Strom und Landschaft: Die Schafe sind dagegen

Nr. 27 –

Schon Ötzi trieb im Tirol die Schafe von Süden nach Norden. Wenn jetzt die geplanten Kraftwerke gebaut werden, ist es mit dem Weiden unterhalb des Niederjochs bald vorbei.

Es ist ein Bild von archaischer Kraft - frühmorgens um halb sieben trampelt die erste Gruppe von rund 200 Schafen blökend und dicht gedrängt über ein Schneefeld und erreicht das Niederjoch an der Grenze von Österreich und Italien in 3019 Meter Höhe. Drei Stunden zuvor waren die Tiere - begleitet von sechs Treibern und einigen Hunden - 1300 Meter tiefer im italienischen Vernagt aufgebrochen. In der Morgensonne rasten die Tiere vor der Similaunhütte, während sich die Treiber drinnen stärken.

Ehe die nächste, 500 Schafe starke Gruppe eintrifft, werden die ersten schon über den flach abfallenden Similaungletscher weitergezogen sein. Ihr Ziel ist eine der Weideflächen im lang gestreckten Niedertal, das bis Vent am südwestlichen Ende des Ötztales reicht. Drei Monate bleiben die Schafe dort auf der Sommerweide, am zweiten Septemberwochenende geht es wieder zurück.

Unter den Treibern - tatsächlich ausschliesslich Männer - sind auch welche, die selber keine Schafe besitzen. Sie machen mit, weil sie der Schaftrieb fasziniert. Einer begleitet eine Herde aus dem Vintschgau (im Dreiländereck zwischen Österreich, der Schweiz und Italien) und ist bereits den dritten Tag unterwegs. Ein anderer erzählt von Wetterbedingungen früherer Jahre, die sich dramatisch vom wolkenlosen und relativ milden heutigen Tag unterschieden haben. Er berichtet von Neuschnee, in dem Mensch und Tier kaum noch weiterkamen, von Nebel, Regen, Kälte und Sturm. Ende der achtziger Jahre seien fast hundert Schafe im Schneesturm knapp unterhalb des Niederjochs umgekommen, die Treiber hätten sich mit Mühe in die Hütte retten können.

Aber auch dieses Jahr ist es ein besonderer Alpaufzug. Am Niederjoch treffen die Treiber auf gut ein Dutzend AktivistInnen, die sich gegen die Kraftwerkspläne der Tiroler Wasserkraft AG (Tiwag) wehren. Unter ihnen Markus Pirpamer, der Wirt der Similaunhütte, Autor Markus Wilhelm, der die Tiwag-kritische Homepage www.dietiwag.org betreibt, die Bäuerin Erika Holzknecht und der Gletscherforscher Gernot Patzelt. Eine Hand voll JournalistInnen aus Österreich und Deutschland sind ihrer Einladung gefolgt. Nicht so ein Team des öffentlich-rechtlichen österreichischen Fernsehens ORF, nachdem der Chefredaktor des Landesstudios Tirol die Berichterstattung per schriftlicher Weisung untersagt hatte. An der Similaunhütte hängen Transparente. «Ja zu den Schafbauern - Nein zu den Kraftwerkbauern» heisst es auf einem, «Wir lassen uns nicht das Wasser abgraben!» und «Keine Stromfabrik im Ötztal!» auf anderen. Dabei ging es im hinteren Ötztal vorher jahrelang nur um Schafweiden.

6000 Jahre Schafe

Den Schaftrieb von Italien nach Österreich, so wie er auch heute noch üblich ist, gebe es bereits seit dem Mittelalter, sagt Gletscherforscher Patzelt - im 14. Jahrhundert hätten die BäuerInnen aus Schnals und Vent die ersten Verträge untereinander abgeschlossen. «Doch die Spuren einer Weidewirtschaft nomadisierender Viehhalter reichen gar 6000 Jahre zurück», sagt Patzelt. Das sei belegt durch Pollenanalysen, Holzkohlereste und Funde von Silexplättchen, die zur Herstellung von Pfeilspitzen verwendet wurden. So gehört vermutlich auch Ötzi, die 1991 nahe der Similaunhütte gefundene, 5300 Jahre alte Gletschermumie vermutlich zu jenen Viehhaltern, die den Sommer nördlich des Alpenhauptkamms und den Winter im Süden verbrachten.

Seit vielen Jahren kommen konstant rund 5000 Schafe über drei benachbarte Übergänge nach Tirol. Am Niederjoch sind es an diesem Tag bis Mittag an die 2000, verteilt auf fünf Gruppen. Zuletzt stolpern die schwächeren und die ganz jungen Lämmer hinterher. Die fünf allerjüngsten aber, gerade zwei Tage alt, denen die Nabelschnur noch am Bauch hängt, werden mit ihren Müttern in der Materialseilbahn zur Similaunhütte gegondelt.

Dort oben macht unterdessen eine «Schnalser Erklärung» die Runde, in der die Alpinteressenschaft (AI) Niedertal und die Agrargemeinschaft Rofenberg gegen den von der Tiwag geplanten Speichersee im Rofental protestieren. «Die Bedrohung ist nicht nur der Speichersee selbst», sagt Stefan Götsch, Obmann der AI Niedertal. Er befürchtet auch die jahrelange Bauzeit, die Errichtung von Baustrassen, Ableitungsstollen und Wehrbauten. «Durch die Ableitung der Bäche wird der Weideboden ausgetrocknet», sagt Götsch, doch genauso gefährlich sei der Verlust einer zweiten Funktion der Bäche: Sie grenzen die einzelnen Weideflächen voneinander ab. Fehlen sie oder sind sie als kleine Rinnsale kein Hindernis mehr für die Schafe, würden sich die Tiere verlaufen und es gebe ein heilloses Durcheinander.

Götsch, der auch für die Organisation des Schaftriebs verantwortlich ist, hat als allerletzter Treiber mit den langsamsten Schafen das Niederjoch erreicht. Er trägt ein weisses Lamm, das schwer atmet und sich nicht auf den Beinen halten kann. «Vermutlich eine Lungenentzündung», sagt er und veranlasst, das Lamm mit der Materialseilbahn zurück nach Vernagt zu transportieren, wo es ein Tierarzt untersuchen soll.

Hochpumpen, wieder ablassen

Der Stromkonzern Tiwag, der zu hundert Prozent im Eigentum des Landes Tirol ist, hat im Dezember 2004 einen so genannten Optionenbericht mit insgesamt sechzehn Kraftwerksprojekten vorgelegt. Zwei Milliarden Euro will er investieren. Vor allem im hinteren Ötztal und in Osttirol soll mit Pumpspeicherkraftwerken eine Leistung von mehr als 2000 Gigawattstunden erreicht werden. Die Hälfte dieser Energie wird auf dem Umweg über das Hochpumpen von Wasser in die hochgelegenen Speicherseen mit Hilfe von billiger Atomenergie erzeugt. Beim Pumpen geht zwar ein Drittel der Energie verloren, aber es ist die wunderbare Möglichkeit, den (verpönten) Atomstrom in (vermeintlich) saubere Energie aus Wasserkraft zu verwandeln. Der Vorteil eines Speicherkraftwerks besteht darin, dass durch erneutes Ablassen des Wassers die Energie sekundengenau in der Menge erzeugt werden kann, für die irgendwo am europäischen Markt gerade Bedarf besteht, wodurch ein deutlich höherer Preis gegenüber Bandstrom aus AKW, thermischen Anlagen und Laufkraftwerken erzielt werden kann.

Die Tiwag-Bosse und die von der konservativen ÖVP dominierte Landesregierung versuchen der Bevölkerung seit Monaten einzureden, Tirol sei ohne neue Kraftwerke vom Ausland abhängig und grosse Industrieunternehmen würden ohne billigen Tiwag-Strom abwandern. Tatsächlich geht es bei den Projekten vielmehr um Stromexport und gute Geschäfte. Seit sich die Tiwag mit der Marktliberalisierung an der Strombörse etabliert hat, erreicht sie im Stromhandel schon die gleichen Umsätze wie in ihren angestammten Geschäftsfeldern. Mit zusätzlichen, jederzeit verfügbaren Stromkapazitäten will die Tiwag auch an der Börse eingegangene Lieferverpflichtungen absichern.

In Tirol wird die Presse also mit einer millionenschweren Inseratenkampagne unter dem Motto «Tirol hat die Kraft» versorgt. Pikant ist die Situation beim ORF Tirol, der mit der allgegenwärtigen Tiwag eine Reihe von «Partnerschaftsverträgen» abgeschlossen ist. Hartnäckig halten sich Gerüchte über Gespräche zwischen dem Tiwag-Vorstandsvorsitzenden Bruno Wallnöfer und ORF-Tirol-Direktor Robert Barth. Deren angeblicher Inhalt: Ändert der ORF seine kritische Berichterstattung nicht, kündigt die Tiwag die lukrativen Verträge. Barth dementiert. Im ORF habe es «noch nie eine Verknüpfung von zahlenden Partnern und Berichterstattung gegeben». Und doch durfte der Sender nicht über den Protest am Niederjoch berichten. Die RedaktorInnen des ORF Tirol haben dagegen protestiert und wollen «die Einschränkung ihrer gesetzlich garantierten Unabhängigkeit» nicht hinnehmen.

Druck auf GegnerInnen

Die Tiwag setzt auch anderorts Druck auf - mit existenzbedrohenden Klagen gegen Markus Wilhelm und seinen Provider versucht sie die Homepage www.dietiwag.org zu sperren und den Betreiber mundtot zu machen. Doch bisher haben die Gerichte viermal gegen die Tiwag entschieden.

Derzeit werden die sechzehn Kraftwerksprojekte, die «Optionen», von ExpertInnen des Landes Tirol geprüft. Den Auftrag dazu hat die Landesregierung erteilt. Ein Ergebnis ist noch im Juli zu erwarten - man vermutet, dass sich daraus eine Rangordnung bevorzugter Projekte ableiten lässt, und es ist fast schon sicher, dass sich die Begehrlichkeiten vor allem auf das Ötztal richten werden. In dessen Einzugsgebiet befinden sich die grössten ungenutzten Wasserressourcen.

Also konzentriert sich auch der Widerstand auf das Ötztal und dessen Seitentäler - etwa jener der Agrargemeinschaft Sulztal, die im gleichnamigen Hochtal Grundbesitzerin ist. Gemeinsam mit dem lokalen Tourismusverband und der Bevölkerung von Gries wehrt sie sich gegen das Projekt eines Megastausees, mit 120 Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen. Und in Sölden trafen sich kürzlich 500 PaddlerInnen aus zehn Ländern. Die Ötztaler Ache gelte unter WassersportlerInnen als eine der hochkarätigsten Wildwasserstrecken Europas - ihre touristische Bedeutung dürfe nicht vergessen gehen. Werden das Dutzend Bäche, welche die Ötztaler Ache speisen, für Kraftwerke abgeleitet, wäre es mit diesem Paddelparadies vorbei.

Am 16. Juli plant die Berliner Sektion des Deutschen Alpenvereins in Vent den nächsten Protest. Sie betreibt drei Schutzhütten im Gebiet und ist im Rofental neben den Südtiroler Bauern die zweite Grundbesitzerin - in jenem Abschnitt, der, gedämmt von einer 170 Meter hohen Mauer, überflutet werden soll. Der Alpenverein will die Dammkrone mit Luftballons markieren.