HIV-MEDIKAMENTE: Die teure zweite Linie
Die Antiretroviraltherapie gegen Aids wird zwar immer besser. Aber viele HIV-Infizierte können sich die Roche-Medikamente nicht leisten.
Dank neuer Medikamente hat Aids für viele seinen Schrecken verloren - zumindest in unsern Breitengraden. Doch in den ärmeren Ländern tötet Aids weiter, weil die Menschen sich die teuren Medikamente aus den USA und der Schweiz nicht leisten können. Nach Angaben der Hilfsorganisation Médecins Sans Frontières, die 35 000 Aidskranke in dreissig Ländern betreut und mit Medikamenten versorgt, wären allein in Afrika zwischen sechs und sieben Millionen HIV-Betroffene dringend auf eine Antiretroviraltherapie (ARV) angewiesen. Tatsächlich werden bisher aber erst eine Million Aidskranke mit den entsprechenden Medikamenten behandelt.
Im Fokus der Kritik steht auch die Basler Roche, die als einziges Pharmaunternehmen in der Schweiz eine ganze Reihe von HIV-Medikamenten im Sortiment führt. Darunter sind Nelfinavir und Saquinavir, zwei so genannte Proteasehemmer, die unter den Markennamen Viracept und Invirase im Umlauf sind. Diese werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) inzwischen empfohlen. Die beiden Roche-Medikamente seien, sagt die WHO, für die Aidsbekämpfungsprogramme in den armen Ländern des Südens in besonderem Mass geeignet. Viracept und Invirase gelten als Therapeutika der zweiten Linie. Das heisst, sie kommen erst dann zum Einsatz, wenn die HI-Viren gegen die Medikamente der ersten Linie (der so genannten nukleosidischen und nicht-nukleosidischen Inhibitoren) Resistenz entwickeln.
Diese Resistenz tritt in der Regel nach drei bis fünf Jahren ein. Danach werden die PatientInnen mit einem Pillencocktail der zweiten Linie, den Proteasehemmern, weiterbehandelt. Allerdings entfalten Viracept oder Invirase ihre Wirkung erst in Kombination mit so genannten Boostern (Wirkungsverstärkern). Die Kosten für eine Antiretroviral-Kombinationstherapie, die üblicherweise aus zwei bis drei Pillen besteht, die mehrmals täglich eingenommen werden müssen, belaufen sich auf 10 000 bis 12 000 Franken pro Jahr - für die Betroffenen in den armen Ländern bleiben die lebensrettenden Medikamente damit unerschwinglich.
Als Reaktion auf die weltweiten Proteste gegen die Patent- und Preispolitik der globalen Pharmaindustrie hat der Basler Pharmamulti (und mit ihm auch die meisten seiner Konkurrenten) vor drei Jahren ein gestaffeltes Preissystem eingeführt. In mehr als sechzig Ländern, die laut UNO-Statistik zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten der Welt zählen, verzichtet Roche seither auf alle Patentrechte und verkauft die Antiretroviralmedikamente zum so genannten Selbstkostenpreis (ohne Aufschlag für Forschungsinvestitionen) von rund 1200 Franken. In Ländern mit «niedrigen und mittleren Einkommen» wurde der Preis für Viracept beziehungsweise Invirase auf 200 Franken pro Schachtel (mit jeweils 270 Pillen) festgesetzt. Die jährlichen Therapiekosten belaufen sich damit dort auf rund 2700 Franken.
Preisrutsch dank Generika
Zwar gibt es zu den beiden Proteasehemmern von Roche inzwischen einige wenige Generika aus indischer Produktion. Mit ihrem Sondertarif für die armen Länder unterbietet der Basler Pharmakonzern diese Konkurrenten: «Damit ist Roche natürlich in einer komfortablen Position», sagt Julien Reinhard von der Entwicklungsorganisation Erklärung von Bern, welche die Preispolitik von Roche schon seit Jahren anprangert, «mit dem Hinweis ‹Wir sind ohnehin schon die Billigsten› kann er jetzt alle Forderungen nach weiteren Preissenkungen von vornherein abblocken.»
Während Roche beteuert, seine Selbstkostenpreise erlaubten keine weitere Senkung mehr, sind die hohen Preise für Julien Reinhard vielmehr eine Folge mangelnder Konkurrenz: «Gäbe es mehr Generika, würden auch die Preise fallen», ist Reinhard überzeugt und verweist auf die periodischen Preisstatistiken von Médecins Sans Frontières. Darin wird deutlich, dass bei den Antiretroviralmedikamenten der ersten Linie das wachsende Generika-Angebot die Preise in den letzten fünf Jahren ganz erheblich ins Rutschen gebracht hat.
So sorgten noch im Jahr 2000 die überhöhten Preise einiger weniger Antiretroviralmedikamente dafür, dass die jährlichen Therapiekosten bisweilen auf über 12 000 Franken anstiegen. Dank des gezielten Einsatzes von Generika lassen sich die Jahreskosten für eine Therapie der ersten Linie inzwischen auf wenig mehr als 300 Franken senken.
Verluste in Kauf nehmen?
Bei den Medikamenten der zweiten Linie fehlt dieses Generika-Angebot weitgehend. Viele Fachleute befürchten deshalb eine Verschärfung der Krise in den Ländern des Südens, wenn in Zukunft immer mehr Aidskranke auf die teuren Proteasehemmer umsteigen müssen, weil ihre HI-Viren gegen die Medikamente der ersten Linie resistent geworden sind.
«Die Resistenzbildung ist nur eine Frage der Zeit», sagt auch Stefan Siebenhaar von der Bethlehem Mission Immensee (BMI), die zusammen mit dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks) die Kampagne «Afrika braucht Medikamente - jetzt» (vgl. Kasten) lanciert hat. Zwar befinde sich die grosse Mehrheit der Betroffenen immer noch in einer Therapie der ersten Linie; früher oder später werde aber der Wechsel auf die wirksameren Proteasehemmer für die meisten unausweichlich. Doch bei den Preisen, die Roche selbst in den ärmsten Ländern für seine Medikamente der zweiten Linie verlange, bestehe die Gefahr, dass vielen Betroffenen die weiterführende Therapie aus Kostengründen verwehrt bleibe.
Nach Siebenhaars Meinung müsste der Konzern deshalb aus moralischen Gründen auch bereit sein, zum Wohle der Aidskranken in den armen Ländern vorübergehend Verluste in Kauf zu nehmen - etwa, wenn es um die Entwicklung von besonderen HIV-Medikamenten für Kinder geht. Gefragt wären auch Kombinationsmedikamente, bei denen mehrere Wirkstoffe in einer Pille vereint werden. «Das wäre nicht nur einfacher für die Patienten, es würde sich auch günstig auf den Preis auswirken», sagt Siebenhaar.
Doch übe sich der Roche-Konzern bei der Weiterentwicklung seiner HIV-Medikamente in Minimalismus. Das Geschäft mit den Aidskranken in der Dritten Welt sei eben nicht besonders lukrativ, meint Stefan Siebenhaar: «Bei einem Gewinn von 3,2 Milliarden Franken im ersten Halbjahr 2005 und einer Gewinnmarge von 25 Prozent muss man sich allerdings die Frage stellen, ob der Konzern seine Möglichkeiten tatsächlich ausschöpft.»
In der Roche-Zentrale in Basel lässt Mediensprecher Baschi Dürr keinerlei Zweifel an den lauteren Absichten des Konzerns gelten: «Unsere Preispolitik ist sehr transparent», sagt er, «in den ärmsten Ländern verkaufen wir unsere Medikamente zu ihren effektiven Selbstkosten - das heisst, im Preis sind auch keinerlei Forschungs- oder Entwicklungskosten enthalten.» In allen andern Teilen der Welt will Roche aber - entgegen der Forderung der Hilfswerke und Aidsorganisationen - auch weiterhin auf seinen Patentrechten beharren: «Patente sind das A und O der Forschung», sagt Dürr, «ohne Patente gäbe es überhaupt keine Aidsmedikamente.»
«Gratis ist nicht nachhaltig»
Dass Roche nicht bereit sei, auf seine Patentansprüche zu verzichten, stehe dabei keineswegs in Widerspruch zu den humanitären Zielsetzungen, die sich die Firma im Rahmen der «Accelerating Access Initiative» zugunsten der Armen selbst gesetzt hat und für die sie sich in bunten Broschüren ausgiebig selber lobt. Immerhin könnten heute über neunzig Prozent der HIV-betroffenen Roche-KundInnen von den vergünstigten Pillenpreisen profitieren, sagt Dürr. Im Übrigen würden die Preise besonders in Schwellenländern sehr oft staatlich festgelegt. Der Einfluss von Roche sei dabei entsprechend beschränkt.
«Wir sind uns durchaus bewusst, dass unsere Preise hoch sind», sagt Konzern-Sprecher Baschi Dürr. Aber auch Roche könne es sich nicht leisten, seine Medikamente an alle Bedürftigen einfach gratis zu verteilen. «Das wäre ja auch nicht nachhaltig», meint er, «weil auch die Empfänger nie sicher sein könnten, wie lange die Grosszügigkeit noch anhält.»