Indien und Pakistan: Bloss keine Schwäche zeigen

Nr. 19 –

Auf einen Terroranschlag folgte zuerst Kriegsrhetorik und jetzt eine bewaffnete Auseinandersetzung. Im Konflikt um die Region Kaschmir spielen die indischen wie die pakistanischen Machthaber eine unrühmliche Rolle.

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Militär inspiziert Trümmer im Dorf Wuyan im von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs am 7. Mai
Beim indischen Luftangriff auf Pakistan schoss dessen Armee offenbar Kampfjets ab: Trümmer im Dorf Wuyan im von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs am 7. Mai. Foto: Faisal Khan, Getty

Seit rund zwei Wochen dreht sie sich wieder, die Eskalationsspirale zwischen den zwei Atommächten Indien und Pakistan. Und in der Nacht auf Mittwoch sind die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nachbarstaaten endgültig in einen bewaffneten Konflikt übergegangen: Bei Raketenangriffen des indischen Militärs auf Ziele im pakistanischen Teil der Kaschmirregion wurden laut pakistanischen Angaben 26 Menschen getötet. Die indische Seite spricht von «terroristischer Infrastruktur», die sie getroffen habe. Derweil erklärt die pakistanische Armee, sie habe mehrere indische Kampfjets abgeschossen. Auch wird von Gefechten an der Grenze zwischen den beiden Staaten berichtet, Indien meldet fünfzehn Tote. Der pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif bezeichnete den indischen Angriff als «Kriegsakt» und kündigte an, dass ein Gegenschlag bereits vorbereitet werde.

Am Ursprung der aktuellen Eskalation steht ein Terroranschlag im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs – wobei immer noch Unklarheit darüber herrscht, wer tatsächlich dahintersteckt. Am 22. April griffen oberhalb der Kleinstadt Pahalgam auf einer weitläufigen Wiese, einem beliebten touristischen Ausflugsort zwischen malerischen Bergwäldern, fünf Bewaffnete ganz gezielt nichtmuslimische Besucher:innen an. Sie erschossen 26 Menschen, grossmehrheitlich Hindus aus Indien, bevor sie sich ins umliegende Gebirge zurückzogen. Zunächst reklamierte mit der Resistance Front eine lokale Miliz die Tat für sich und rief auf ihrem Telegram-Kanal zu weiterer Gewalt gegen Auswärtige auf. Vier Tage später zog sie ihr Bekenntnis aber wieder zurück. Durch einen Hackerangriff seitens der indischen Regierung sei eine gefälschte Erklärung verbreitet worden, behauptete die Gruppierung nun.

Betonte Unnachgiebigkeit

Für die Regierung in Neu-Delhi wiederum war sofort klar, dass die Verantwortlichen für das Attentat im Nachbarland Pakistan zu suchen seien. Die latenten Spannungen zwischen den zwei Ländern verschärften sich abrupt – wie immer, wenn der Kaschmirkonflikt aufflammt. Das erklärt allein schon ein Blick auf die politische Landkarte der Region, durch die gleich mehrere völkerrechtlich ungeklärte Grenzen verlaufen. Seit dem Ende der britischen Kolonisation von 1947 und der anschliessenden gewaltsamen Aufteilung des Territoriums von Britisch-Indien in die Folgestaaten Indien und Pakistan ist das vormalige Fürstentum Jammu und Kaschmir umkämpft. Pakistan kontrolliert den nordwestlichen, Indien den südöstlichen Teil – aber beide erheben Anspruch auf das gesamte Territorium. Auch China spielt eine Rolle, es verwaltet Gebiete im Norden und Osten.

Mit den Jahrzehnten bildete sich im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs eine Unabhängigkeitsbewegung, die teils einen autonomen Staat, teils den Anschluss an Pakistan anstrebt. Neben zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren gibt es seit dem Ende der achtziger Jahre auch einen bewaffneten Aufstand gegen die indische Zentralregierung. Unter anderem entstand damals die in Pakistan ansässige Terrororganisation Laschkar-e Taiba (LeT), die seither die indische Verwaltung in Kaschmir bekämpft und auch ausserhalb der Region Anschläge verübt, etwa den Terrorangriff von 2008 in Mumbai, bei dem 175 Menschen ermordet wurden. Über Jahre wurde sie von der pakistanischen Armee und dem Geheimdienst ISI unterstützt, wie 2010 in einem Interview mit dem «Spiegel» selbst der einstige Premierminister Pervez Musharraf zugab.

Die Haltung der pakistanischen Machthaber gegenüber den militanten Gruppen in Kaschmir ist widersprüchlich. Bereits seit 2002 ist die LeT in Pakistan offiziell verboten, und 2022 wurde einer der für die Anschläge von 2008 Verantwortlichen zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Doch noch immer beansprucht Pakistan das gesamte Territorium Kaschmirs. Nur wenige Tage vor dem jüngsten Anschlag bezeichnete Armeechef Syed Asim Munir die Region als «Lebensader Pakistans» und bekräftigte öffentlich, dass der Kampf der muslimischen Bevölkerung in Kaschmir niemals aufzugeben sei.

Die Resistance Front wurde vor sechs Jahren gegründet, als lokaler Ableger der LeT. Die indischen Behörden vermuten deshalb, dass die LeT auch hinter dem jüngsten Attentat steckt. Schon vor den jetzigen Luftangriffen hat sie die Visa für pakistanische Staatsangehörige ausgesetzt und in Kaschmir die Häuser von Familien angeblicher Terroristen zerstören lassen. Von besonderer Tragweite ist zudem Indiens Ankündigung, ein Abkommen von 1960 zu suspendieren, das die Wassernutzung des Indus regelt. Der Fluss entspringt im Himalaja und fliesst über Kaschmir durch ganz Pakistan bis zur Meeresmündung in der Küstenmetropole Karatschi. Vom Indus sind fast die gesamte Landwirtschaft, Strom- und Trinkwasserversorgung Pakistans abhängig.

Die pakistanische Regierung hat bisher mit betonter Unnachgiebigkeit reagiert. Man werde jegliches «militärische Abenteurertum» Indiens entschlossen beantworten, liess Informationsminister Attaullah Tarar schon vor den Luftschlägen verlauten. Und Verteidigungsminister Khawaja Asif bezichtigte die indische Regierung, in Pahalgam eine «false flag operation» ausgeführt zu haben, eine inszenierte Aktion unter falscher Flagge also, um Pakistan zu diskreditieren. Belege dafür präsentierte er nicht.

Hindunationalistischer Zugriff

Direkt vom jetzigen Konflikt sind über achtzehn Millionen Menschen betroffen, die im gesamten Kaschmir leben. Im indischen Teil sind seit dem Anschlag in Pahalgam bereits über 2000 Menschen von Sicherheitskräften festgenommen worden. «Die Leute wollen nicht schon wieder für einen Gewaltausbruch verantwortlich gemacht werden», sagt dazu die Anthropologin Mona Bhan. Aufgewachsen im indisch kontrollierten Teil Kaschmirs, ist Bhan heute Professorin an der Syracuse University im US-Bundesstaat New York, wo sie zu ihrer Herkunftsregion forscht. Sie schildert ein umfassendes Klima der Angst und Repression, das die indische Zentralregierung dort etabliert habe, und spricht von einer faktisch inexistenten Meinungsäusserungsfreiheit für die Zivilbevölkerung.

Und trotzdem seien die Kaschmiri nach dem Attentat vom 22. April in vielen Städten auf die Strassen geströmt, um den Terrorakt zu verurteilen und eine unabhängige Untersuchung zu fordern. Sogar ein Generalstreik wurde ausgerufen. «Wenn sie die aktuellen Schlachtrufe hören», sagt Bhan, «dann wissen die Menschen in Kaschmir ganz genau: Sie werden die Ersten sein, die in die Schusslinie geraten.»

Vor elf Jahren trat in Indien mit Narendra Modi ein Premierminister sein Amt an, der im mehrheitlich von Muslim:innen bewohnten Kaschmir mehr denn je ein Kernelement der indischen Identität sieht – als Teil seiner hindunationalistischen Vision, die er mit seiner Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) rigoros vorantreibt. Davon zeugt insbesondere die Verkleinerung des Bundesstaats Jammu und Kaschmir im Jahr 2019 und dessen Herabstufung auf ein «Unionsterritorium». Kaschmir hat dadurch manche Autonomiebefugnisse verloren, die die Verfassung zuvor noch garantiert hatte. Das lokale Parlament wurde faktisch entmachtet, genauso die Regierung. Und anders als zuvor ist seither auch Inder:innen aus anderen Landesteilen der Erwerb von Grundeigentum erlaubt – was vor Ort grosse Ängste vor einer gezielten Verdrängung der ansässigen Bevölkerung schürt.

Als die Verfassungsänderung 2019 in Kraft trat, wurden in Kaschmir auch Tausende Politiker, Journalistinnen, Aktivisten und Rechtsanwältinnen festgenommen, die Kommunikation zur Aussenwelt wurde während Monaten gekappt, und Wahlen wurden jahrelang hinausgeschoben. Diesen Eingriff hat Modi seither als Erfolgsgeschichte dargestellt: Sicherheit und Wohlstand hätten in Kaschmir endlich Einzug gehalten.

Seine Erzählung fiel spätestens am 22. April in sich zusammen. Und die Kaschmiri fragten sich, wie ein derartiger Terroranschlag in dieser enorm stark überwachten Region habe möglich sein können, in der auf sieben Einwohner:innen ein stationierter Soldat komme, sagt Mona Bhan. Mit seinem kriegerischen Handeln wolle Modi deshalb nicht nur seine hindunationalistische Basis zufriedenstellen, sondern auch über das eigene eklatante Sicherheitsversagen hinwegtäuschen. «Ich glaube, weder die indische noch die pakistanische Regierung will eigentlich einen Krieg», sagt Bhan. «Aber beide wollen keinesfalls als schwach erscheinen.»

Ein neuer Vermittler?

Mit ihrer Rhetorik haben sich beide Seiten gewissermassen selbst unter Zugzwang gesetzt, weshalb die aktuelle Situation so gefährlich ist. «Pakistan hat klargemacht, dass es nicht nur verhältnismässig, sondern mit Entschlossenheit reagieren wird», sagt Qamar Cheema, Experte für internationale Beziehungen am Sanober Institut, einem überparteilichen Thinktank mit Sitz in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad. Und das nicht zuletzt deshalb, weil Regierung und Militär innenpolitisch seit Jahren unter grossem Druck stehen: Aufgrund einer anhaltenden Wirtschaftskrise und der Affäre rund um die Verhaftung des früheren Premierministers Imran Khan kämpfen die Machthaber um die eigene Legitimation.

Schon wiederholt standen Indien und Pakistan in der jüngeren Vergangenheit am Rand einer grösseren militärischen Eskalation. So etwa 2019, als ein Selbstmordattentäter in Kaschmir vierzig Polizeiangehörige mit einer Autobombe tötete. Das indische Militär flog Luftangriffe in Pakistan, worauf die pakistanische Armee ein indisches Flugzeug zum Absturz brachte und den Piloten gefangen nahm. Damals waren keine Todesopfer zu beklagen, beide Seiten verkündeten den eigenen Sieg – und die Situation kühlte sich ab.

Wesentlichen Einfluss hatte damals auch ein diplomatischer Effort vonseiten der USA. Zwar hat sich mit Marco Rubio diesmal auch der aktuelle US-Aussenminister eingeschaltet, aber anders als 2019 haben die Vereinigten Staaten keine Truppen mehr im benachbarten Afghanistan stationiert. Die Region hat für sie an militärstrategischer Bedeutung verloren.

Demgegenüber hat sich mittlerweile ein anderer regionaler Akteur als Vermittler angeboten: Die iranische Regierung verkündete, mit ihren Diplomaten in beiden Ländern bereitzustehen. Das könne zwar zur Deeskalation der gegenwärtigen Situation beitragen, sagt Experte Cheema, eine rasche Lösung des Konflikts bleibe aber vorerst sehr unwahrscheinlich.