Gasa: Der heilsame Fehler

Nr. 39 –

Schon kurz nach dem israelischen Abzug kommt es zu palästinensischen Raketenangriffen und massiven israelischen Angriffen. Kann Gasa ohne Gewalt funktionieren?

Aufzuwachen und festzustellen: «Die Israelis sind weg», bedeutet eine riesige Veränderung für die Menschen in Gasa. Das ist ein grosser Moment, egal, welche gewaltigen Probleme noch anstehen. Die Leute sollen diesen Moment feiern können. Genau deshalb war es ein Fehler der Hamas-Bewegung, dass sie selbst gebaute Raketen von Gasa aus nach Israel abschoss. In israelischen Augen lag Hamas schon immer falsch, doch diesmal war es auch für die meisten PalästinenserInnen so. Denn den Hamas-Raketen folgten massive und anhaltende Angriffe der israelischen Armee in Gasa.

Hamas musste sofort reagieren und verkündete, Israel von Gasa aus nicht mehr anzugreifen und auch keine militärischen Paraden mehr abzuhalten. Es sei das Volk gewesen und nicht die Palästinensische Autonomiebehörde, die Hamas zum Handeln gezwungen habe, sagt Ijad Sarradsch, Psychiater und Menschenrechtsaktivist in Gasa, am Telefon. Die Menschen hätten klar gemacht, wie wichtig es ihnen ist, dass die Israelis abgezogen sind - und dass sie sie nicht mehr zurückwollen. «Auf der Strasse, beim Coiffeur, im Sammeltaxi - überall heisst es, wir haben genug von der Gewalt, wir brauchen eine Pause», berichtet Sarradsch.

«Doch vielleicht ist es unser Glück, dass Hamas diesen Fehler so früh beging. Dann haben wir es hinter uns.» Und Sarradsch fährt fort: «Auf diesem Moment können wir aufbauen.» Doch dann ändert sich seine Stimme. «Leider glaube ich nicht, dass die Autonomiebehörde dazu fähig ist.» Denn die bewaffneten Gruppen, die aus der regierenden Fatah-Bewegung entsprungen sind, seien viel schlimmer als die islamistische Hamas. «Sie sind das eigentliche Problem. Hamas ist eine Opposition; wir wissen, wer sie sind und wofür sie stehen. Die Interessenkonflikte werden klar. Selbst wenn Sie die Ansichten von Hamas nicht teilen, wissen Sie, wer was und warum tut.» Andere bewaffnete Gruppen seien nicht oppositionell, sondern an der Macht - und korrumpiert.

Heute beherrschen kleine Milizen Gasa. Jede setzt ihr eigenes Recht durch. Sie regeln Auseinandersetzungen, organisieren Hochzeiten und ähnliche soziale Anlässe. Manchmal arbeiten sie zusammen, doch sie unterscheiden sich von Hamas. Sie haben weder Programm noch Ideologie. Sie handeln aus dem Moment heraus, und sie repräsentieren nichts als die Interessen der Miliz oder Gruppe selbst. Sie fordern Aufmerksamkeit, Gerechtigkeit oder wie immer sie es nennen und sind dabei lediglich der Beweis, dass es keine zentrale Macht gibt, in der sie sich vertreten fühlen. Noch nicht einmal in der eigenen Fraktion oder Partei, in deren Namen sie ja eigentlich agieren. Mit diesem Phänomen umzugehen, ist schwieriger, als mit einer Opposition zurechtzukommen.

Hamas-Führer erzählen im Fernsehen immer wieder, dass sie Gasa nicht beherrschen wollen. Doch was denn sonst? Hamas behauptet, sie habe die Israelis besiegt, sie aus Gasa vertrieben. So gehört Gasa jetzt Hamas. Sofort, nachdem der letzte israelische Soldat Gasa verlassen hatte, und bis zum ersten israelischen Luftangriff demonstrierte Hamas ihre Macht. Es war ein Karneval von Waffen und nach Waffen riechenden Worten, mit viel Adrenalin. Hamas führte sich als grosse Macht auf, die Israel militärisch zerstören kann. Doch «glücklicherweise», wie es Ijad Sarradsch formuliert, beging sie diesen schrecklichen Fehler - nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen 1,3 Millionen euphorische PalästinenserInnen. Dieser Fehler trägt ein Preisschild.

Hamas wird keine andere Wahl haben, als ihren Kurs zu ändern. Sie muss in anderer Form und gewaltlos in den sozialen und politischen Kampf eingreifen. Schon jetzt zeigt sich die Bewegung zunehmend bereit, an Wahlen teilzunehmen, sich zu entwaffnen und auf die Interessen der Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen, statt nur ihre eigenen Pläne und Ziele zu verfolgen. Doch die gegenwärtige Stimmung allein genügt nicht, dass sie wirklich diesen Weg wählt. Hamas muss mitwirken und intervenieren können. Die Parlamentswahl, die im Januar stattfinden soll, bietet eine Gelegenheit dafür. Es sei denn, die israelische Regierung begeht den von Ministerpräsident Ariel Scharon bereits angekündigten Fehler, sich in die Wahl einzumischen, um Hamas an der Teilnahme zu hindern. Schon dies könnte alles wieder auf den Kopf stellen.

Die andere wichtige Veränderung wird in der regierenden Fatah selbst passieren müssen. Die bewaffneten Milizen müssen zerschlagen werden, egal, wer sie sind und zu wem sie gehören. Das ist wesentlich, um das Vertrauen der Menschen in die Institutionen und in Prozesse wie die Wahlen neu zu begründen. Keiner darf über dem Gesetz stehen, das ist die elementare Regel, die Vertrauen schafft. Sonst wird Gasa zu einem Dschungel bewaffneter Gruppen, die aus unmittelbarem Eigeninteresse handeln. Dies würde eine bestimmte israelische Kontrolle über Gasa jederzeit legitimieren. Denn dann bliebe das Bild von Gasa erhalten, an dem die Israelis so lange gearbeitet haben: ein elender, Angst einflössender, chaotischer Ort, der nicht vom Gesetz regiert, sondern nur mit Gewalt beherrscht werden kann. Es liegt an uns PalästinenserInnen zu entscheiden, in welche Richtung wir gehen wollen.

Der palästinensische Filmemacher Subhi al-Zobaidi lebt in Ramallah und berichtet regelmässig für die WOZ.