Wissenschaftsstandorte (11): Athen am Pazifik

Nr. 45 –

Kaliforniens Kleinstadt der Freigeister strahlt in die ganze Welt aus. Auch heute noch, wo die StudentInnen die Party- der Politaktivität vorziehen.

Von den bewaldeten Hängen Berkeleys schweift der Blick über die Bucht von San Francisco, die Hügel Nordkaliforniens und die Golden-Gate-Brücke hinaus auf den Pazifischen Ozean. Der Duft aus den blühenden Gärten mischt sich mit dem von Espresso. Friedens- und Uno-Fahnen sowie tibetische Gebetsfähnchen flattern vor den Häusern.

An dieser idyllischen Lage gründeten Pastoren aus Neuengland um 1866 eine Universität. Sie wollten der Goldgräbergesellschaft von San Francisco Kultur nahe bringen. Ihre neue Wissensstätte benannten sie nach dem englischen Dichter George Berkeley: Dieser hatte im 18. Jahrhundert eine freie und demokratische Gesellschaft nach dem Vorbild des alten Athen im fernen Westen heraufbeschworen. Diese Utopie war dem «Athen am Pazifik» Programm. Entstanden ist eine heute weit über die Universität hinaus progressive Stadt, eine linke Insel in den konservativen USA.

Als brave Zeit vorbei

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Berkeley eine arbeitsame Kleinstadt, deren Universität sich prächtig entwickelte. Hier wurden das Polio-Virus isoliert und zahlreiche Durchbrüche im Fach der Physik erzielt. Auch das Programm zur Entwicklung der US-Atomwaffen wurde von hier aus geleitet.

Der bürgerlich-patriotische Charakter der Stadt und der Universität stand allerdings auf schwankendem Grund: Kalifornien war schon immer das Ziel freier Geister, die den Konventionen der Ostküste und des mittleren Westens entfliehen wollten. – Und mitten durch Berkeley führt ein Grabenbruch, in welchem die amerikanische und die pazifische Kontinentalplatte aufeinander treffen. Während der sechziger Jahre verbanden sich die seismischen, kulturellen und gesellschaftlichen Spannungen und entluden sich in einer massiven Erschütterung.

Ab 1960 mobilisierten Studierende aus Berkeley gegen die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära und die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung. 1964 verhaftete die Polizei einen Studenten, der auf dem Campus politische Literatur verteilte. Spontan versammelten sich hunderte von Studierenden, blockierten während 32 Stunden das Polizeiauto (mit dem verhafteten Jack Weintraub) und riefen gegen Denk- und Redeverbote auf. Damit war das Free Speech Movement geboren.

Proteste gegen die politische Bevormundung und den Vietnamkrieg prägten schon bald den Universitätsalltag. Zehntausende nahmen an Demonstrationen und «Teach-ins» teil. Studierende besetzten Vorlesungssäle, bestreikten den Lehrbetrieb und blockierten Züge, welche Rekruten zur Verschiffung nach Vietnam führten. Verhandlungen wechselten sich mit friedlichen Aktionen und Strassenschlachten ab. Die Partei der Black Panthers, die im nahen Oakland gegründet worden war, patrouillierte bewaffnet in den armen Quartieren, um die Bevölkerung symbolisch vor der Polizeigewalt zu schützen.

Auf der anderen Seite der Bucht, in San Francisco, lebten gleichzeitig die Hippies den kulturellen Aufbruch. Als im Summer of Love 1967 tausende von Blumenkindern in die Stadt am Golden Gate zogen, wichen viele Hippies nach Berkeley aus und liessen sich beim Campus nieder. In einer Werkstatt produzierten unternehmerische Köpfe bis 1966 legal LSD. Joan Baez sang auf dem Uni-Campus gegen den Vietnamkrieg an, und Jane Fonda zog in eine lokale Kommune ein. Beat-Poeten eröffneten in Berkeley das erste Zen-Zentrum des Westens, und die Sexual Freedom League lud zu Nacktpartys ein.

Schrecken und Gewalt

Der politische und kulturelle Aufbruch in der Universitätsstadt löste in der konservativen US-amerikanischen Gesellschaft Entsetzen aus. Als Stadtratsmitglieder in Berkeley den Fahneneid nicht mehr ablegten, sprachen ihn Behördenmitglieder der Nachbargemeinde dafür zweimal. PatriotInnen zogen an der Grenze zu Berkeley eine grosse US-Flagge auf.

Weltpolitisch schwerwiegender war, dass Ronald Reagan 1966 mit einer gegen Berkeley gerichteten Wahlplattform triumphal zum Gouverneur von Kalifornien gewählt wurde. Im Februar 1969 rief er als Antwort auf einen StudentInnenstreik in Berkeley den Notstand aus. Einige Wochen später liess er die Stadt während siebzehn Tagen mit Truppen der Nationalgarde besetzen. Helikopter nebelten den Campus mit Tränengas ein. Schiesswütige auswärtige Polizisten machten Jagd auf Studierende. Der massive Waffeneinsatz forderte einen Toten und über hundert Verletzte, die politische Aufbruchstimmung endete in Gewalt und Erschöpfung.

Einzelne Splittergruppen gingen darauf in den Untergrund. Die obskure Symbionese Liberation Army entführte 1974 in Berkeley Patty Hearst, die Tochter eines Zeitungsmagnaten. Für viele andere begann der lange Marsch durch die Institutionen.

«Volksrepublik Berkeley»

Im milden Klima Kaliforniens war linke Politik stets undogmatisch. In Berkeley arbeiteten seit den sechziger Jahren die alte und die neue Linke sowie afroamerikanische Gruppen zusammen. Als die Stadt in einem Pionierakt die Trennung zwischen weissen und schwarzen Schulen aufhob und sich die Universität immer mehr radikalisierte, zogen die konservativen Familien weg. So ist Berkeley heute fest in linker Hand. 1973 trat letztmals ein Republikaner für einen Sitz im lokalen Stadtrat an. Seither amtierten im Stadtpräsidium ein schwarzer Bürgerrechtler, ein Sozialist und eine ehemalige studentische Aktivistin. Im US-Kongress markieren die Abgeordneten aus Berkeley den progressiven Rand des politischen Spektrums. Barbara Lee stimmte 2001 als einziges Kongressmitglied gegen den Patriot Act von Präsident Bush; sie geniesst in Berkeley Zustimmungsraten von über neunzig Prozent.

Heute leben rund 100 000 Menschen in der selbsternannten «Volksrepublik Berkeley». In 45 Kommissionen wachen die BürgerInnen darüber, dass die lokalen Behörden – von der Polizei bis zu den Schulkantinen – ihre Arbeit korrekt verrichten. Die Stadtratssitzungen werden live am Radio übertragen und dauern häufig bis nach Mitternacht.

Berkeley nennt sich die einzige Stadt mit einer eigenen Aussenpolitik. Die Stadt unterhält Partnerschaften mit Gemeinden unter anderem in Nicaragua, Südafrika und Kuba. Immer wieder beschliesst der Stadtrat aussenpolitische Aktivitäten. Die Stadt ist konsequent behindertengerecht gebaut. Handkehrum ist Berkeley auch ein Beispiel dafür, dass selbst gestandene Linke gegen Obdachlose und subventionierten Wohnungsbau mobilisieren können, wenn diese zur Gefahr für den Wert des eigenen Grundstücks werden.

Stadt überholt Uni

Die Achtundsechziger-Generation aus Berkeley ist bis heute politisch aktiv. Führende Köpfe der Studentenrevolte sind in der Lokal- und Umweltpolitik tätig und stossen landesweit wichtige politische und intellektuelle Debatten an.

Berkeley mischt sich auch heute noch ins politische Tagesgeschehen ein. Die in der Unistadt gegründete Internetbewegung MoveOn mobilisierte hunderttausende gegen den Krieg im Irak und die Politik von George Bush. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen reisten viele sogar in die umstrittenen Staaten, die Swing States, um dort Stimmen zu mobilisieren.

Die Grundsätze der Universität zeugen nach wie vor von gesellschaftspolitischem Engagement, sie sprechen von der «grossen Verpflichtung, zu einer besseren Welt beizutragen». Doch die Stadt ist heute engagierter als ihre Universität. Die Studierenden sind zwar meist fortschrittlich eingestellt –, aber Partys ziehen auf dem Campus mehr Leute an als politische Veranstaltungen.

Florierendes Biokleingewerbe

Neben der Universität bilden heute zwei Erben der sechziger Jahre – die Kultur und die biologische Gourmetküche – die wirtschaftliche Basis von Berkeley. Die Stadt zählt rund fünfzig Kleinverlage und gegen hundert teils hervorragende Buchhandlungen. Jeden Abend tragen zahlreiche Lesungen und Poetryslams zur weiteren Verbreitung der freien Rede bei. Zum kulturellen Angebot der Kleinstadt gehören das älteste nichtkommerzielle Lokalradio (KPFA Radio) der USA sowie ein Filmarchiv, Tanzzentren, Theater und Jazz-Labels von Weltrang.

1971 eröffnete die junge Köchin Alice Waters in Berkeley das Restaurant Chez Panisse. Das Restaurant, welches Waters auch heute noch führt, begründete die California Cuisine, welche auf leichten, zumeist biologisch angebauten Frischprodukten beruht. In ihrem Gefolge siedelten sich hervorragende Bioläden und Fairtrade-Vertriebe, Kaffeeröstereien und Vegi-Restaurants, Bauern- und Fischmärkte, Kleinbrauereien und Sake-Hersteller an. Der Cheese Board, ein selbstverwalteter Käseladen, bietet seit 1967 hunderte von offenen Käsesorten und frische Pizza, Livejazz und Propaganda an. Senioren und verdiente politische Aktivistinnen erhalten Rabatt; Obdachlose werden gratis bedient.

In Berkeley, in Institutionen wie dem Cheese Board, hat sich eine weltoffene, engagierte, aber auch saturierte Achtundsechziger- und Nach-Achtundsechziger-Generation ihren Traum vom guten Leben erfüllt. Die politische Ausstrahlung des Gemeinwesens ist in den Zeiten von Bush und Schwarzenegger allerdings bescheiden. Zu weit ist die Stadt vom politischen Mainstream entfernt. In Berkeley wurde in den sechziger Jahren das Motto «Trau keinem über dreissig» geprägt. Vielleicht holt diese Devise die Stadt nun ein.

Peter Bosshard arbeitet als Policy Director beim International Rivers Network in Berkeley.

Attraktiv – nicht nur für StudentInnen

32 000 Studierende aus über hundert Ländern sind an der University of California, Berkeley (UCB), eingeschrieben, Frauen bilden die knappe Mehrheit. Damit ist Berkeley der zweitgrösste von insgesamt elf Standorten des University-of-California-Systems. Die hundert Gebäude des knapp fünf Quadratkilometer umfassenden Campus sind in Parkanlagen eingebettet und werden von einem Glockenturm überragt, dem der Campanile von Venedig als Vorbild diente. Das Freilufttheater der Universität wurde – in alter Griechenlandbegeisterung – dem Theater von Epidauros nachgebaut. «The Times Higher Education Supplement» stufte Berkeley 2004 als beste Universität der Welt ein.

Ausgerechnet die «linke» UCB spielte eine traurige Pionierrolle beim Ausverkauf öffentlicher Wissenschaft. 1998 schloss die Fakultät für Natürliche Ressourcen mit der Novartis-Abteilung für Agrobiotechnologie (Nadi; heute Syngenta) einen Fünf-Jahres-Vertrag über 25 Millionen Dollar ab. Nadi erhielt das Vorkaufsrecht für Lizenzen an Patenten dieser Abteilung und durfte zwei von fünf Mitgliedern des Gremiums stellen, das die Gelder fakultätsintern verteilt. ForscherInnen konnten die firmeneigene Forschungsdatenbank benutzen, wenn sie ein Geheimhaltungsabkommen unterzeichneten, das ihnen verbot, ohne Erlaubnis der Firma Resultate ihrer Arbeit zu publizieren.

Bereits 1969 sorgte die Nähe von Wissenschaft und Industrie für Schlagzeilen. Durch ein Leck eines Bohrturms der Union Oil Company wurde die Küste verseucht. Fachleute kalifornischer Unis, darunter Berkeley, weigerten sich, in der Untersuchung als Experten aufzutreten, weil sie fürchteten, die Privatwirtschaft zu verärgern und Sponsorengelder zu verlieren.
Peter Bosshard, Marcel Hänggi