Personenfreizügigkeit V: Nur ein bisschen Dumping

Nr. 37 –

Seit Juni 2004 sollen die flankierenden Massnahmen Firmen daran hindern, Lohn- und Sozialdumping zu betreiben. Die Zwischenbilanz – vor allem bei den Temporärfirmen – gibt zu denken.

Am 25. September 2005 stimmen die SchweizerInnen nicht nur über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten ab, sondern auch über die Revision der flankierenden Massnahmen. Damit sind verschiedene Gesetze und Kontrollorgane gemeint, die zusammen «Billiglöhne und missbräuchliche Arbeitsbedingungen wirksamer bekämpfen werden», informiert die offizielle Abstimmungsbroschüre.

Die flankierenden Massnahmen wurden am 1. Juni 2004 eingeführt. Bei den landesweiten Kontrollen sind vor allem folgende Probleme bei der Umsetzung ans Tageslicht gekommen: Erstens bestehen bei den involvierten Parteien zum Teil erhebliche Wissens- und Informationslücken. Zweitens gibt es einige Firmen, die Löhne drücken und die Arbeitsbedingungen nicht einhalten. Deshalb werden die bestehenden flankierenden Massnahmen bei einem Ja am 25. September ausgebaut und verschärft.

Temporärfirmen im Visier

Branchen, die einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt sind, werden von paritätischen Berufskommissionen (je einE Gewerkschafts- und ArbeitgebervertreterIn) kontrolliert, diejenigen ohne GAV von den Tripartiten Kommissionen (TpK: je einE VertreterIn von Kanton, Arbeitgeber und Gewerkschaft). Die TpK des Bundes wiederum behandelt kantonsübergreifende Fälle.

Da Temporärfirmen in Branchen mit und ohne GAV vermitteln, werden sie von allen Kommissionen überprüft. Bisherigen Kontrollen zufolge sind sie besonders häufig in Lohn- und Sozialdumping involviert. Deshalb hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die TpK der Kantone angewiesen, die Temporärfirmen verstärkt zu überprüfen.

Einer der schweizweit etwa achtzig Kontrolleure der kantonalen TpK ist Ruedi Wyrsch. Seit Juni 2004 ist er alleine zuständig für die vier Kantone Uri, Schwyz, Nid- und Obwalden. Die Arbeitsämter melden ihm die ausländischen ArbeitnehmerInnen, die laut Wyrsch häufig von wiederum ausländischen Firmen entsandt werden. Für Personen mit einem GAV sind anschliessend die paritätischen Berufskommissionen zuständig, um die anderen Fälle kümmert Wyrsch sich selbst. «Ich überprüfe – natürlich unangemeldet – die Personendaten, Unterkunft, Arbeitsbedingungen und das Gehalt.» Seit zwei Monaten konzentriert er sich auf Temporärfirmen, das Transportgewerbe und die Landwirtschaft. «Ich habe im August zehn Temporärfirmen überprüft und keine Verstösse gefunden.» Wyrsch ist positiv überrascht von den Ergebnissen seiner Kontrolltätigkeit. «Aber dass wir keine Probleme haben, liegt wahrscheinlich daran, dass ich keine Grenzkantone kontrolliere.»

Was ist Missbrauch?

Der Kanton Basel-Stadt ist ein solcher und hat seit je mit ausländischen ArbeitnehmerInnen zu tun. Seit Jahren werden Kontrollen durchgeführt, das schreibt auch das Arbeitsvermittlungsgesetz in Bezug auf Temporärfirmen so vor. Die TpK kontrolliert allerdings erst bei einem konkreten Verdacht auf Missbrauch. «Etwas anderes ist nicht möglich bei 34 000 GrenzgängerInnen», sagt Marie Theres Kuhn vom Amt für Wirtschaft und Arbeit. Doch ist Lohndumping überhaupt eine kriminelle Handlung? «Das kommt auf das Ausmass an. Kriminell ist, wenn Menschen in der Schweiz zu einem Stundenlohn von zehn Franken arbeiten. Bei einer Lohnunterbietung von zwanzig, dreissig Rappen pro Stunde würde ich das nicht behaupten.» Von aktuellen Lohndumpingfällen bei Temporärfirmen weiss Kuhn nichts. Viele Temporärangestellte seien im Bau tätig. «In dieser Branche haben wir sehr viele Kontrollen durchgeführt. Das haben wir unter Kontrolle», sagt sie.

Auch der Kanton St. Gallen hat vermehrt Temporärfirmen überprüft. «Bei den vierzig Kontrollen im laufenden Jahr fanden wir einen Fall von Lohndumping», sagt Thomas Pleuler von der TpK. Im betreffenden Fall sei der Stundenlohn trotz bestehendem, aber nicht allgemein verbindlichem GAV um fast zwei Franken zu tief angesetzt worden. Pleuler: «Der GAV war nicht verbindlich für das Temporärbüro.» Ein klarer Fall von Lohndumping? «Das ist die Frage: Wo beginnt der Missbrauch?», sagt Pleuler.

Der Unia-Gewerkschafter Alex Granato kennt diesen Fall aus der Gärtnereibranche: «Er wurde weitergereicht an die TpK des Bundes. Diese soll abklären, ob andere Kantone mit dem gleichen Problem konfrontiert sind, und eine entsprechende Regelung vornehmen, falls dies der Fall sein sollte.» Auch die TpK des Bundes überprüft zurzeit etwa fünfzig Temporärfirmen. Granato gehört der TpK und diversen paritätischen Berufskommissionen des Kantons St. Gallen an. «Die paritätischen Berufskommissionen haben viele Fälle von Lohndumping festgestellt», sagt Granato. Immerhin hätten alle Betriebe die Lohndifferenzen nachgezahlt. «Aber stellen Sie sich mal vor, wie aufwendig es ist, alle Temporärfirmen zu kontrollieren. Alleine im Kanton St. Gallen gibt es davon 220.» Die Optima Personal AG im Kanton St. Gallen ist einer der vor allem von den paritätischen Berufskommissionen kontrollierten Betriebe. Vier seiner fünf Filialen mussten insgesamt vierzig Lohnnachzahlungen tätigen. Doch von Lohndumping kann laut Geschäftsführer Marcel Schenk keine Rede sein: «Bei tausenden von vermittelten Einsätzen kann es zu Fehlern kommen. Und die Mindestlöhne halten wir ein.» Die grösste Lohndifferenz hat laut Schenk drei Franken pro Stunde betragen. In der Regel sei es aber um zehn Rappen bis zu einem Franken pro Stunde gegangen.

Völlig überfordert

Hans Baumann ist Mitglied der TpK des Kantons Zürich. Der Unia-Gewerkschafter zeigt sich skeptisch gegenüber den «positiven Erfahrungen», die die anderen TpK mit den überprüften Temporärfirmen gemacht haben. «Die Kontrollen auf den Baustellen zeigen eindeutig, dass die Temporärfirmen ein Problem sind. Mich würde interessieren, welche Kontrollen diejenigen Kantone, die nichts finden, konkret durchgeführt haben.» Lohndumping kommt laut Baumann vor allem in den Berufen ohne GAV vor, das heisst im Transportgewerbe, Detailhandel, Gartenbau und Baunebengewerbe sowie in der Landwirtschaft.

Vergangenen Monat erschien ein von Baumann verfasster Bericht über die Beziehung EU-Schweiz aus gewerkschaftlicher Sicht. Darin zieht Baumann eine Zwischenbilanz: Die TpK seien in keiner Weise auf die ab Juni 2004 bewilligungsfrei in die Schweiz kommenden ausländischen ArbeitnehmerInnen vorbereitet gewesen. «Schon bald nahmen Missbräuche im Sinne von Sozial- und Lohndumping deutlich zu. Bei den bisherigen Kontrollen wurden fast ausschliesslich nur Arbeitsmigranten im Baugewerbe kontrolliert, da dort die Kontrollorgane einigermassen funktionieren.» Allein im Kanton Zürich war die Hälfte aller überprüften Arbeitsverhältnisse laut Baumann nicht korrekt. Vor allem Temporärfirmen seien im grossen Stil am Lohn- und Sozialdumping beteiligt gewesen. «Es wurden Firmen kontrolliert, welche diese Verleiharbeiter sogar zu einem Stundenlohn von unter zehn Franken beschäftigten», schreibt der Ökonom.

In die Pfanne gehauen?

Bei einem Ja zur Revision der flankierenden Massnahmen würden vor allem auch die Temporärangestellten laut Abstimmungsbroschüre «besser geschützt». Georg Staub ist Geschäftsführer des Verbandes der Personaldienstleister Schweiz (VPDS) – und reagiert ziemlich sauer auf die Vorwürfe an die Adresse der Temporärfirmen. «Wir sind den Gewerkschaften schon lange ein Dorn im Auge, weil wir ihrer Meinung nach die GAV unterlaufen. Sie haben die Revision der flankierenden Massnahmen genutzt, um ihre Interessen durchzusetzen. Mit ihren Vorwürfen haben sie uns in die Pfanne gehauen», sagt Staub. «Die Gewerkschaften haben ihr Ziel erreicht, weil wir keine starke Lobby im Parlament haben.» Dass es schwarze Schafe unter den Verleihfirmen gebe, bestreitet Staub nicht, «aber die Verstösse halten sich sogar laut Seco in einem bescheidenen Rahmen.» Der VPDS würde sogar selber Missbräuche weiterleiten, wenn er davon höre. «Aber von systematischem Missbrauch kann keine Rede sein.»

Diese Meinung teilt auch Michael Agoras von Adecco. Trotzdem gehört die grösste Temporärfirma der Schweiz laut dem Manager «zu den wenigen Ausnahmen», bei denen die Kontrollen keine Verstösse ergeben. «Wir sind sauber, das kann Ihnen die Unia bestätigen», sagt der Manager der Firma, der jeden vierten Temporäreinsatz in der Schweiz verleiht. Trotzdem hält Agoras an seiner Überzeugung fest: «Die Einzelfälle werden aufgebauscht.»