Huntington wieder gelesen: Fertige Antworten auf noch kaum gestellte Fragen: Ein hilfloser Abwehrzauber

Die These vom «clash of civilizations», mit der Samuel P. Huntington vor Jahren Furore machte, ist seit dem Angriff auf das World Trade Center von neuem in aller Munde. Der Nachweis, dass damit ein brauchbarer Erklärungsansatz vorliegt und nicht nur ein patenter Medienslogan, steht noch aus.

Dass nichts mehr so sei wie vor dem 11. September 2001, gehört mittlerweile zu den regierungsamtlich nobilitierten Plattheiten, die durch ständige Wiederholung auch nicht wahrer werden. Etwas unklar an dieser Alltagsbanalität ist, ob das «Neue» an der Situation die sichtbar gewordene Verletzlichkeit einer scheinbar nicht einnehmbaren Festung ist und die Tatsache, dass die Täter den Anschlag in aller Ruhe und mitten unter uns vorbereiten konnten, oder aber die schockierende Ahnung, «der Westen» könnte tatsächlich so gehasst werden, dass die Attentäter auch das Selbstopfer nicht scheuen.

Mit dem Ausserordentlichen der Situation jedenfalls lassen sich nun neue Steuern, verschärfte Sicherheitsbestimmungen und xenophobe Ausländergesetze legitimieren. Auch an intellektuellen Deutungen wird in diesen Wochen nicht gespart, zahllose, meist hilflos wirkende «Experten» werden in die Studios zitiert oder um Beiträge erpresst. So selten hierbei triftige Erklärungen abfallen, es bleibt doch die vage Ahnung, dass mit dem Sieg des Liberalismus, wie Francis Fukuyama vor einigen Jahren noch behaupten konnte, keineswegs das glückliche Ende der Geschichte erreicht ist, sondern dass der inzwischen etwas eingeknickte Liberalismus vielleicht selbst auf der historischen Anklagebank sitzt.

Gewiss kein Zufall ist es, dass in den Debatten immer wieder der Name Samuel P. Huntington fiel und jener Anfang der neunziger Jahre von ihm illustrierte «clash of civilizations». Seine apokalyptische Prophezeiung vom Zusammenstoss der Kulturen scheint dem New Yorker Ereignis, wenn man so will, zu seinem kulturkritischen Ausdruck zu verhelfen. Der im wahrsten Sinne des Wortes inszenierte Zusammenprall zwischen einem Symbol der Globalisierung mit einer antiwestlich gesteuerten «Gegenkultur» ist so eindrücklich, dass selbst das von Angstlust beförderte Bilderarsenal Hollywoods vor der Symbolkraft dieses Menetekels kapituliert. Inzwischen scheint sogar dem Autor selbst vor der auf satanische Weise eingelösten Prophetie zu schaudern, sodass Huntington sich in Fernseh- und Zeitungsinterviews beeilt, seine Thesen zu relativieren in dem Sinn, dass es sich beim Anschlag auf New York (noch) nicht um den «clash of civilizations» handle, sondern um einen «Angriff gemeiner Barbaren auf die zivilisierte Gesellschaft der ganzen Welt».

Ebendiese Formel bemühen sich derzeit auch Politiker und Medienleute einzupauken. Vom bundesdeutschen Exkanzler Helmut Schmidt über die verschiedenen VertreterInnen der verschiedenen Parteien bis hin zu prominenten Moderatoren wird niemand müde, die Differenz zwischen der Mehrheit friedlicher Muslime und einer kleinen Minderheit durchgeknallter terroristischer Ideologen zu betonen. In dieser fast gebetsmühlenhaften Wiederholung spricht sich eindeutig die Angst aus, der «clash» könnte sich hinter unserem Rücken bereits vollzogen haben, und sie wirkt wie ein Abwehrzauber gegen die Brisanz der Bilder.

Kulturalisierung schlägt zurück

Dabei fallen Huntingtons Thesen vom «Kampf der Kulturen» auf ein semantisch gut vorbereitetes Feld. Seit zehn bis fünfzehn Jahren prägt die Rede von den unversöhnlichen «Identitäten» der «Ethnien» und «Kulturen» die Diskurs- und Deutungsmuster für fast sämtliche Konflikte in der Welt. Während in den siebziger Jahren noch «Klassen» und «Interessen» den Interpretationsrahmen für nationale und internationale Auseinandersetzungen bestimmten und diese in mehr oder weniger komplexe «Welttheorien» integriert waren, scheinen nun ausschliesslich «ethnische» oder «religiöse» Motive die Welt zu bewegen. Die Rede von den unterschiedlichen, religiös formierten «Leitkulturen» versagt es sich, Gruppen oder Staaten nach ihren «Leitinteressen» zu befragen, und steigert sich stattdessen in überdrehte Zuschreibungspirouetten hinein. Kultur und «Leitkultur» – das ist insbesondere aus der deutschen Geschichte zu lernen, die die Kultur-Zivilisations-Antithese militarisiert und in ein ideologisches Aufmarschgebiet verwandelt hat – eignen sich deshalb als Kampfbegriffe, weil niemand genau weiss, was damit eigentlich gemeint ist.

Die Gründe für diese Umwidmung machtpolitischer Auseinandersetzungen in «Kulturkämpfe» liegen auf der Hand: Die ideologischen Zentren sind seit dem realen Zusammenbruch der Sowjetunion implodiert, und der weltweite Siegeszug des scheinbar universalen Kapitalismus hat andererseits einen Kulturrelativismus mit einer Vielzahl von separatistischen Gruppenidentitäten aufgetrieben. Huntingtons These von sechs (oder sieben) unterschiedlichen, divergierenden, aber ebenbürtigen «Kulturkreisen», die sich um das Merkmal Religion gruppieren und im Idealfall ein Kernland haben, war, als sie auf den Markt geworfen wurde, keineswegs originell, doch schien sie in ihrer kompakten Form eben jenes Deutungsvakuum zu füllen, das das Ende des Kalten Krieges hinterlassen hatte. Dass sie – bei aller Klage über den westlichen Wertezerfall – die mögliche kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Kulturen (Huntington nennt das «Bruchlinienkriege») in den Bereich ernsthafter strategischer Überlegungen hob und den Islam als gefährlichste, weil militanteste Form kultureller Separation erkannte, machte Huntingtons Traktat auch anschlussfähig für die politische Rechte in aller Welt.

Abgesehen von Aspekten der «self-fulfilling prophecy», die man in Huntingtons Buch entdecken (und verwerfen) mag, lesen sich nach dem 11. September 2001 einige Passagen in mancherlei Hinsicht aufschlussreich. Trotz dem Zugeständnis, dass jede Kultur einen Eigenwert besitzt, hebt Huntington die besondere Rolle des westlichen (bedrohten) Zivilisationskreises hervor, mit der Begründung, sein universalistischer Anspruch zwinge andere Kulturen dazu, sich zu ihm zu verhalten. Drei mögliche Reaktionsweisen auf diesen enormen Integrationsdruck macht Huntington aus: Verweigerung von Modernisierung und Verwestlichung, Annahme von beidem und schliesslich Modernisierung bei gleichzeitig verweigerter Verwestlichung. Die Beispiele, die diese Reaktionen illustrieren, mögen in mancher Hinsicht hinterfragbar sein; schlüssig jedoch ist sein Hinweis, dass Modernisierung keineswegs einhergehen muss mit der Übernahme westlicher Zivilisation. Im Gegenteil, so Huntington, Modernisierung stärke die antiwestlichen Kulturen und verringere die relative Macht des Westens.

Modernisierung versus Westen

Diese signifikante Differenz von Modernisierung und Verwestlichung scheint in der Gegenwart, wo fundamentalistische Gruppen und Personen eben die technischen Mittel der Zivilisation nutzen, um diese anzugreifen, einzuleuchten. Wenn Bin Laden nachgesagt werden kann, an der Börse zu spekulieren, um die finanziellen Mittel für terroristische Aktionen zu beschaffen; wenn die modernen Telekommunikationsmittel geeignet sind, derartige Aktionen zu planen; und wenn die technischen Gerätschaften, die die westliche Zivilisation hervorgebracht hat, selbst zu Waffen gegen diese umgemünzt werden, dann ist dies ein schauerliches Paradox, aus dem es letztlich keinen Ausweg gibt: «Die Waffen», schreibt Hegel, «sind das Wesen der Kämpfer selbst.»

Aufmerksam macht Huntington auch auf die Rekrutierungsbasis des radikalen Islamismus, die keineswegs in rückständigen ländlichen Gebieten, sondern in den modernen Metropolen zu suchen ist, wo sich junge, mobile, gut ausgebildete und modern orientierte Migranten konzentrieren – unmittelbare Produkte also des Modernisierungsprozesses in den betreffenden Ländern selbst. Die Attentäter, so viel scheint fest zu stehen, entstammen bürgerlichen, dem Westen gegenüber aufgeschlossenen Familien, und nichts deutete auf das hin, was in ihrem Kopf vorging. Das Phänomen ist – bei allen sonstigen Unterschieden – auch von der deutschen RAF her bekannt.

Gibt die technische Zivilisation also die Mittel an die Hand, den als «heiligen Krieg» verbrämten Kampf gegen die Ungläubigen zu führen, ist die westliche Assimilationspolitik und die so genannte «Multikulti»-Gesellschaft geeignet, die «Kämpfer» getarnt und unscheinbar untertauchen zu lassen. Kaum etwas anderes beunruhigt die Öffentlichkeit mehr, die amerikanische wie die europäische, als die Erkenntnis, dass die Attentäter von New York jahrelang unerkannt unter uns lebten. Carl Schmitts «Partisan» kommt in den Sinn, der, «weich, nicht hart», in seinem Erdloch – sei es nun in Afghanistan oder in den anonymen studentischen Waben der Metropolen – ausharrt. «Wie aber», fragt der Staatswissenschaftler 1963, «wenn es einem Menschen-Typus, der bisher den Partisanen lieferte, gelingt, sich der neuen Mittel zu bedienen und eine neue, angepasste Art von Partisan, sagen wir den Industriepartisanen, zu entwickeln?» Heute jedenfalls nutzt dieser den fremden Raum als Tarnung, passt sich ihm an und lebt gleichzeitig gegen die moderne Zeit, nicht nur hinsichtlich seiner Einstellungen, sondern auch, weil er – darauf hat der FAZ-Redaktor Henning Ritter hingewiesen - die schnellen Kommunikationsmittel nutzt für langfristige, gegen den schnelllebigen Zeitgeist laufende Planungen.

Wie unmittelbar Huntington als politische Handlungsanweisung wirkt, zeigt sich, wenn man im Kapitel «Die Resurgenz des Islam» liest, wie «das Netzwerk von Moscheen, Wohlfahrtseinrichtungen, Stiftungen und anderen muslimischen Institutionen» dem islamistischen Fundamentalismus als Tarnung diene. Sowohl die Kontenjagd in den USA als auch die in Deutschland geplante Abschaffung des Religionsprivilegs - also des besonderen Schutzes von Religionsgemeinschaften – können als Reaktion auf derlei Analysen gelesen werden.

Zeitalter der Dezision

Wieder ist der Generalverdacht, den man zumindest in Deutschland aus dem «Deutschen Herbst» 1977 noch allzu gut kennt, als Disziplinierungsmittel allgegenwärtig. Wer den Mördern Unterschlupf bietet oder sie ideell unterstützt, gehört zu den «Bösen», die ausgetrieben werden müssen. Der allseits zwar dementierte, doch emsig vorbereitete «Krieg der Kulturen» produziert vorauseilende Distanzierungs- und Loyalitätsgesten aller Art. Wenn amerikanische Intellektuelle sich kaum mehr trauen, nach den Ursachen des Terrors zu fragen oder sich wie Susan Sontag verdächtig machen, weil sie den Attentätern Mut attestieren und den Mut der aus grosser Höhe operierenden Bomberbesatzungen bezweifeln, dann ist es mit dem schönen kulturellen Relativismus vorbei. Das neue dezisionistische Zeitalter ist angebrochen.

In der Bundesrepublik tobt derzeit ein Feuilletonscharmützel über das «feige Denken» derjenigen, die zu bedenken geben, wie viele Opfer die unblutigen globalen Börsenspekulationen kosten oder dass es die amerikanische Regierung war, die das Taliban-Regime zusammen mit dem pakistanischen Geheimdienst in den Sattel hob. Selbst ernannte literarische Scharfrichter wie der dem einstigen linksradikalen Sponti-Milieu entstammende «Spiegel»-Redaktor Reinhard Mohr fühlen sich nun aufgerufen, in Berliner Gazetten die Mahner als Beispiel für den «crash of civilizations», den Zusammenbruch der Vernunft, abzustrafen und sich selbst in selbstgerechter Anteilnahme mit den Opfern aufzuplustern. Der frühere «taz»-Autor Thierry Chervel zieht in der «Süddeutschen Zeitung» Parallelen zwischen den vom gegenwärtigen Nato-Mainstream Abweichenden und französischen Pazifisten der dreissiger Jahre, die nach 1940 zu den Nazis überliefen. Das Szenario erinnert immer mehr an den zwischen «Bellizisten» und «Pazifisten» ausgefochtenen Kampf während des Golfkriegs.

Jede Kriegserklärung, sagte der greise Carl Schmitt, setze eine Feind-Erklärung voraus: Den Attentätern von New York ist dies zweifellos gelungen. Das Problem der amerikanischen Regierung ist, dass ihr Feind nicht eindeutig auszumachen ist, sondern dass er überall auf der Welt zu lauern scheint; von daher sei «der Feind», so resümiert jedenfalls Schmitt, nur «unsere eigene Frage in Gestalt». Um die eigene Kontur zu gewinnen, dürfe man ihn deshalb nicht vernichten, sondern müsse sich mit ihm messen. In diesem Sinn erhält der «clash of civilizations» eine ganz neue Bedeutung. Vielleicht wird Präsident Bush in ähnlicher Weise in die Annalen eingehen wie jener preussische General York, der 1812 zu den Russen überlief, weil er nicht mehr wusste, wer der «wirkliche Feind» ist.

Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Taschenbuchausgabe. Goldmann. München 2002. 581 Seiten. 20 Franken