Indien/Pakistan: Guetzli mit Flagge

Nr. 44 –

Die Islamisten haben mit ihren Bomben und mit ihrer Erdbebenhilfe die pakistanische Regierung gleich doppelt in Verlegenheit gebracht.

Wenige Sekunden, bevor an diesem 29. Oktober die Bombe explodierte, änderten Budh Prakasch und Kuldeep Singh das Drehbuch der Terroristen. Schaffner und Fahrer des dicht besetzten Stadtbusses schleuderten das grosse schwarze Paket durch die Vordertür hinaus. Ihre Geistesgegenwart rettete mehr als hundert Fahrgästen das Leben. Die fliegende Bombe detonierte in der Luft und verletzte draussen vierzehn Menschen sowie den Busfahrer - Kuldeep Singh schwebt seither in Lebensgefahr: Am Samstagabend, zwei Tage vor dem Diwali-Fest, erlebte die indische Hauptstadt Delhi einen schweren Terroranschlag. 62 Menschen wurden getötet und 214 verletzt, als auf einer Hauptverkehrsstrasse und in zwei überfüllten Märkten der Lichter geschmückten, festlich gestimmten Stadt drei Bomben detonierten. Die Spur weist nach Pakistan.

Das Erdbeben, das vor vier Wochen in Pakistan 54 000 Menschen tötete und die Lebensgrundlagen von Millionen zerstörte, mag Indien und Pakistan einander näher gebracht haben - die jüngsten Attentate in Delhi aber haben den gegenteiligen Effekt. Indiens Premier Manmohan Singh reagierte zwar verhalten, kam aber nicht umhin, dem pakistanischen Präsidenten Pervez Muscharraf Vorwürfe zu machen: Offenbar seien die Terroristen - trotz anders lautender Beteuerungen - immer noch nicht in die Schranken gewiesen. Schon vor Monaten hatte es in Delhi geheissen, die Gebirgs-Camps der islamistischen Guerilla im pakistanisch verwalteten Teil Kaschmirs, die Muscharraf angeblich räumen liess, seien wieder besiedelt.

Die Terrorgruppen scheinen viele Leben zu haben. Sie überstanden nicht nur die Operationen der pakistanischen Armee, auch das Erdbeben hat ihre Schlagkraft offenbar nicht gemindert. Nach Angaben der internationalen Hilfskorps hat das Beben vom 8. Oktober zahlreiche Gebirgslager verwüstet und mindestens 2000 Dschihadis getötet. Vielleicht war ja der Nachweis ihrer Handlungsfähigkeit die beabsichtigte Botschaft der Anschläge von Delhi gewesen. Noch ist nicht klar, wer sich hinter der Organisation Islami Inqilabi Mehwaz verbirgt, die sich inzwischen zu der Tat bekannte. Ausser Zweifel steht aber, dass die Anschläge von einer in Pakistan ansässigen Terrorgruppe verübt wurden. Der Termin des Attentats war sorgfältig gewählt. Das Diwali-Fest ist der wohl wichtigste Anlass der Hindus. Das Attentat kam am Tag der Urteilsverkündung im Prozess gegen Mohammed Aschraf, einem führenden Mitglied der Untergrundgruppe Laschkar-e-Toiba, die Ende 2000 einen Angriff auf das Rote Fort in Delhi verübt hatte (Aschraf wurde zum Tode verurteilt). Und die Bomben detonierten just zu dem Zeitpunkt, da hochkarätige indische und pakistanische Abordnungen in Islamabad über eine Öffnung der Line of Control, der Demarkationslinie zwischen dem indischen und dem pakistanischen Teil Kaschmirs verhandelten, um grenzüberschreitende Hilfsaktionen zu ermöglichen. Der Vorschlag, zwei Wochen nach dem Erdbeben von Präsident Muscharraf unterbreitet, gilt vielen als kühne und überwältigende Friedensgeste. Andere (wie die hinduistische Opposition in Delhi) wittern eine gefährlichen Falle und fühlen sich nun bestätigt: Die Attentate von Delhi wurden mit grosser Wahrscheinlichkeit von Tätern verübt, die über eben diese Demarkationslinie auf indischen Boden gelangt sind.

Der pakistanische Autor Achmed Raschid ist beispielsweise ganz anderer Meinung. Er gehört zu denen, die Muscharrafs Verständigungswillen vehement begrüssen. Es sei Zeit für unkonventionelle Massnahmen, schreibt er. Die Verwüstung Kaschmirs zeige, dass sich der Status quo überlebt habe - «die Vergangenheit ist ein anderes Land». Manche plädieren sogar dafür, die Demarkationslinie Kaschmirs einfach zu ignorieren. Die neue Buslinie zwischen Srinagar und dem pakistanischen Musaffarabad ist Sinnbild dieses Verlangens. Das Verteidigungsministerium in Delhi kann einem solchen «verklärten Romantizismus» jedoch wenig abgewinnen. Den Grenzstreifen überqueren dürfe nur, wer sich ordnungsgemäss ausweisen könne. Schliesslich müsse das unkontrollierte Passieren von bewaffneten islamischen Fundamentalisten verhindert werden.

Ausserdem argwöhnen in Delhi viele Politiker, dass Muscharraf mit seiner grossherzigen Offerte nur KritikerInnen zum Schweigen bringen will. Diese machen ihn für das Leiden und Sterben tausender Erdbebenopfer mitverantwortlich.

Muscharraf habe zugelassen, dass ein in den politischen Eliten Pakistans tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Indien eine prompte und grosszügige Hilfe des Nachbarn vereitelt habe. Schlimmer noch: Die pakistanische Armee beschäftigte sich nach dem Beben volle zwei Tage damit, die gesamte Grenze nach Indien militärisch zu sichern - als wollte Indien die Tragödie für einen Eroberungsfeldzug nutzen. Für Rettungsmassnahmen fehlten so lange die Kapazitäten. Zudem hatte Muscharraf zunächst keinen Beistand von aussen annehmen wollen, obwohl von Anfang an klar war, dass die eigene Armee die Lage nicht alleine meistern konnte. Erste materielle Hilfen aus Indien wurden nur mit Vorbehalten angenommen. Hungernden Erdbebenopfern wurden selbst indische Guetzli vorenthalten, weil sie - ursprünglich für Schulspeisungen in Afghanistan produziert - die indische und afghanische Flagge trugen.

Während die pakistanische Armee ihr Feindbild pflegte, wurde den Erdbebenopfern unerwartete Hilfe zuteil: Die fundamentalistische Guerilla errichtete trotz eigener Verluste Auffanglager und sogar ein Feldhospital. Der politische Erfolg liess nicht lange auf sich warten: Die Versorgung durch die Dschihadis seien in vielen Katastrophengebieten derzeit eine Art Lebensader, gab ein Sprecher der pakistanischen Rettungskoordination verlegen zu. So sind viele der seit Oktober 2001, seit dem Afghanistankrieg, von den USA geächtete Gruppen - darunter die Laschkar-e-Toiba - als Wohltäter aus den Trümmern ihrer Vorgeschichte wieder aufgetaucht. «Helfen ist eine andere Art von Dschihad», sagen ihre Führer, und: «Das Erdbeben ist für uns auch ein Geschenk Allahs». Während die internationale Finanzhilfe bestenfalls tröpfelt, haben sie üppige Geldquellen erschlossen, um Menschenleben zu retten und um möglicherweise später eine reiche Rekrutenernte einfahren zu können. Das sind schlechte Nachrichten für Indien - und auch für Pakistan.