs sei darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Siedlung eine Baubewilligung brauche - ein entsprechendes Baugesuch sei dann am 27. Mai prompt eingetroffen.

Im Dschungel der Paragrafen

Unterdessen hat die zuständige Departementskommission Bau entschieden, der Vorsteherin des Departements Bau und Planung, Rosmarie Kiener, einer Sozialdemokratin, zu beantragen, das Geschäft angesichts seiner Einzigartigkeit in die Dorfregierung, den Gemeinderat, einzubringen, damit es nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern auch politisch entschieden werde.

Was andererseits das Juristische betreffe, fährt Zimmermann fort, gelte der Artikel 24 des nationalen Raumplanungsgesetzes («Ausnahmen für Bauten und Anlagen ausserhalb der Bauzonen»). Zu berücksichtigen seien zudem Baugesetz und Forstgesetzgebung des Kantons und das Baureglement der Gemeinde Wohlen. Seine Einschätzung: «Das Gesetz sieht ein Wagendorf im Wald einfach nicht vor. Rechtlich gesehen wird eine Baubewilligung kaum zu erhalten sein.»

Nun ist aber auch bekannt, dass das Baurecht viele Rechtsmittel - das heisst Beschwerdemöglichkeiten - vorsieht. Wenn ein Gesuchsteller alle juristischen Mittel ausschöpfe, könne es bis zu einem Entscheid Monate dauern. Der Gemeinderat von Wohlen kann das Geschäft, wenn er will, demnach problemlos bis zum 15. September hängig belassen. Umso mehr als die Leute des Wagendorfs Kontakt zum Berner Rechtsanwalt Daniele Jenni aufgenommen haben. Und der ist bei Baugeschäften ein weit herum gefürchteter Spezialist im Ausschöpfen der rechtlichen Möglichkeiten.

Unterdessen hat sich Eliane ans Feuer gesetzt, nimmt die Kaffeemühle, beginnt den Griff im Kreis zu drehen. 19 ist sie, aus dem Oberaargau. Die Schule habe sie nicht fertig gemacht, sagt sie, keine Stifti angefangen, manchmal gejobbt, manchmal gemischelt, manchmal beim Sozialdienst vorbeigeschaut, einmal eine Kurve durch die Psychiatrie. «In der Gesellschaft bin ich nie klar gekommen», sagt sie, «immer sollte ich mich anpassen, das Tussi spielen, das hat mir das Herz zerrissen.» Hier sei es genau umgekehrt: «Hier akzeptieren dich die Leute nur, wenn du dich so gibst, wie du bist.» Sie ist hierher gekommen, weil es ihr hier wohl ist.

Die Wagendorf-Gruppe hat sich als Verein Alternative konstituiert, dessen Zweck es ist, «ausserordentliche Anlässe» im Allgemeinen und «alternativen Wohnraum» im Besonderen zu fördern, in dem einerseits Kunst, Spiel, Musik, Kreativität und Diskussion stattfinden können und der andererseits als Anlaufstelle dienen soll für Leute, die diese Anlaufstelle brauchen.

Sascha erzählt: Vom einen Bauern in der Nachbarschaft beziehe man die Milch, von einem andern das Fleisch. Klar bezahlten sie dafür: «Das ist ja ihre Arbeit.» Die meisten hier verdienten Geld, zumeist mit Gelegenheitsarbeiten in der Stadt, zum Beispiel im Integrationsprogramm Gumpesel - einer Spielzeugrecycling-Werkstatt - oder als Taglöhner im Jugendzentrum Gaskessel.

Energieaustausch

Ziel sei es, das Wagendorf als unbefristete Basis zu etablieren, «selbstverwaltet und möglichst unabhängig». Man wolle in einen «Energieaustausch mit der Gesellschaft» treten: Strassenartistik, Strassenmusik, Handwerk gegen das Lebensnotwendige; später könnten jene, die Lust haben, als kleiner Zirkus auf Tournee: Sounds, Show, und danach wieder ins Wagendorf «nach Hause» kommen. «Klar brauchen wir die Stadt», wirft Annina ein, «aber wir brauchen auch den Wald, um abzuschalten. So sparen wir den Psychiater.»

Nun erzählt Sascha von sich: 23 sei er, aufgewachsen zuerst in einer Pflegefamilie, später bei der Mutter, die ihn allein erzogen habe: Er sei früh auf die eigenen Beine gekommen. Polymech-Ausbildung: Drehen, konventionelles Fräsen, elektronisches CNC-Fräsen, Lehrabschluss mit Note 4,5, aber nur praktisch, die Schule habe er nicht abgeschlossen, dann zwei Jahre Maschinenbau, dann RS, dann als Souschef in der Küche einer Beiz, zwischenhinein arbeitslos. Jetzt versuche er hier ein alternatives Leben aufzubauen. «Bis jetzt funktionierts: Wir machen unser eigenes Dorf.» Vorderhand bis Mitte September. Was danach kommt, weiss niemand.

Mittagszeit: Martin häkelt mit leuchtenden Wollfäden an einer bunten Spitzenmütze; neben ihm schnitzt ein Kollege aus einem tannenen Wurzelstück einen Pfeifenkopf; Eliane macht sich auf den Weg zum Postauto, sie arbeitet heute Nachmittag im Gumpesel; einer stimmt die Gitarre, beginnt gekonnt und leichthin zu spielen. Die Hunde dösen in den paar Lichtflecken, die es bis auf den Waldboden schaffen. Der kleine Traktor im Hintergrund heisst Emil.