SCHWEDEN: Wo bleiben sie denn?
Seit fünfzehn Monaten stehen Schwedens Grenzen für Arbeitskräfte aus den neuen EU-Ländern sperrangelweit offen. Doch zu der von vielen vorhergesagten «Flut der Einwanderer» und dem befürchteten «Missbrauch des Sozialsystems» kam es bisher nicht.
«Sonderangebot! Jetzt kosten alle Putzfrauen und Tellerwäscher nur 75 Kronen pro Stunde!» Daneben ein Bild mit lachenden ArbeiterInnen: Eine Frau mit einem Stapel frischer Handtücher im Arm, ein Mann mit einem Wischmopp. Die umgerechnet zwölf Franken Kosten in der Stunde sind der Inklusivpreis, alle Steuern und Sozialabgaben eingeschlossen. Mit diesem Angebot umwirbt derzeit die lettische Firma Hyrlett auf ihrer Webseite schwedische Unternehmen und rechnet ihnen auch gleich vor, wie viel Reibach sie mit lettischen Leiharbeitskräften machen können: «Ihre Firma kann eine Million Kronen (umgerechnet rund 170000 Franken) sparen, wenn sie bei uns für ein Jahr fünf Arbeiter mietet.» Flexibilität und Effektivität werden garantiert. Sollte das angeheuerte Personal krank werden oder sonst ein Problem - etwa in der Zusammenarbeit – entstehen, verspricht Hyrlett einen umgehenden und unbürokratischen Umtausch – Bestellung direkt im Internet.
Dort erhält der Unternehmer auch gleich Tipps, wie er die heimischen Gewerkschaften austricksen und ruhig stellen kann. Er solle doch einfach behaupten, keine geeigneten Arbeitskräfte in Schweden gefunden zu haben oder mit einer geplanten Mietzeit von nur zwei bis sechs Monaten argumentieren. Zwischenzeitlich könne man sicher immer Gründe finden, welche eine Verlängerung rechtfertigten. «Lätt med en Lett!», lautet der Slogan von Hyrlett, «leicht mit einem Letten!»
Hätte es zu Zeiten des Sklavenhandels schon das Internet gegeben eine entsprechende Webseite hätte wohl ganz ähnlich ausgesehen. Hyrlett ist nur eine von mehreren baltischen und polnischen Firmen, die sich auf den skandinavischen Markt spezialisiert haben. Und was sie tun, ist vermutlich nicht einmal ungesetzlich. Auch ohne die umstrittene und von der EU-Kommission erst einmal zurückgezogene Dienstleistungsdirektive erlaubt die Entsenderichtlinie der EU ausländischen Firmen, ihre ArbeiterInnen in einem anderen Mitgliedsland tätig werden zu lassen. Die Lohn- und Arbeitsbedingungen der «Entsandten» sollten zwar grundsätzlich denen der Beschäftigten im Stationierungsland entsprechen, aber die Schlupflöcher sind gross und die modernen Sklavenhändler findig. Derzeit besonders beliebt ist die Bezahlung in Sachleistungen wie (überteuerte) Unterkunft und Heimreisen oder eine Klausel im Vertrag, derzufolge Lohnanteile erst nach Abschluss des Auftrags im Heimatland ausbezahlt werden (was selten geschieht).
Schweden ist – neben Britannien und Irland – einer der wenigen alten EU-Staaten, die anlässlich der EU-Osterweiterung im vergangenen Jahr ihre Grenzen gen Osten nicht per Übergangsregelung weiter dicht gelassen haben. Während sich beispielsweise Deutschland bis zum Jahre 2011 abschottet (erst dann dürfen sich Menschen aus den neuen EU-Mitgliedsländern dort um einen regulären Arbeitsplatz bewerben), können Polinnen, Litauer, Lettinnen und Esten schon heute die Koffer packen und das nächste Fährschiff nehmen, um die Ostsee und den tiefen Wohlstandsgraben innerhalb der EU überqueren. An Anreizen mangelt es nicht. Denn im schwedischen Dienstleistungsgewerbe verdienen die Beschäftigten nominal bis zum Zehnfachen dessen, was sie in Lettland erhalten, sofern sie in Lettland überhaupt etwas verdienen.
Und so hatten sich am 1. Mai letzten Jahres zahlreiche Teams schwedischer, aber auch ausländischer Fernsehsender in den Fährhafenterminals von Stock-holm, Nynäshamn und Karlskrona postiert, um die ersten Bilder einer einsetzenden Menschenflut aus dem Baltikum und Polen zu dokumentieren. Doch was aus den Fährschiffen kam, waren wie üblich SchwedInnen, die sich auf der anderen Seite der Ostsee billig mit Alkohol eingedeckt hatten und diesen nun mit schwer beladenen Rollwägelchen von Bord karrten. Die abendlichen Fernsehnachrichten konnten keine einzige Auswandererfamilie zeigen. Und die an ihrer Stelle interviewten AlkoholtouristInnen hatten auch keine Warteschlangen im Abfahrtshafen gesehen. Der Ansturm ist bis heute ausgeblieben.
Gewiss, eine Zunahme war schon zu verzeichnen. In den ersten zwölf Monaten nach der Osterweiterung stieg die Zahl der ImmigrantInnen aus den neuen EU-Ländern gegenüber dem Vorjahreszeitraum zwar auf das Dreifache, blieb aber mit 6054 doch eher niedrig. Mehr als die Hälfte davon – 3649 – kamen aus Polen. Einen grossen Teil hat es in den Grossraum Stockholm gezogen, wo bereits 13000 PolInnen lebten. Die meisten sind gut ausgebildet und hatten sich bereits vor ihrer Einreise um eine Arbeitsstelle gekümmert. Ein Teil hatte sich vorher schon in Britannien oder den USA aufgehalten. Und manche wollen ihre Zelte offenbar schnell wieder abbrechen, wenn sich in einem anderen Land bessere Arbeitsmöglichkeiten ergeben sollten. Mobilität scheint ihr Motto zu sein. Daueraufenthalt: Nein, danke.
In Stockholm ist der «typische» Pole kein Handlanger, sondern ein Bauhandwerker. Und «die» Polin arbeitet nicht als Putzfrau (eine vorwiegend mit Arbeitskräften aus der Dritten Welt besetzte Branche), sondern als Krankenschwester – heiss begehrt, teilweise von den Krankenhausträgern vor Ort angeworben und nach Schweden gelockt.
Einwanderung? Schön wärs!
Kataizyna arbeitet seit sieben Monaten in der städtischen Söder-Klinik. Die Stockholmer Provinzialverwaltung hat ihr einen zweimonatigen Sprachkurs finanziert und natürlich hat sie die gleichen Arbeitsbedingungen wie ihre einheimischen KollegInnen und erhält den entsprechenden Lohn. Das schwedische Gesundheitswesen sucht händeringend nach weiteren Kataizynas. Der Bedarf nach Arbeitskräften ist in diesem Berufssektor gross – und genauso wenig zu decken wie der Bedarf an ÄrztInnen. Dabei erhalten diese in Schweden relativ einfach eine Zulassung. Dass es trotzdem immer noch an Krankenhauspersonal mangelt, hat wohl damit zu tun, dass das staatliche Gesundheitswesen im westeuropäischen Vergleich keine Spitzenlöhne bezahlt. Und dass auch Werbekolonnen anderer Länder im Osten unterwegs sind. Einwanderungsflut hier? Schön wärs.
Die OsteuropäerInnen aus den neuen EU-Ländern haben sich als wesentlich heimatverbundener und sesshafter erwiesen als teils erhofft, teils erwartet, teils befürchtet. Das höhere Lohnniveau ist ein Faktor, aber offenbar nicht das ausschlaggebende Kriterium. Soziale Wurzeln, familiäre Zusammenhänge, kulturelle Unterschiede spielen eine entscheidende Rolle. In einer anderen Gesellschaft Fuss zu fassen, hat sich als wesentlich schwieriger – und für sie bedeutsamer – erwiesen, als sie ursprünglich gedacht hatten.
Das geht auch Kataizyna und ihrem Ehemann Klaudiusz so. Während ihre beiden Töchter dank Schule und Kindergarten offenbar schon bestens integriert sind, bewegen sie sich gesellschaftlich meist innerhalb ihres polnischen Bekanntenkreises. Sie vermissen einen Kontakt zu ihren KollegInnen, der über die Arbeitszeit hinausgehen würde. Die anhaltenden Schwierigkeiten, in Stockholm gesellschaftlich Boden unter die Füsse zu bekommen, macht ihnen zu schaffen. Und so wissen sie noch nicht, ob sie bleiben werden.
Klaudiusz arbeitet im Unterschied zu seiner Ehefrau in einem für Lohndumping empfindlichen Sektor: als Maurer bei einer Baufirma. Vor ein paar Wochen ist er Mitglied der schwedischen Bauarbeitergewerkschaft geworden. Wie soll sich diese zur Konkurrenz billiger Arbeitskraft aus seiner Heimat verhalten, die den schwedischen Mitgliedern den Job kosten kann? Das ist keine leichte Frage für Klaudiusz. Auch nicht für die schwedischen Gewerkschaften.
Streiks und Blockaden
Sich mit den Gewerkschaften direkt anzulegen, hat sich angesichts eines traditionell und immer noch europaweit rekordverdächtig hohen Organisationsgrades von durchschnittlich über achtzig Prozent für kein Unternehmen gelohnt. Aufgrund der vielen Mitglieder und ihres Einflusses hatten die Gewerkschaften bisher auch keinen grossen Wert darauf gelegt, die Arbeitsbeziehungen gesetzlich zu regeln. Im «nordischen Modell» entscheiden immer noch Tarifverträge und Kollektivabkommen über die Bedingungen. Wer keine Tariflöhne zahlt, wird bestreikt oder – falls die betriebliche Organisationsstärke dazu nicht ausreicht – kurzerhand von aussen blockiert. Mit dieser erlaubten Arbeitskampfmassnahme konnten die schwedischen Gewerkschaften bisher die schlimmsten Auswüchse von Sozialdumping verhindern. Allerdings brachten sie damit meist auch gleichzeitig die ausländischen ArbeiterInnen ganz um ihre Jobs.
Nun lässt sich internationale Solidarität mit einer solchen Gegenwehr schlecht vereinbaren. Deshalb bemühen sich die Gewerkschaften seit einiger Zeit verstärkt um Kompromisslösungen: Der lettische Arbeiter soll nicht nach Hause geschickt werden, sondern in Schweden einen anständigen, wenn auch zur Not eher am unteren Ende der Skala liegenden Lohn erhalten. Eine nicht einfache Balance – geht es doch darum, die Interessen der heimischen Mitglieder mit denen der KollegInnen vom anderen Ufer der Ostsee unter einen Hut zu bringen und gleichzeitig zu vermeiden, dass die Produktion in ein Billiglohnland verlagert wird. Besorgte Stimmen warnen, dass unterschiedliche Lohn- und Arbeitsbedingungen zu einem gespaltenen Arbeitsmarkt führen und die erkämpften Standards bröckeln könnten. Realität ist das bisher nicht.
Klaudiusz hat Verständnis für seine lettischen KollegInnen, die sich lieber für umgerechnet drei bis fünf Franken Stundenlohn von Verleihfirmen ausbeuten lassen, als zu Hause arbeitslos zu sein. Und auch für die schwedischen KollegInnen, die vor allem im Baugewerbe, im Bereich industrieller Montagearbeit und im Transportwesen den wachsenden Druck osteuropäischer Billiglöhne spüren. «Starke europaweite Gewerkschaften wären natürlich ideal», sagt er. «Aber ob es die mal geben wird?» Die Zeit werde da aber viele der Probleme lösen, glaubt Klaudiusz. Das Lohn- und Wohlstandsniveau in seiner Heimat und bei den baltischen NachbarInnen werde schnell wachsen: «Schon jetzt machen viele westliche Firmen ihre vor fünf Jahren bei uns eröffneten Fabriken wieder dicht und ziehen nach Weissrussland oder in die Ukraine weiter, weil es in Polen zu teuer ist. In ein paar Jahren ist Polen das, was heute Spanien ist; Litauen nimmt die Stelle von Portugal ein und Lettland die von Griechenland. Und über die diskutiert doch auch keiner mehr.»
Schweden hat das bisherige Rinnsal an Arbeitssuchenden recht gut verkraften können; ähnlich ist die Situation in den für die EU-Neulinge ebenfalls offenen EWR-Staaten Norwegen und Island. Und Glücksritter, die sich am modernen Menschenhandel bereichern wollen, existieren meist nicht allzu lange. Mit diesen zu kooperieren, ist in Schweden nicht gut fürs Firmenimage: Ausbeutergeschichten landen schnell in den Medien und produzieren Negativschlagzeilen. Und da der prognostizierte Andrang an der Grenze (vgl. Kasten «Betriebsunfall und Sozialtourismus») bisher nicht eintraf, wird man in Schweden das Thema Arbeitskraftzuwanderung demnächst wieder ganz andersherum diskutieren: Nicht wie man sie verhindern sollte, sondern wie man sie langfristig forcieren kann. ◊