Generika: Tödliche Konsequenzen

Nr. 9 –

Die indischen Hersteller von Nachahmerprodukten sind die konkurrenzfähigsten der Welt – und werden bald keine billigen Aidsmedikamente mehr herstellen.

Novartis mischt den globalen Generikamarkt neu auf: Durch die Übernahme der deutschen Hexal (Umsatz fast zwei Milliarden Franken, 7000 Beschäftigte) und der US-amerikanischen Eon-Labs (500 Millionen Franken Umsatz, 500 Angestellte) wird die erst 2003 gegründete Generikatochter Sandoz nun selbst zum Multi – mit weltweit mehr als 20 000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von sechs Milliarden Franken. Als Kaufpreis für die zwei Firmen wurden zehn Milliarden Franken vereinbart – zahlbar bis Ende Jahr, und zwar in bar.

Innerhalb der Pharmabranche wird die Strategie des Novartis-Chefs Daniel Vasella allerdings mit Misstrauen verfolgt. Während die beiden grössten globalen Unternehmen, Pfizer und Glaxo-Smith-Kline, ihre Aktivitäten nach wie vor exklusiv auf die Produktion von marktgeschützten Hochpreismedikamenten ausrichten und ihre Patente durch alle Gerichtsinstanzen hindurch verteidigen, versucht Novartis den Tanz auf zwei Hochzeiten.

Die Gründe liegen auf der Hand: Nachdem die Umsätze der Pharmaindustrie jahrelang durchschnittlich über zehn Prozent gewachsen sind, sind die Wachstumsraten heute rückläufig. Die vielen Skandale und Schadenersatzklagen der jüngsten Zeit, wie zum Beispiel im Fall Merck mit seinem Schmerzmittel Vioxx, die Masse der Scheininnovationen (so genannte Me-too-Produkte) beziehungsweise der Mangel an echten therapeutischen Fortschritten schlagen allmählich auf die Wachstumsdynamik durch.

Der weltweite Generikamarkt dagegen wächst und wächst: Letztes Jahr stiegen die Umsätze der Nachahmerprodukte um elf Prozent. Und der Marktanteil der Generika wird künftig weiter zulasten der patentierten Markenmedikamente zunehmen. Dies allein schon deshalb, weil in den nächsten drei Jahren mehrere wichtige Patente auslaufen, die der Pharmaindustrie bisher jährliche Umsätze von über fünfzig Milliarden US-Dollar eingebracht haben. Das Patent für das Cholesterinsenkungsmittel Lipidor etwa, das meistverkaufte Medikament der Welt, lief bereits Ende 2004 aus.

Doppelstrategie

Den Vorwurf, er falle mit seiner Doppelstrategie der eigenen Zunft in den Rücken, will Novartis-Chef Vasella allerdings nicht gelten lassen. Novartis reagiere lediglich auf die Entwicklung des Marktes: «Viele denken immer noch, dass ein Generikahersteller automatisch auch gegen Patente ankämpfen müsse. Ich gehöre aber nicht zu denen.» Daran ist nicht zu zweifeln. Jedenfalls sorgte Novartis erst vor einem Jahr noch für internationale Schlagzeilen, als es ihr mit grossem juristischem Aufwand als erstem ausländischem Pharmaunternehmen gelang, in Indien ein exklusives Marktrecht für ein Medikament durchzusetzen.

Dabei handelt es sich um das Krebsmittel Glivec, das als eine der wenigen tatsächlichen Innovationen gilt, welche die Pharmaindustrie in den letzten Jahren hervorgebracht hat. War die Diagnose «chronische myeloische Leukämie» (CML) bisher fast gleichbedeutend mit einem Todesurteil, können heute CML-Betroffene dank Glivec ein weitgehend normales Leben führen. Das einzige Problem: Die Kosten für eine Dauertherapie belaufen sich pro Jahr auf über 30000 Franken. Für die meisten der CML-Betroffenen in Indien ist das lebensrettende Medikament damit unerschwinglicher Luxus.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis die einheimische Generikaindustrie eine kostengünstigere Alternative zu Glivec entwickelt hatte. Anfang 2003 kam Veenat auf den Markt – zu einem Zehntel des Preises, den Novartis für das Originalpräparat verlangt. In einem Beschluss vom Februar des letzten Jahres hat nun aber das oberste Verwaltungsgericht im südindischen Madras die weitere Produktion der Glivec-Kopien verboten. Ein Entscheid, der bei den Betroffenen Bestürzung auslöste. Anders die globale Pharmagemeinde: Sie freute sich über das «positive Signal», das mit dem Rechtsspruch ausgesandt worden sei. Das Urteil von Madras sei ein Beleg dafür, dass nun endlich auch Indien gewillt sei, die internationalen Patentgesetze einzuhalten, sagte der Direktor von Novartis India, Ranjit Shahani, gegenüber den Medien.

Tatsächlich waren die Patentansprüche ausländischer Pharmamultis von der indischen Rechtsprechung mehr als dreissig Jahre lang ignoriert worden. Um gegen die stetig steigenden Arzneimittelpreise vorzugehen, hatte die damalige Regierung unter Indira Gandhi ein neues Patentgesetz erlassen, das den gesundheitspolitischen Zielsetzungen ganz klar Priorität einräumte: Anstatt einzelne Produkte zu patentieren, wie andernorts üblich, wurden im indischen Arznei- und Lebensmittelbereich nach 1972 Patente nur noch auf Produktionsverfahren ausgestellt. Ein indischer Pharmafabrikant durfte somit jedes beliebige Heilmittel herstellen, solange er dafür nicht ein Verfahren einsetzte, das bereits von einem Konkurrenten patentrechtlich geschützt wurde.

Nun gelten WTO-Regeln

Das hat der indischen Pharmaindustrie zu einem Boom verholfen, der bis heute anhält. Gegen 20 000 Generikaunternehmen soll es auf dem Subkontinent geben, darunter auch Grosskonzerne, die ihre Arzneimittelkopien in über 200 Länder exportieren. Die indische Pharmabranche ist damit für die Länder des Südens zu einem unverzichtbaren Faktor im Kampf gegen Aids und andere Pandemien geworden. Ohne die preisgünstigen Generika aus Indien wären die nationalen Aidsprogramme der meisten Entwicklungsländer nicht finanzierbar. So belaufen sich etwa die Jahreskosten für eine Aidstherapie mit Antiretroviral-Medikamenten nach offiziellem Tarif auf 14 000 Franken. Mit Medikamenten aus indischer Produktion kostet der gleiche Pillencocktail pro Jahr nur gerade 290 Franken – fast fünfzig Mal weniger.

Damit soll es jetzt vorbei sein. Seit seinem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO 1995 verfolgt Indien eine Politik der wirtschaftlichen Öffnung. Konkret bedeutet das, dass sich – nachdem die zehnjährige Übergangsfrist Ende 2004 abgelaufen ist – auch Indien an die Vereinbarungen zum Schutze des «geistigen Eigentums» zu halten hat. Diese wurden im multilateralen Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (trade-related aspects of intellectual property, kurz Trips) festgehalten.

Voraussichtlich im kommenden März muss das Parlament in Delhi deshalb ein neues indisches Patentgesetz beraten. Stimmt es dem Regierungsvorschlag zu, können Arzneimittel künftig patentrechtlich geschützt werden. Die indische Generikaindustrie müsste dann die Produktion ihrer kostengünstigen Aids- und Krebsmedikamente einstellen. Eine Massnahme, die – wie jüngst auch ein Sprecher der Weltgesundheitskommission betonte – unabsehbare Konsequenzen für viele tausend Betroffene nach sich ziehe. Ohne die WTO-widrig produzierten Generika aus Indien bleibe ihnen der Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten künftig aus wirtschaftlichen Gründen verwehrt – was die Uno-Kommission zum Schluss kommen lässt: «Das Trips-Abkommen stellt eine ernsthafte Gefährdung für Gesundheit und Leben der armen Bevölkerungsschichten dar.»

Alle wollen nach Indien

Bemerkenswert ist dabei, dass viele indische Generikaunternehmen, die anfänglich harsch gegen das neue Patentregime protestiert hatten, inzwischen die neue WTO-Regelung begeistert begrüssen. Das alte Verfahrenspatentrecht hat zwar kaum zur Entwicklung neuer Medikamente geführt, dafür wurden aber immer ausgeklügeltere Produktionsmethoden ausgebrütet, die die indische Generikabranche inzwischen zur konkurrenzfähigsten der Welt machen.

Die gleichen Pharmakonzerne, welche die indische Konkurrenz in den letzten Jahren noch mit Schmach und Strafklagen belegt haben, bemühen sich deshalb heute intensiv um Kooperationsabkommen und Partnerschaften, um vom indischen Know-how zu profitieren. So arbeitet etwa Novartis, ungeachtet des noch immer nicht abgeschlossenen Rechtsstreites um die indischen Glivec-Kopien, mit den beiden grossen Pharmafirmen Dr Reddy’s Laboratories und Torrent Pharma zusammen. Auch die neu akquirierte Hexal, die bereits über Produktionsstandorte in Indien verfügt, soll künftig die Position von Sandoz in den aufstrebenden Märkten Asiens verstärken und zum Türöffner zum noch weitgehend unerschlossenen chinesischen Arzneimittelmarkt werden.

Kurzum: Dank niedrigen Löhnen, hoher Effizienz und viel Know-how braucht sich die indische Pharmabranche um die Zukunft nicht zu sorgen – jedenfalls so lange nicht, als sie sich als Partnerin und nicht als Konkurrentin der grossen Pharmamultis gebärdet. Für die Bereitschaft, sich künftig der WTO-Disziplin zu unterziehen und die Patente der internationalen Multis zu respektieren, versprechen Letztere nicht nur grosszügige Investitionen, die indische Industrie soll künftig auch einen Anteil am Geschäft mit den «legalen» Generika erhalten. Statt Aids- oder Krebsmedikamente für die armen Länder des Südens wird die indische Industrie im neu aufgeteilten Generikamarkt künftig Cholesterinsenker, Schlankheitsmittel und Antidepressiva für eine zahlungsfähige Kundschaft in den Industrienationen produzieren.

Für Novartis-Chef Vasella macht das keinen grossen Unterschied: «Letztlich geht es uns ja alle um das Gleiche. Was wir wollen, ist die bestmögliche Therapie für den Patienten - und das zum bestmöglichen Preis.» Und wer sich diesen «bestmöglichen» Preis nicht leisten kann, dem bleibt als billigste Alternative immer noch der Tod.

Grosse Alibiübung

Am diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos präsentierte die Weltgesundheitsorganisation eine Zwischenbilanz zur grossen Aidshilfsaktion «3 by 5», die drei Millionen Aidskranken in Entwicklungsländern bis Ende 2005 eine Kombinationstherapie mit Antiretroviral-Medikamenten ermöglichen will. Man sei zufrieden mit dem bisher Erreichten, das Programm sei gut angelaufen, hiess es. Konkret aber haben bis heute erst 700000 Betroffene von der Aktion profitiert. Das sind gerade mal zwölf Prozent jener sechs Millionen Aidskranken, die nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eigentlich dringend eine Therapie bräuchten, sich die teuren Medikamente aber nicht leisten können.

Für das internationale Hilfswerk Médecins Sans Frontières (MSF) ist das grosse Aidshilfsprogramm, das gemeinsam von der WHO, dem Aidshilfsprogramm der Uno, dem amerikanischen Global Fund to Fight Aids und Präsident Bushs Emergency Plan for Aids Relief (PEPFAR) getragen wird, bisher denn auch nicht mehr als Kosmetik. «Mehr als 8000 Menschen sterben täglich an Aids, und jedes Jahr kommen fünf Millionen Neuansteckungen hinzu», rechnet MSF vor. Gleichzeitig seien seit Sommer 2004 aber nur 260000 Patienten neu ins Programm aufgenommen worden: «Geht es im gleichen Schneckentempo weiter», schreibt die MSF, «bleibt ‹3 by 5› eine blosse Alibiübung.»

Mit ein Grund für die zögerliche Umsetzung des Programms sind, laut MSF, die Patentgesetze. So besteht etwa der Emergency Plan der amerikanischen Regierung darauf, dass für das «3 by 5»-Programm ausschliesslich teure Markenmedikamente eingesetzt werden - aus Sicherheitsgründen, wie es offiziell heisst. Würde sich jedoch die Hilfsaktion der amerikanischen Regierung an Generika halten, anstatt aus Prinzip auf den überteuerten Originalpräparaten zu bestehen, liesse sich laut MSF das PEPFAR-Budget um rund 170 Millionen Dollar im Jahr entlasten. Dies würde reichen, um kurzfristig einige tausend Aidsbetroffene mehr ins Programm aufnehmen zu können.