Hunters Point: Im Hinterhof von San Francisco

Nr. 20 –

Nirgendwo an der Bucht von San Francisco sind die Lebensbedingungen so ungesund, nirgendwo geschehen so viele Morde. Und doch gibt es Initiativen. Aber erreichen sie auch die Armen?

Hunters Point ist ein Stadtviertel im Südosten von San Francisco. An schönen Tagen kann man von hier aus die Glasfassaden der Downtown glitzern sehen. Zwischen den internationalen Banken und Bürogebäuden sticht vor allem die Transamerican Pyramid hervor, mit 260 Metern einst das höchste Gebäude westlich des Mississippi. Zusammen mit der Golden Gate Bridge ist die Pyramide das Wahrzeichen der Stadt.

Hunters Point braucht keine Wolkenkratzer und keine Brücken; das ehemalige Arbeiterviertel hat seine eigenen Wahrzeichen: ein altes Erdgaskraftwerk, eine riesige Kläranlage sowie eine ehemalige Militärwerft, deren Gelände mit Giftmüll und radioaktiven Abfällen verseucht ist. Die städtischen Wohnanlagen im Viertel sind berüchtigt für Drogen, Gangs und Strassenkriminalität. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Hunters Point ist der Hinterhof von San Francisco, schmutzig und gefährlich.

Anthony Khalil hat ein anderes Bild von Hunters Point. Sicher, die Probleme seien real, sagt er, sehr real sogar. Aber er ist stolz auf sein Viertel. Denn viele Leute hier wehren sich gegen die schlechten Lebensbedingungen – gemeinsam, ausdauernd und manchmal sogar mit Erfolg. Khalil arbeitet gelegentlich auf dem Gelände des Kraftwerks, das dem Energiekonzern Pacific Gas and Electric Company (PG&E) gehört und direkt am Wasser liegt. Von hier aus hat man einen wunderbaren Blick über die Bucht von San Francisco. Am Ufer gegenüber sieht man die Eastbay mit den Oakland Hills und der Universität von Berkeley.

Khalils Alter ist schwer zu schätzen. Er könnte Mitte zwanzig, aber auch Mitte dreissig sein. Ein schlanker, kräftiger Mann in einem Arbeitsoverall und mit dunkler, wettergegerbter Haut. «Vierzig Jahre hat dieses Viertel gekämpft. Und jetzt haben wir es geschafft!» Vor einem Jahr musste PG&E das Kraftwerk endlich schliessen – «das ist ein unglaublicher Erfolg». Hat sich seither etwas geändert? «Schau mal», sagt er und zeigt auf die Hügel direkt hinter dem Kraftwerk. Nur wenige hundert Meter entfernt stehen Dutzende Baracken: öffentlich geförderte Wohnungen für sozial benachteiligte Familien, sogenannte Projects. «Das Kraftwerk wurde in den zwanziger Jahren gebaut», sagt Anthony Khalil. «Und die Leute haben den ganzen Dreck abgekriegt. Das ist nun anders.»

Krebs, Bluthochdruck, Diabetes

Anthony Khalil arbeitet für die Gruppe Literacy for the Environment (LEJ), eine Organisation, die sich seit vielen Jahren mit lokalen Umweltproblemen beschäftigt. Über 200 giftige Chemikalien haben die zuständigen Behörden in Hunters Point gefunden – im Boden, im Wasser und in der Luft. Nicht nur das Erdgaskraftwerk und die Altlasten auf dem Gelände der geschlossenen Militärwerft, auch die nahen Stadtautobahnen und die Industrie- und Recyclinghöfe tragen zur Umweltverschmutzung bei. Dies ergibt mit den sozialen Problemen eine tödliche Mischung: Wer in Hunters Point lebt, hat ein mehr als doppelt so hohes Risiko, an Gebärmutterhals- und Brustkrebs zu erkranken. Herz- und Atemwegserkrankungen, auch Diabetes und Bluthochdruck sind doppelt bis dreimal so häufig wie in anderen Quartieren von San Francisco. Besonders schwer trifft es die Kinder: 15,5 Prozent der Minderjährigen leiden an Asthma. Im US-Durchschnitt sind es gerade mal 5,6 Prozent.

Die Stilllegung des Kraftwerks gehört zu den grössten Erfolgen der Gruppe. Noch 2004 hatte San Franciscos Bürgermeister Gavin Newsom PG&E eine Verlängerung der Laufzeit zugesichert. Doch gemeinsam mit vielen anderen Initiativen und Organisationen hat LEJ den Stromkonzern zu einer vorzeitigen Schliessung gezwungen. Gleich neben dem Kraftwerk betreut LEJ den Heron's Head Park, einen kleinen Grünstreifen, auf dem die ursprüngliche Ufervegetation wiederhergestellt wurde: Hohes Schilf und Gräser säumen das Ufer, Vögel waten durch das flache Wasser, manchmal treffen sich auch Kinder und Jugendliche zu Workshops und Umweltseminaren. Bevor sich Khalil verabschiedet, zeigt er noch den Weg zur alten Militärwerft. Ein grosser Teil des Geländes sei aus Sicherheitsgründen abgesperrt, doch einige Gebäude würden von KünstlerInnen als Ateliers genutzt. «Das musst du dir unbedingt anschauen.»

Jeder fünfte Mord

Die Strasse zur alten Werft schlängelt sich dem Ufer entlang, führt an heruntergekommenen Wohngebäuden vorbei, an kleinen Läden und einem längst geschlossenen Restaurant, auf dem in verblassten Lettern «Soul Food» steht. Vor einem Haus basteln drei Männer an einem Auto. Nebenan erheben sich Bauschutt- und Hausmülldeponien. Eine Strasse zieht sich den Hügel hinauf ins Viertel, in die Sozialwohnsiedlung hinein. Die älteren Projects wirken wie Militärbaracken. Grüne und blaue Pastellfarbe blättert von den Holzwänden. Die neueren Komplexe sind im Stil von Reihenhäusern gebaut – billige Bausubstanz, liebloses Design.

Auf den Parkplätzen stehen Teenager zusammen, sie rauchen Zigaretten und Marihuana, aus Autos tönt Hiphop. Das Viertel wirkt verschlafen. Doch der Schein trügt. Drogenhandel und Bandenkämpfe fordern täglich ihren Tribut. Jeder fünfte Mord in San Francisco wird in Hunters Point begangen – meist innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Schwarze gegen Schwarze. Latinos gegen Latinos. Fast alle hier haben einen Freund, einen Nachbarn oder einen Verwandten, der gewaltsam zu Tode gekommen ist.

Radioaktive Experimente

Nichts hat die Geschichte von Hunters Point so geprägt wie die Werftanlage der Kriegsmarine. Ohne sie würden hier noch chinesische Krabbenfischer und Immigrantinnen aus Italien und Malta leben. Doch die mussten dem Militär weichen; 1938 wurden die letzten chinesischen Häuser geräumt und niedergebrannt. Die Navy schüttete eine Landzunge auf und baute Trockendocks, Piers und riesige Hallen, in denen die Kriegsschiffe und U-Boote der Pazifikflotte überholt wurden. Energie bezog die Werft unter anderem vom PG&E-Kraftwerk.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs experimentierte die Navy hier mit radioaktiver Strahlung. Angesichts eines möglichen Atomkriegs zwischen der Sowjetunion und den USA sollten hier Methoden zur Dekontamination entwickelt werden. Doch dazu mussten die Wissenschaftler ihr Versuchsmaterial erst einmal radioaktiv verseuchen – und so wurden etliche Gebäude verstrahlt.

Doch die Navy brachte nicht nur Chemikalien und Kriegsschiffe nach Hunters Point, sondern auch eine immense Nachfrage nach billiger Arbeitskraft. Mitte der fünfziger Jahre arbeiteten etwa 8500 ZivilistInnen auf der Werft. Tausende AfroamerikanerInnen waren aus den Südstaaten gekommen, um in San Francisco Arbeit zu finden. Aufgrund von Rassismus und staatlicher Diskriminierung blieben ihnen die meisten Stadtviertel jedoch verschlossen. Viele wurden zunächst in unmittelbarer Nähe der Hafenanlagen in Sammelunterkünften untergebracht; später kauften sich die ArbeiterInnen kleine Häuser oder zogen in die Sozialwohnsiedlungen. So wurde Hunters Point binnen weniger Jahre zu einem lebendigen Viertel, in dem fast ausschliesslich AfroamerikanerInnen lebten.

In den sechziger Jahren verliess die Navy Hunters Point – und mit ihr verschwanden Tausende von Arbeitsplätzen. Offiziell wurde der Standort 1974 geschlossen. Die Menschen blieben. Heute leben noch etwa fünfzig Prozent Schwarze in Hunters Point. Ab den achtziger Jahren zogen zunehmend MigrantInnen aus Asien und Lateinamerika nach Hunters Point. Viele von ihnen flüchteten vor Militärdiktaturen, Krieg und wirtschaftlicher Not – nicht zuletzt aufgrund der Aussen- und Handelspolitik der USA. Derzeit wohnen etwa 30 000 Menschen im Verwaltungsbezirk Bay View Hunters Point – wobei diese Zählung nicht nur Hunters Point, sondern auch eine Reihe benachbarter Stadtviertel erfasst. Mit insgesamt 94,3 Prozent sogenannter Minority Groups hält dieses Stadtgebiet einen demografischen Rekord in San Francisco.

Jobs gibt es vor allem in den schlecht bezahlten Bereichen der riesigen Serviceindustrie: im Verkauf, im Reinigungsgewerbe, im Wachdienst, als Hilfskoch, als Kellnerin, als Fahrer. Rund um Hunters Point liegt ausserdem ein Gürtel kleiner Industriebetriebe, Lagerhallen und Recyclinghöfe. Nur elf Prozent der Hunters-Point-BewohnerInnen haben einen College-Abschluss oder eine technische Berufsausbildung. Die boomende Finanz- und Softwarewelt von San Francisco bleibt anderen vorbehalten.

270 KünstlerInnen

Auf dem Werftgelände von Hunters Point haben heute rund 270 KünstlerInnen ihr Atelier. Zannah Noe arbeitet seit 2002 in einer der Baracken, die von der Navy freigegeben wurden. Ihr Atelier ist voller merkwürdiger Gegenstände, die sie für ihre Installationen verwendet – «found objects», wie sie sie nennt. Einmal, erzählt sie lachend, «wollte einer das Kunstobjekt an der Wand kaufen, dabei war das nur mein Regal mit Kram drauf». Angefangen hat Noe als Fotografin. Mitte der Neunziger kam sie zur Malerei; an ihren Rauminstallationen bastelt sie eher nebenbei.

Die ersten KünstlerInnen kamen 1976. Die Navy war damals zwar schon weg, aber ein Teil der Hafenanlage wurde noch von einem zivilen Betrieb genutzt. Später wurde der Werftbetrieb komplett eingestellt. 1984 mieteten die KünstlerInnen dann eine ganze Reihe leer stehender Gebäude und nutzten sie um. Mittlerweile hat sich das Projekt gemausert. Wer hier heute einen Raum mieten will, muss bis zu drei Jahren warten.

Die Stadtregierung würde die Militärbaracken gern zu einem richtigen Kunstzentrum umbauen und das gesamte Gebiet strategisch aufwerten. Oberhalb der Werft hat ein Unternehmen bereits mit dem Bau einer neuen Wohnsiedlung begonnen. Offiziell handelt es sich um Wohnraum für sozial benachteiligte Familien. Doch viele befürchten, dass die AnwohnerInnen sich die Wohnungen am Ende gar nicht leisten können. Die eigentlichen InteressentInnen sitzen möglicherweise ein paar Kilometer nördlich von Hunters Point, wo derzeit ein grosser Hightech-Park entsteht. Hier plant die University of California einen neuen Campus und das California Institute for Regenerative Medicine ein Genforschungsinstitut. Auch andere Unternehmen zeigen Interesse an dem Standort. Seit kurzem gibt es eine Strassenbahn, die den Industriepark mit Hunters Point verbindet. Der Blick auf die Bay, die verlassenen Hafenanlagen und die alte Werft machen Hunters Point potenziell zu einem attraktiven Wohnort mit viel Grossstadtromantik. Noch ist das Viertel für die weisse Mittelschicht praktisch unbewohnbar. Doch wenn der Hightech-Park erst mal fertig ist, könnte sich das ganz schnell ändern.

Verstrahlte Rohre

«Der Giftmüll auf dem Gelände der alten Werft ist ein Problem», sagt Zannah Noe. In ihrem Gebäude gibt es zum Beispiel kein Wasser, weil die Navy die verseuchten Abwasserrohre rausgerissen hat. Über Jahrzehnte wurde hier einfach alles in den Abguss gekippt. Weiter unten in den Docks lässt sich der Schaden nicht so einfach beheben. Dort sind die Chemikalien bis zu zwanzig Meter in den Boden gesickert. Auf die Gebäude, in denen die Navy mit radioaktiver Strahlung experimentiert hat, kommen wir gar nicht erst zu sprechen.

Trotzdem fühlt sich Noe hier wohl. Die Miete ist günstig, sie liebt die Nähe zum Wasser. Im Moment hat man in Hunters Point noch das Gefühl, man sei am Ende der Welt. Der Kontakt zur Aussenwelt ist sporadisch und von der Navy reglementiert. Im Frühling und im Herbst organisieren die KünstlerInnen ein Open Studio; dann öffnet der Pförtner für 48 Stunden seine Schranke. «Da kommen 5000 bis 6000 Leute», sagt Noe – vor allem junge Leute aus San Francisco. Manche KünstlerInnen können von dem Verkauf an den zwei Wochenenden das ganze Jahr leben.

Clinton und die Working Poor

Die BewohnerInnen von Hunters Point lassen sich dagegen kaum in den Ateliers blicken. Warum auch? Für Kultur haben die meisten kein Geld. Über zwanzig Prozent der Menschen in Hunters Point gelten als arm.

Die Einkommensunterschiede lassen sich nach Hautfarbe sortieren: Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen der weissen Bevölkerung von San Francisco liegt bei 51 986 US-Dollar. EinE AfroamerikanerIn verdient mit 19 275 Dollar im Jahr nicht einmal die Hälfte davon. Nur die LatinAs haben noch weniger: Sie bringen es durchschnittlich gerade mal auf 18 584 Dollar. Viele Menschen in Hunters Point sind nicht aufgrund fehlender Beschäftigung, sondern trotz Vollzeitarbeit arm. Denn seit Bill Clintons Sozialstaatsreform im Jahr 1996 ist der Rechtsanspruch auf ein Existenzminimum endgültig abgeschafft. Hilfe vom Staat bekommt nur, wer auch arbeitet – und sei der Job auch noch so schlecht bezahlt. Für das kalifornische «Welfare-to-Work»-Programm CalWorks qualifiziert sich zum Beispiel nur, wer mindestens 32 Stunden in der Woche arbeitet. Liegt das Einkommen trotzdem unter der Armutsgrenze, wird es durch CalWorks aufgestockt. Faktisch wird der prekäre Niedriglohnsektor damit staatlich durchgesetzt und subventioniert.

Unter diesen Bedingungen wundert es nicht, wenn Armutsviertel wie Hunters Point eine informelle Parallelökonomie entwickeln. Eine zusätzliche Einkommensquelle bietet etwa der Handel mit Drogen. Gerade für junge Männer ohne Ausbildung und Job ist das ein einfacher Weg zu ein bisschen Geld, Sicherheit und Erfolg. Doch die Rechnung geht selten auf – vor allem, wenn Crack ins Spiel kommt. In Hunters Point tauchte diese hochwirksame Substanz aus Kokainsalz und Backpulver zum ersten Mal Mitte der achtziger Jahre auf. Seitdem nimmt der Albtraum kein Ende. Das hohe Abhängigkeitspotenzial, das wahnwitzige Hochgefühl, die völlige Selbstüberschätzung, dazu die vielen Schusswaffen, die rivalisierenden Gangs sowie die finanziellen Nöte und sozialen Spannungen in den Familien – all das ergibt eine katastrophale Mixtur mit entsprechenden Folgen: Gewalt auf der Strasse, in der Schule und zu Hause.

Die Krankheit Gewalt

Der letzte Strohhalm, nach dem viele greifen, ist der Omega Boys Club. Die Organisation mit dem merkwürdigen Namen bietet ein überaus erfolgreiches Programm gegen Drogen und Gewalt. Gegründet wurde sie 1987 von Joseph Marshall, der im Clubhaus der Omega Boys sein Büro hat. Auf dem Schreibtisch des ehemaligen Lehrers stehen drei Bilderrahmen mit Fotografien von Malcolm X, Martin Luther King und Mahatma Gandhi. «Meine Helden», sagt er und schmunzelt. Dann verfinstert sich seine Miene: «Die Schwarzen in Amerika wurden immer wieder angegriffen: Sklaverei, Segregationsgesetze, Rassismus. Doch das waren Angriffe von aussen.» Der Grund, dass die Schwarzen das überstanden haben, ist der Zusammenhalt der Gemeinschaft. Doch Crack zerstört diese Gemeinschaft von innen; Stadtviertel wie Hunters Point implodieren. «Die sozialen Netze reissen, die Familien wurden unterminiert.»

Marshall denkt politisch. Doch sein Ansatz ist verhaltenstherapeutisch: «Gewalt ist eine soziale Krankheit. Und Krankheiten kann man behandeln. Ich urteile über niemanden. Für mich ist das ein Gesundheitsproblem.» Die jungen Männer und Frauen, die in den Omega Boys Club kommen, werden von Joseph Marshall persönlich betreut. Er ist Vorbild, Freund und Mentor zugleich. «Letztlich geht es darum, den jungen Leuten klarzumachen, dass Gewalt keine Überlebensstrategie ist. Die Gangs zum Beispiel pflegen ein Image von Familie. Aber das ist keine Familie. Das ist ein Haufen Gangster. Am Ende bringen sie sich alle gegenseitig um.» Um ihre Mitglieder aus den Strukturen der Gewalt herauszulösen, stellen die Omega Boys strenge Regeln auf. Einer der wichtigsten Leitsätze für die jungen Männer auf der Strasse: «Ein Freund bringt dich niemals in Gefahr!»

Hunderte Jugendlicher hat Marshall von der Strasse geholt. Doch ein Ende ist nicht in Sicht. In gewisser Weise hat Anthony Khalil, der junge Umweltaktivist, es auf den Punkt gebracht. Hunters Point kämpft: Gegen Alltagsrassismus, Umweltverschmutzung, Drogen und Gewalt. gegen InvestorInnen und teure Wohnprojekte. Und gegen den Zerfall der eigenen Identität und Gemeinschaft. Die Fronten sind oft unklar, und nicht selten steht der Feind im eigenen Lager. Hunters Point könnte einen Verbündeten gut gebrauchen. Nur ist keiner in Sicht.

Henrik Lebuhn ist Politologe, Lehrbeauftragter am San Francisco Art Institute, Redaktionsmitglied der Zeitschrift «Prokla» und Online-Redaktor bei www.linksnet.de. Er lebt in San Francisco und Berlin.

Buchtipp: Loïc Wacquant: «Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays». Birkhäuser Verlag für Architektur. Basel 2006.

Eine kleine Geschichte des Ghettos

Der Begriff Ghetto wird oft synonym für Slum verwendet und beschreibt in diesem Zusammenhang ein Stadtviertel, in dem vorwiegend arme Menschen wohnen. Die Versorgung mit Wasser, Strom und öffentlichen Dienstleistungen ist in diesen Vierteln meist mangelhaft, die Häuser und Wohnungen sind heruntergekommen, die Lebensbedingungen generell schwierig und gesundheitlich belastend.

Neben der umgangssprachlichen Verwendung bildet der Begriff des Ghettos jedoch auch ein soziologisches Konzept. Er beschreibt die Einschliessung und Kontrolle ethnischer und religiöser Gruppen in bestimmten Stadtvierteln.

Historisch ist der Begriff vor allem für das «Judenghetto» geläufig. Bereits im europäischen Mittelalter durften Juden und Jüdinnen vielerorts nur besondere Stadtviertel bewohnen, die sie auch selbstständig verwalteten. 1516 liess der Senat von Venedig alle Juden und Jüdinnen der Stadt in das «ghetto nuovo» bringen: eine Insel, die die BewohnerInnen nur tagsüber verlassen durften, um ihren Geschäften nachzugehen. Ähnliche Formen der Einschliessung bildeten sich in vielen Städten Europas heraus. Die Nazis perfektionierten das Ghetto und nutzten es zwischen 1939 und 1944 für die Ausbeutung jüdischer ZwangsarbeiterInnen und für die Deportation und Vernichtung der Juden und Jüdinnen.

Neben dem Zweck der äusseren Kontrolle hatte die Schaffung von Ghettos auch einen wichtigen Effekt innerhalb der betroffenen Bevölkerungsgruppen: Unter den Bedingungen der sozialen Isolation und Stigmatisierung bildete sich unter den GhettobewohnerInnen eine starke kollektive Identität heraus. Es entstanden eigene Institutionen der Verwaltung, der Kultur und des sozialen Lebens. Ghettos wurden zu einer Art Parallelgesellschaft.

Der soziologische Ghettobegriff, der sich von dem des Slums erheblich unterscheidet, erlaubt auch ein besseres Verständnis afroamerikanischer Viertel in den Grossstädten der USA. Deren Geschichte beginnt ab dem Ersten Weltkrieg mit der Migration von weit über einer Million Schwarzer aus den Südstaaten in die rasant wachsenden Metropolen und Hafenstädte wie New York, Chicago, Baltimore, Los Angeles, Oakland und San Francisco. Allerdings konnten sie ihren Wohnsitz oft nicht frei wählen. Hinzu kamen indirekte und oftmals ökonomische Formen der Diskriminierung, die bewirkten, dass sich die Schwarzen in eigenen Stadtvierteln konzentrierten. Ähnlich wie in den jüdischen Ghettos bildeten sich in diesen Quartieren enge soziale Netze und Institutionen heraus, zum Beispiel über Kirchen und später über Organisationen wie die Black Panthers (siehe WOZ Nr. 15/08). Ausserdem führte der Rassismus der weissen Mehrheitsgesellschaft dazu, dass sich die Schwarzen selber aktiv von dieser abzugrenzen begannen.

Die Schaffung von Ghettos erlaubte die wirtschaftliche Integration der AfroamerikanerInnen als billige LohnarbeiterInnen. Gleichzeitig wurden sie sozial und territorial isoliert. In Los Angeles bildete sich in den fünfziger und sechziger Jahren mit der Zuwanderung von etwa 600 000 AfroamerikanerInnen das zum damaligen Zeitpunkt wohl grösste innerstädtische schwarze Ghetto in den USA heraus.

Noch heute wird das Stadtviertel Watts im Herzen von Los Angeles fast ausschliesslich von Schwarzen bewohnt. Die Unterdrückung blieb nicht ohne Folgen: 1965 brachen in Watts bürgerkriegsähnliche Zustände aus – die sogenannten Watts Riots. Polizei und National Guard brauchten sechs Tage, um den Aufstand niederzuschlagen. 34 Menschen wurden getötet, fast alle waren Schwarze. Die Aufstände in Los Angeles bildeten den Auftakt einer ganzen Serie von «urban riots» und waren ein wichtiger Bestandteil der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre.

Viele ehemalige Ghettos sind heute ethnisch durchmischt. Denn dank der Bürgerrechtsbewegung wurde die gesetzliche Segregation und Diskriminierung abgeschafft. Die soziale Situation hat sich allerdings kaum verbessert. Auf der Suche nach günstigem Wohnraum ziehen viele neue ImmigrantInnen, vor allem aus Lateinamerika und Asien, in die Quartiere der Schwarzen mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit. Kriminalität, Drogenhandel und Gewalt haben dramatisch zugenommen. Die sozialen Institutionen, die dem Ghetto einst eine enorme innere Stärke verliehen haben, sind geschwächt oder wurden – wie im Fall der Black Panthers – politisch zerschlagen. Die Zukunft des Ghettos ist ungewiss.

Die Banlieue-Serie

Dies ist der zwölfte Teil unserer Serie über die Banlieues, die Ghettos, die Villas Miseria und die Shantytowns der Welt. Bisher erschienen Reportagen aus Marseille (WOZ Nr. 16/07), Bombay (18/07), Buenos Aires (24/07), Istanbul (26/07), Nairobi (36/07), Berlin (40/07), Peking (43/07), Sevilla (46/07), Manila (49/07), Rio de Janeiro (7/08) und Lagos (9/08).

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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